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Leskien, August. Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen – T02

Einleitung.

Vergleichende Grammatik einer gewissen Anzahl indogermanischer Sprachen
dem Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben gegenüber ist
nur dann möglich, wenn jene Sprachen eine über die Periode der Ursprache oder
die Entwicklungsperiode einer grösseren Gruppe hinausreichende gemeinsame
Geschichte durchlaufen und innerhalb dieser gewisse, von der Art aller Verwandten
abweichende Züge angenommen haben. Von dem an sich denkbaren
Fall, dass die Zeit der gemeinsamen Geschichte zu kurz gewesen sei, um einer
eigenartigen Entwicklung Raum zu geben, kann man, als von einem nicht nachweisbaren,
völlig absehen.

Für die Zusammenschliessung einer bestimmten Anzahl indogermanischer
Sprachen zu einem engeren Ganzen kommt es also darauf an, solche Züge zu
finden, die nicht überhaupt in jeder Sprachentwicklung vorkommen können und
daher, wenn auch mehreren Sprachen gemeinsam, doch als auf allgemeinen Neigungen
oder Gesetzen beruhend vom historischen Gesichtspunkt aus nur zufällige
Uebereinstimmungen sind, die für eine engere Einheit nichts beweisen. Die Ansichten
über den Werth der zu diesem Zwecke gesuchten Beweismittel, über die
Grenze zwischen zufälligen Uebereinstimmungen und solchen, die auf gemeinsamer
geschichtlicher Entwicklung beruhen, waren nie ganz fest und schwanken
gerade jetzt mehr als je.

Es schien freilich eine Zeit lang, als sei die Frage nach der Gruppirung der
indogermanischen Sprachen zu einem gewissen Abschluss gekommen.. Die enge
Verbindung der beiden asiatischen Familien lag auf der Hand, die des Litauischen
und Slavischen ebenfalls. Ferner ergab es sich, dass das Germanische weder
mit dem Griechischen noch Italischen noch Keltischen einen engen Zusammenhang
habe, jedenfalls weit eher mit dem Litauisch-slavischen zu einer Gruppe
zu verbinden sei. Man erhielt also auf diese Weise drei Abheilungen des Sprachstammes,
die asiatische, südeuropäische, nordeuropäische, über deren richtige
Aufstellung kaum ein Zweifel bestand, wenn man auch unsicher blieb, wie innerhalb
der südeuropäischen die italischen Sprachen zu stellen seien, ob dem Keltischen
oder Griechischen näher.

Bei dieser Gruppirung blieb es nicht, in verschiedener Weise wurden zwei
jener Gruppen wieder zu einer engeren Einheit verbunden. Schleicher, wie
bekannt, nahm an, die südeuropäische stehe zu der asiatischen in näherem Verhältniss,
diese beiden seien nach Abtrennung der nordeuropäischen länger vereint
XIgeblieben. Schleicher kam zu dieser Anschauung durch die Wahrnehmung
der verschiedenen Alterthümlichkeit der drei Gruppen, mit andern Worten, ihres
verschiedenen Verhältnisses zur Ursprache. Weil die nordeuropäische Gruppe
sich von dieser am weitesten entfernt, das soll hier aber nur heissen, die meisten
Verluste allen Sprachgutes erlitten und die meisten Neubildungen geschaffen hat
(s. Comp.3 7), so folgerte Schleicher, dass «die Slavodeutschen zuerst ihre Wanderung
nach Westen antraten», sich am frühesten vom Urvolke abzweigten und
eine eigenartige Entwicklung bekamen. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig,
denn die angegebene Art der Entfernung von der Ursprache giebt keinen Massstab
für eine frühere oder spätere Abzweigung von derselben. Die italischen
Sprachen stehen mindestens ebensoweit von der Ursprache ab wie die slavischen,
sowohl an Verlusten wie an Neubildungen; da es nun Schleicher feststand,
dass die italischen Sprachen zusammen mit dem Griechischen (und Keltischen)
sich abgezweigt haben, das Griechische von allen europäischen Sprachen
als die alterthümlichste in der Erhaltung der Formen erscheint, folgt nothwendig,
dass das bestehende Verhältniss zwischen Griechisch und Italisch und das verschiedene
Verhältniss des Italischen und Griechischen zur Ursprache nur das
Resultat einer ungleich schnellen Entwicklung sein kann, die von der Zeit der
Abscheidung aus der Ursprache ganz unabhängig ist. Also kann auch der weitere
Abstand der nordeuropäischen Sprachen von der Ursprache im Vergleich zum
Griechischen einfach auf einer anders gearteten, schnelleren Entwicklung beruhen
und beweist ebensowenig die frühere Trennung derselben, als die Alterthümlichkeit
des Griechischen dessen und der ganzen südeuropäischen Abtheilung
längeren Zusammenhang mit der asiatischen. Es giebt ja überhaupt Beispiele
genug, dass selbst die Einzelsprachen einer Familie auf verschiedenem Boden,
was die Schnelligkeit der Entwicklung betrifft, sich ausserordentlich verschieden
verhalten, vgl. das Lettische mit dem Litauischen, das Bulgarische mit dem Serbischen
oder Russischen. Schleicher hätte nach den sonst von ihm befolgten
Grundsätzen der Vergleichung eigentlich bei einer Zerlegung des Sprachstammes
in drei Abtheilungen stehen bleiben müssen, und es scheint mir, dass er zu der
Ueberordnung einer Zweitheilung über die Dreitheilung nur gekommen ist durch
die Erfahrung, dass die unzweifelhaft feststehenden Gruppen, die asiatische und
die slavisch - litauische je in zwei Theile zerfallen. Aber dieser Vorgang ist nicht
zwingend. Geht man von der Vorstellung aus, dass Völker- und Sprachverschiedenheit
durch räumliche Trennung eines einheitlichen Volkes und einer einheitlichen
Sprache entsteht, so ist eine dreifache Spaltung aus irgend welchen
äusseren Veranlassungen oder inneren Gründen ebensogut möglich wie eine
zwiefache. Obwohl die Beantwortung der Frage nach der Gruppirung der indogermanischen
Sprachen jetzt eine andere Richtung genommen hat als bei Schleicher,
ist es doch immer noch nothwendig, scharf hervorzuheben, dass die relative
Alterthümlichkeit verschiedener indogermanischer Sprachen nicht als Kriterium
für Verwandtschaftsgrade benutzt werden darf, und dass die Zweitheilung nicht
etwas nothwendiges ist, sondern nur auf einem Analogieschluss und einer gewissen
allgemeinen Wahrscheinlichkeit beruht.XII

Die Kriterien einer engeren Gemeinschaft können nur in positiven Uebereinstimmungen
der betreffenden Sprachen, die zugleich Abweichungen von den
übrigen sind, gefunden werden. Auf solche gründet sich aber die von Schleichers
Aufstellung abweichende und allgemeiner angenommene Reducirung der
drei Gruppen (südeuropäisch, nordeuropäisch, asiatisch) auf zwei Abtheilungen,
eine asiatische und eine europäische, letztere in die bekannten beiden Gruppen
als Unterabtheilungen zerfallend. Diese Zweitheilung hat ihren Rückhalt an besonderen
grammatisch-lautlichen Erscheinungen der europäischen Sprachen,
z. B. der übereinstimmenden Spaltung des r in r und l, namentlich aber an der
den asiatischen Sprachen fehlenden Spaltung des a in a und e. Auf jeden Fall
verdiente sie den Vorzug vor der Schleicherschen, und Schleicher hätte bei consequenter
Anwendung der sonst von ihm befolgten Grundsätze selbst dazu Übergehen
müssen.

Bekanntlich pflegte man sich die Auflösung des indogermanischen Sprachstammes
in Familien und Einzelsprachen, ob man Schleichers Gruppirung oder
die andere annahm, nach seinem Vorgange durch das neuerdings sehr in Misscredit
gekommene Bild eines Stammbaumes zu versinnlichen. Gegen dieses Bild
Hessen sich von Anfang an, wie gegen alle solche Vergleiche, Einwendungen
machen. Bei der Spaltung einer Sprache entstehen ja nicht in dem Sinne neue
Individuen wie bei der Fortpflanzung organischer Wesen; jede indogermanische
Sprache, und mögen noch so viele Spaltungen eines grösseren Ganzen bis auf die
Ursprache zurück hinter ihr liegen, ist doch immer noch diese Ursprache selbst,
nur in veränderter Gestalt, dasselbe Individuum, wenn überhaupt derartige Vergleiche
mit organischen Wesen zulässig sind, in einem anderen Lebensalter. Der
Widerspruch, der darin zu liegen scheint, dass wir die als eine Menge von Individuen
angesehenen indogermanischen Sprachen doch wieder nur für ein und
dasselbe Individuum halten sollen, entsteht eben bloss durch den unpassenden
Vergleich mit organischen Wesen. Wenn von einem Volke ein Theil z. B. durch
Auswanderung sich abzweigt und vom anderen völlig getrennt wird, so ist der
sich entfernende Theil gerade so gut im Besitz der ganzen Sprache wie der zurückbleibende,
und es existirt also die betreffende Ursprache dann so viele male,
als Trennungen vorgekommen. Es mag also sein, dass die Bezeichnung «Stammbaum»,
mit der das Liniensystem, durch welches Schleicher die Verzweigung
der indogermanischen Sprachen darstellte, benannt wurde, zu allerlei falschen
Vorstellungen Veranlassung geben konnte und gegeben hat. Lassen wir aber
den Namen fallen und sehen auf den eigentlichen Sinn der Zeichnung, so ist
nichts dagegen einzuwenden. Die Linien bedeuten in der That weiter nichts,
als die ohne bestimmte, weil bisher und vielleicht immer unmögliche, geographische
Fixirung angegebenen Wanderungslinien der angenommenen Gruppen
und einzelnen Völker, der Anfangspunkt des Liniensystems den Sitz des indogermanischen
Urvolkes. Das ganze beruht also auf der Vorstellung, dass in der
Geschichte der indogermanischen Völker so und so viele Wanderungen und damit
verbundene geographische Trennungen und zwar wirksame, den früheren
Zusammenbang des Volkes und der Sprache aufhebende Trennungen vorgekommen
XIIIsind. Wo Schleicher die Theilung des indogermanischen Sprachstammes
beschreibt, liegt stets diese Anschauung zu Grunde. Die Berechtigung dazu
gibt eine ganze Reihe bekannter historischer Thatsachen. Hat man Wanderungen
wie z. B. die der Angeln und Sachsen mit ihrer völligen Trennung von den
einstigen Volks- und Sprachgenossen vor Augen, deren Resultat die Entstehung
eines besonderen germanischen Volkes und einer besonderen Sprache war, so
muss man wenigstens die Möglichkeit zugeben, dass irgend eine Abtheilung des
Indogermanischen sich vollständig und scharf vom Urvolke oder einem Theil desselben
abgelöst und die betreffende Sprachengruppe eine eigenthümliche Entwicklung,
abgesondert von allen anderen indogermanischen Sprachen, gehabt
haben kann.

So lange man, was bis vor einigen Jahren wenigstens bei der jüngeren
Generation der Sprachforscher wohl ziemlich allgemein der Fall war, an dieser
Vorstellung festhielt, gehörte es zu den Desiderata der Sprachvergleichung, neben
der Gesammtgrammatik des ganzen Sprachstammes vergleichende Grammatiken
der einzelnen Gruppen zu besitzen. Dies Verlangen war auch vollkommen gerechtfertigt,
da man ja annahm, dass jede Gruppe eine eigne Geschichte habe;
Versuche der Art sind vorhanden, so Leo Meyers Vergl. Grammatik des Griechischen
und Lateinischen, Ficks Wörterbuch; Schleicher hatte den Plan, eine vergleichende
Grammatik der nordeuropäischen Gruppe zu schreiben. Gegenwärtig
sind diese Wünsche in den Hintergrund getreten, theils weil die historische Grammatik
der einzelnen Sprachen die Kräfte zu sehr in Anspruch nimmt, namentlich
aber, weil die ganze jenen Wünschen zu Grunde liegende, oben beschriebene Anschauungsweise
durch die Angriffe .loh. Schmidts ins Wanken gekommen ist.
Da meine Arbeit über die Declination im Germanischen und Slavisch-litauischen
voraussetzt, dass man überhaupt noch berechtigt sei zu dem Versuche, die Zusammengehörigkeit
dieser drei Familien als einer besonderen Gruppe des Indogermanischen
nachzuweisen, muss ich meine Stellung zu Schmidts Ansichten
hier angeben, kann es aber an dieser Stelle nur in der Kürze

Die Beweisführung in Schmidts Schrift (Die Verwandtschaftsverhältnisse der
indogermanischen Sprachen, 1872) darf ich nach den Erörterungen, die seitdem
für und wider geschehen sind, als bekannt voraussetzen und mich auf Angabe
des Resultats beschränken. Joh. Schmidt findet, dass gewisse sprachliche Eigenthümlichkeiten
es unmöglich machen, auf der einen Seite das Slavisch-litauische
vom Germanischen, auf der andern Seite vom Arischen, namentlich Iranischen
zu trennen, und nach ihm (S. 17) ist «gleichmässig falsch sowohl die Annahme
einer slavisch-lettisch-deutschen Grundsprache als die einer slavisch-lettisch-arischen
Grundsprache, da keine von beiden Annahmen den sprachlichen Thatsachen
gerecht wird. Wollte man sich dadurch aus der Verlegenheit retten, dass
man eine engere Einheit der nordeuropäischen Sprachen mit den arischen annähme,
d. h. wollte man sich die Sprachtrennung in der Weise vorstellen, dass
aus der Ursprache zunächst durch Zweitheilung erstens die südeuropäische
Grundsprache, die Mutter des Griechischen, Italischen und Keltischen und zweitens
eine Sprache hervorgegangen wäre, welche sich später durch abermalige
XIVTheilung in die nordeuropäische Grundsprache und in die arische Grundsprache
aufgelöst hätte, wollte man dies voraussetzen, so käme man wieder in Collision
mit den Eingangs (S. 2 f.) festgestellten gemeinsamen europäischen Eigentümlichkeiten,
welche eine solche Annahme unmöglich machen. Man mag sich also
drehen und wenden, wie man will, so lange man an der Anschauung festhält,
dass die in historischer Zeit erscheinenden Sprachen durch mehrfache Gabelungen
aus der Ursprache hervorgegangen seien, d. h. so lange man einen Stammbaum
der indogermanischen Sprachen annimmt, wird man nie dazu gelangen, alle die
in Frage stehenden Thatsachen wissenschaftlich zu erklären. Der ganze Charakter
des Slavolettischen bleibt unter dieser Voraussetzung unbegreiflich. Verständlich
wird er nur, wenn wir anerkennen, dass das Slavolettische weder vom Arischen
noch vom Deutschen losgerissen werden kann, sondern die organische Vermittelung
beider ist». Die Stellung, welcher nach Schmidt im Norden dem Slavolettischen
als Vermittler zwischen Germanisch und Arisch zuzuschreiben, kommt
im Süden dem Griechischen zu, S. 24: «auch in Südeuropa besteht dasselbe Verhältniss
wie in Nordeuropa, es gibt keine Grenze zwischen den arischen und
europäischen Sprachen, das Griechische ist ebenso unzertrennliah mit dem Lateinischen
wie mit dem Arischen verbunden. Dass es keine gemeinsame europäische
Grundsprache gegeben hat, beweist uns schon das Slavische, jetzt sind
auch die südeuropäische und die gräcoitalische Grundsprache unhaltbar geworden,
und wir sehen überall nur stufenweisen continuirlichen Uebergang von
Asien nach Europa». Da endlich Schmidt Ebels Versuchen (Beiträge II, 137),
das Keltische dem Germanischen ebenso nahe zu stellen wie dem Italischen beitritt,
so wird ihm das Keltische zum Vermittler zwischen Latein und Germanisch,
zwischen Süd- und Nordeuropäisch (S. 25), und «wollen wir uns die Verwandtschaftsverhältnisse
der indogermanischen Sprachen in einem Bilde darstellen,
welches die Entstehung ihrer Verschiedenheiten veranschaulicht, so müssen wir
die Idee des Stammbaumes gänzlich aufgeben». Schmidt hat dafür denn auch
andere Bilder vorgeschlagen, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen, und sich
mit Recht darüber beklagt, dass man an diesen für die Sache unwesentlichen
Vergleichen so viel Anstoss genommen hat. Ich lasse daher diese ganz bei Seite;
allein wie der Stammbaum, um diese unpassende Bezeichnung der Kürze wegen
beizubehalten, nichts anderes ist, als der Ausdruck einer Reihe von ethnographisch-historischen
Thatsachen, von Völkertrennungen durch Wanderung, so
muss man sich auch bei Schmidts Anschauungsweise fragen, wie nimmt sie sich
aus ins ethnographisch-historische Übertragen. Die Sprachen führen ja nicht ein
Leben für sich, sondern sind an die Völker gebunden.

Für Schmidts Hypothese bildet die geographische Einheit der indogermanischen
Völker, die ununterbrochene Continuität des von ihnen bewohnten Gebietes
während der Entstehung seiner Reihe von Uebergangsstufen der Sprache
die absolut nothwendige Voraussetzung. Es steht nun fest, dass dieses continuirliche
Gebiet sich nicht von Anfang an über den ganzen, heutzutage in Asien und
Europa von lndogermanen bewohnten Raum mit Ausfüllung der jetzt von stammfremden
Völkern bewohnten Zwischenräume erstreckt haben kann. In völlig
XVhistorischer Zeit sind vielfach neue Gebiete von Indogermanen besetzt worden,
und wenn irgend ein Schluss auf längst vergangene ethnographische Verhältnisse
Geltung hat, so ist es der, dass die Indogermanen einmal auf einem verhältnissmässig
eng begrenzten Raum zusammengewohnt und von diesem aus sich verbreitet
haben müssen. Von einer solchen Verbreitung in vorhistorischer Zeit
können wir uns eine Vorstellung nur erwerben durch Betrachtung der in historischer
Zeit vorgekommenen Fälle, und aus diesen ergibt sich, dass die Ausbreitung
auf zweierlei Weise geschehen kann: entweder ein Theil des Volkes
wandert aus und wird geographisch völlig getrennt von dem anderen Theil, vgl.
die Wanderung der Angelsachsen nach Britannien, der Norweger nach Island,
der Südslaven in die Donauländer, oder andererseits die natürliche Vermehrung
der Volkszahl nöthigt das Volk durch Occupation des Landes an seinen Grenzen,
sei dies unbewohnt oder bewohnt, in letzterem Fall mit Verdrängung oder Aufsaugung
der allen Bewohner, sein Gebiet zu erweitern, wobei der geographische
Zusammenhang bestehen bleibt; ein solches Beispiel gibt die enorme Ausbreitung
des russischen Volkes nach Norden, Osten, Süden während des uns
historisch bekannten Zeitraums von etwa 1000 Jahren. Die zuletzt beschriebene
allmähliche Art der Gebietsvermehrung eines Volkes vollzieht sich natürlich viel
langsamer als die durch Auswanderung, und in älterer Zeit langsamer als jetzt.
Es versteht sich, dass die allmähliche Ausbreitung kein absolutes Hinderniss
einer Wanderung ist, nur wird diese da, wo das Volk Raum zu jener hat, weniger
leicht eintreten.

Es fragt sich nun, welcher von den beiden an sich möglichen Vorgängen für
die Ausbreitung des indogermanischen Urvolkes der wahrscheinlichste ist, Wanderungen
oder allmähliches ununterbrochenes Vorwärtsschieben. Es braucht
kaum erwähnt zu werden, dass der Annahme von trennenden Wanderungen
nach der Analogie geschichtlich bekannter Vorgänge von historischer Seite gar
nichts im Wege siebt. Versuchen wir, uns den Hergang und das Resultat bei
allmählichem ununterbrochenem Fortschieben vorzustellen. Im ersten Jahrhundert
vor und nach Christo, um eine Zeit zu nennen, wo die Interpretation der Ueberlieferung
nicht mehr zweifelhaft ist, haben wir von allen indogermanischen Völkern
mit Ausnahme der Slaven und Litauer bestimmte Nachrichten, und auch das
Gebiet dieser beiden lässt sich mit einiger Sicherheit als das heutige mittlere und
westliche Russland bis an die Ostseeküste, oder allgemeiner als das Land östlich
von Weichsel und Karpaten bestimmen; wir können uns also ein wenigstens
hier genügendes Bild von der damaligen Ausbreitung der Indogermanen machen.
Indogermanen reichten damals vom Ganges bis nach Britannien, und ferner,
wenn man auch alle streitigen Fragen, z. B. nach der Zugehörigkeit einer Anzahl
kleinasiatischer Stämme, die das geographische Bindeglied zwischen Iraniern
und Europäern bildeten, bei Seite lässt, sicher berührten sich in jener Zeit
mehrere indogermanische Völker unmittelbar, so die Kelten und Germanen an
Rhein und Donau, höchst wahrscheinlich Slaven und Litauer im Osten mit Germanen,
wahrscheinlich Slaven und iranische Stämme im Nordpontuslande, ferner
Griechen mit indogermanischen (illyrisch-thrakisch-getischen) Stämmen im Norden,
XVIund diese können die Grenznachbarn von Kelten oder Germanen oder
Slaven oder allen dreien sein. Dass diese geographische Lage auch schon vor
dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bestanden hat, kann nicht
zweifelhaft sein, wie lange sie so oder ungefähr so zurückreicht, lässt sich freilich
nicht bestimmen. Betrachtet man nun den ungeheuren Umfang des Gebietes,
die Culturzustände, in denen wir die meisten indogermanischen Völker zur Zeit
ihres ersten geschichtlichen Auftretens finden, die allgemeinen geographischen
Verhältnisse Europas, die äussere Beschaffenheit des Landes, wie wir sie für das
alte Nord- und Mitteleuropa kennen, so scheint es mir aller historischen Wahrscheinlichkeit
zu widersprechen, dass die Lage der Völker zu der angegebenen
Zeit die unmittelbare Folge einer continuirlichen Ausbreitung sei, dass in dem
langen Zeiträume, der bis zur vollendeten Occupation des genannten Gebietes
verlaufen sein muss, niemals wirkliche geographische Trennungen stattgefunden
haben. Ich muss wenigstens gestehen, dass ich ohne dieselben mir die Ausbreitung
der Indogermanen nicht vorstellen kann. Sind aber solche Trennungen
vorauszusetzen, so bleibt es möglich, dass jede der angeführten geographischen
Berührungen nach einer langen Periode der Trennung erst durch Annäherung
von verschiedenen Seiten her wieder neu erfolgt, dass z. B. die Nachbarschaft
der Germanen und Kelten an Rhein und Donau durch zufällige äussere Umstände,
die mit dem Verhältniss der Sprachen gar nichts zu schaffen haben, hervorgebracht
ist, so gut wie das Zusammenwohnen von Griechen und Italikern auf der
italischen Halbinsel durch Einwanderung von Griechen in den südlichen Theil
derselben.

Wenn man aber die Wahrscheinlichkeit einer Anzahl von Trennungen zugibt,
so muss man bei der Voraussetzung, die bestehenden Verhältnisse der
indogermanischen Sprachen zu einander erklärten sich nur aus Uebergangsstufen
und könnten sich nur innerhalb einer geographischen Continuität ausgebildet
haben, diese Continuität vor jede Ausbreitung verlegen, in ein verhältnissmässig,
d. h. mit der späteren Ausdehnung verglichen, enges Gebiet. Und wer von jener
Voraussetzung ausgeht, wird eben antworten, dass kein Hinderniss bestehe, die
Herausbildung der sprachlichen Eigentümlichkeiten, durch welche sich die entfernter
von einander wohnenden Stämme unterscheiden, und der zwischen ihnen
liegenden Mittelstufen in jenes Gebiet und jene Zeit zu verlegen. Dagegen ist
auch principiell von Seiten der Sprache nichts einzuwenden: jedes einigermassen
ausgedehnte Volk zeigt dialektische Differenzen der trotzdem als einheitlich angesehenen
Sprache. Aber sobald man diese Anschauungsweise combinirt mit der
Wahrscheinlichkeit der Wanderungen und geographischen Trennungen, so ergibt
sich eine Möglichkeit, die den Werth von Schmidts Hypothese nicht aufhebt,
aber die Consequenzen wesentlich modificirt. Wenn man innerhalb der
indogermanischen Einheit z. B. die Vorfahren der Germanen mit a bezeichnet, die
der Arier mit c, beide in der Zeit der geographischen Continuität durch gewisse
dialektische Eigentümlichkeiten sprachlich unterschieden, ferner die zwischen
beiden wohnenden Vorfahren der Slaven und Litauer mit b, deren Dialekt weder
von a noch von c getrennt werden konnte und die Vermittelung beider bildete,XVII

image a | b | c

so kann man sich vorstellen, dass entweder durch geographische Trennung, Auswanderung
von c oder durch gemeinsame Abzweigung von a und b der Zusammenhang
unterbrochen wurde. Die Wirkung müsste sein, dass zwar b die Eigenthümlichkeiten,
die es mit c theilt, behält, aber während seiner mit a allein
gemeinsamen Geschichte mit diesem zusammen Eigentümlichkeiten entwickelt,
die c nicht mehr theilen kann. Die Chronologie der einerseits dem Slavisch-litauischen
und Arischen, andererseits dem Slavisch-litauischen und Germanischen
gemeinsamen Eigentümlichkeiten kennen wir nicht, aber so gut ich mir
vorstellen kann, dass die Slavoletten mit den Iraniern die Entwicklung einer
Anzahl von k-lauten zu Spiranten theilten, als sie zu gleicher Zeit z. B. mit den
Germanen das bh der Casusendungen zu m verwandelten, so gut ist es möglich,
dass die beiden Dinge niemals gleichzeitig waren, dass noch bh sich über das
ganze Gebiet erstreckte, während die Spirans statt k nur über die Vorfahren der
Slavoletten und Arier reichte und m erst eintrat nach Abtrennung der Slavoletten
mit den Germanen von den Ariern. Mit einem Worte, die sogenannte Stammbaumtheorie
widerspricht der Uebergangstheorie, um so Schmidts Hypothese
kurz zu bezeichnen, gar nicht. Slavisch-litauisch-germanisch kann eine von der
Fortentwicklung der übrigen indogermanischen Sprachen unabhängige gemeinsame
Geschichte gehabt haben und trotzdem kann es wahr sein, dass Slavisch-litauisch
das Mittelglied zwischen dem Germanischen und Arischen bildet; die
europäischen Sprachen können eine von den asiatischen zu scheidende Gruppe
bilden, obwohl Slavisch und Griechisch möglicherweise die Mittelglieder zwischen
beiden Gruppen sind. Diese Möglichkeit ist aber für die Fortbildung der vergleichenden
Grammatik von grosser praktischer Bedeutung. Habe ich mir das
heutige oder überhaupt das historisch überlieferte Slavisch-litauische nur in der
Stellung eines Mittelgliedes, einer Uebergangsstufe zwischen Arisch und Germanisch
vorzustellen, so kann allerdings von einer vergleichenden Grammatik des
Slavisch-litauisch-germanischen so wenig die Rede sein wie von einer des Slavisch-litauisch-arischen.
Jeder solcher Schnitt wäre reine Willkür. Hat dagegen
das Slavisch-litauische zu irgend einer Zeit diese Vermittlerrolle verloren durch
eine Trennung der oben angegebenen Art, so hat es vielleicht eine mit dem
Germanischen gemeinsame Geschichte, und so bleibt eine vergleichende
Grammatik dieser Gruppe denkbar und ausführbar. Diese hat dann einfach die
aus älterer Zeit ererbten Uebereinstimmungen des Slavisch-litauischen mit dem
Arischen zu registriren und sich dadurch nicht beirren zu lassen. Ich lasse es
vorläufig ganz unentschieden, ob die Gründe Schmidts für die Uebergangslage
des Slavisch-litauischen, des Keltischen, des Griechischen entscheidend sind;
zugegeben, sie beweisen, was sie beweisen sollen, so macht mir das den Stammbaum
nicht unwahrscheinlicher.

Vorhistorische Zustände können wir uns nur mit Hülfe der Analogie historischer
oder wenigstens der urkundlichen Geschichte näher liegenden Vorgänge
XVIIIklarer machen, und Schmidt hat auch nicht unterlassen, solche zu verfolgen. Hier
kommt namentlich der Abschnitt S. 178 ff. («Ergebnisse für die Verwandtschaftsverhältnisse
der slavischen Sprachen unter einander») in seinem neuesten Werke
«Zur Geschichte des indogermanischen Vocalismus II» in Betracht. Die bisherige,
namentlich durch Schleicher ausgebildete Annahme der Gabelung des Urslavischen
in einen westlichen und einen südöstlichen Zweig, von denen jener sich
wieder in Čechisch und Lechisch, letzterer in Russisch und Südslavisch theilt,
das Čechische ferner in Čechisch im engeren Sinne und Sorbisch, das Lechische
in Polnisch und Polabisch, das Russische in Gross- und Kleinrussisch, die süd-slavische
Gruppe in Bulgarisch und Serbo-slovenisch, letzteres endlich in Serbisch
(Serbo-chorvatisch) und Slovenisch — diesen ganzen Stammbaum sucht Schmidt
aufzuheben, indem er auch hier die scharfen Grenzen leugnet und nach gewissen
sprachlichen Kriterien continuirliche Uebergänge annimmt, hier freilich ausgesprochener
Massen in der Urheimat ausgebildete. Es heisst S. 182: «man mag
also einen Stammbaum entwerfen wie man will, die speciellen Uebereinstimmungen
des Slovenischen mit den westslavischen Sprachen, des Čechischen und
Polabischen mit den südslavischen, des Polabischen sowohl mit dem Čechischen
als mit dem Polnischen, des Sorbischen sowohl mit dem Polnischen als mit dem
Čechischen vermag er nicht gleichmässig zu erklären. Daher sehe ich mich genöthigt,
hier auf engerem Gebiete zu wiederholen, was ich schon auf weiterem
gethan habe, indem ich constatire, dass die Methode, die Verschiedenheit der
slavischen Dialekte vermittels eines Stammbaumes zu erklären, den Thatsachen
nicht gerecht wird und sich dadurch als falsch erweist». Ferner S. 199: «um zu
veranschaulichen, wie sich die Vorfahren der historischen Slaven … in der
Urheimat räumlich berührt haben müssen, diene das folgende in idealer Regelmässigkeit
gehaltene Schema» (ich erlaube mir, um mich bequemer darauf
beziehen zu können, es hier aufzunehmen):

image Polaben | Sorben | Polen | Russen, Kleinrussen | Bulgaren | Serben, Kroaten | Slovenen | ČechenXIX

Endlich S. 201: «vergleichen wir diese für die vorhistorische Zeit nothwendig anzunehmenden
Siedelungsverhältnisse der Slaven mit den historischen, so stellt
sich heraus, dass, obwohl die Ausdehnung des von Slaven besetzten Gebietes in
historischer Zeit sehr starke Veränderungen erlitten hat, die Siedelungsverhältnisse
der einzelnen Stämme zu einander — von dem zwischen sie gedrungenen
Keile der Deutschen, Magyaren und Rumenen abgesehen — heute noch dieselben
sind, wie wir sie für die Urzeit annehmen müssen».

Ich knüpfe zunächst an die letztcitirte Stelle an: es könnte demjenigen, der
nicht näher auf die historischen Verhältnisse eingeht, nach Schmidts Worten
leicht scheinen, als bestehe ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Siedelungsverhältnissen
in der Urheimat und den späteren, oder als seien diese die
unmittelbare Fortsetzung jener. Das ist nun entschieden nicht der Fall, wenn
unsere historische Ueberlieferung etwas werth ist. Nehmen wir z. B. die erste
Hälfte des 9. Jahrhunderts, wo Rumunen vielleicht nördlich der Donau noch gar
nicht vorhanden waren oder ein sehr kleines, nicht mehr bestimmbares Gebiet
einnahmen, die Magyaren noch nicht eingedrungen waren und die Deutschen die
westslavischen Stämme noch nicht überwältigt und auseinandergedrängt hallen,
eine Zeit, wo das Slaventhum seine grösste Ausdehnung nach Süden und Westen
hatte. Dass damals zwischen Russen und Bulgaren oder zwischen Serben und
Russen eine unmittelbare geographische Berührung nicht stattfand, sieht fest.
Die Slovenen waren Grenznachbarn der Serbo-chorvaten, diese der Bulgaren;
im Norden standen Čechen, Sorben, Polen, Polaben in geographischem Zusammenhang;
möglicherweise berührten sich im Osten die Russen mit den Polen
oder Čechen oder mit beiden. So giebt es eine südliche geographisch zusammenhängende
Abtheilung und eine nördliche. Es ist nicht gerade unwahrscheinlich,
wenn es sich auch nicht beweisen lässt, dass die beiden Abtheilungen an der
mittleren Donau, etwa auf der Linie Pressburg-Pest zusammenstiessen, indem
südlich der Donau Slovenen, nördlich Čechen wohnten. So stehen allerdings die
Völker, wenn man die Lücke zwischen Russen und Südslaven überspringt, zu
einander ungefähr in einer Lage, wie sie Schmidts Schema gibt (ganz auch so
nicht, denn nach ihm berühren sich sprachlich die Polaben sowohl mit den Čechen
wie mit den Polen, im 9. Jahrhundert dagegen liegt ein breiter sorbischer Streifen
zwischen Polaben und Čechen). Allein dass die Lage der Slovenen und Čechen
so ist, wie sie Schmidt für die Urheimat ansetzt, ist ein Zufall. Die Čechen
können nach Böhmen, Mähren, Oberungarn nur Über die Sudeten- und Karpatenpässe
und die Senkung zwischen diesen Gebirgen, jedenfalls von Norden und
Osten gekommen sein, während alle Verhältnisse dafür sprechen, dass das Vordringen
der Slovenen nach Pannonien und Noricum durch die Donaupforte stattgefunden
hat (vgl. am kürzesten Rösler, Ueber den Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung
an der untern Donau. Wiener Sitzungsber., phil.-hist. Cl. B. LXXIII,
S. 92, 1873). Folglich waren Čechen und Slovenen einmal völlig getrennt, und
äussere Umstände, die mit der relativen Lage dieser Stämme in der Urheimat
und dem Verhältniss ihrer Dialekte nichts zu schaffen haben, führten sie wieder
zusammen; oder um mich vorsichtiger auszudrücken, da die wirkliche Berührung
XXnicht fest steht, gaben ihnen dieselbe relative Lage wieder. Geben wir nun auch
Schmidts Hypothese von der Lage der Stämme in der Urheimat zu, so haben wir
hier doch einen deutlichen Fall, wo zwei neben einander gelegene Dialekte, von
denen der eine, das Čechische, als Vermittler zwischen dem späteren Westslavischen
und Südslavischen angesehen werden soll, völlig von einander getrennt
wurden und zwar durch Wanderung nach verschiedenen Richtungen. Nun glaube
ich mit Schmidt, dass zwischen dem Slovenischen und Serbochorvatischen keine
scharfen Grenzen vorhanden sind noch je waren; die beiden Sprachen zeigen
ferner Erscheinungen, die nur ihnen allein gehören, weder auf der einen Seite
von den Bulgaren noch auf der anderen von den Čechen getheilt werden, und
ich sehe nicht ein, was uns hindern kann, für das Slovenisch-serbische ein Sonderleben
anzunehmen, in welchem es getrennt von den übrigen Verwandten
diese Eigenthümlichkeiten entwickelte; wobei die etwaige einstige Mittelstellung
des Slovenischen als Uebergang zum späteren Westslavischen ganz gleichgültig
ist. Also auch hier widerspricht die Stammbaumtheorie der Uebergangstheorie
nicht, und das Beispiel der slavischen Sprachen kann so gut auf die eine wie auf
die andere passen.

Ueber Schmidts Zeichnung möchte ich bemerken, dass sie zwar deutlich
genug ist, aber schwerlich so das ideale Bild der Lage einer Reihe von Dialekten
gezeichnet werden darf. Man darf den Umfang eines Sprachgebietes, wenn man
von allen zufälligen Grenzkrümmungen absieht, durch eine Kreislinie als ideale
Peripherie darstellen, aber die Theilung des eingeschlossenen Raumes durch
Radien ist eine rein willkürliche, und doch beruht auf einer solchen Theilung
die Möglichkeit der gegenseitigen Lage der Stämme, wie sie Schmidt sich denkt.
Sobald man irgend welche andere Theilungslinien anwendet, ergeben sich andere
Berührungen, und man wird zugeben, dass irgend ein anderer Theilungsmodus
nach der Art, wie wir erfahrungsmässig Dialekte gruppirt sehen, bei weitem
wahrscheinlicher ist. Indess ich will darauf weiter kein Gewicht legen, alle
solche Bilder sind ihrer Natur nach unvollkommen.

In allem bisherigen habe ich mich absichtlich auf das Detail der sprachlichen
Kriterien, die Schmidts Ansicht stützen, nicht eingelassen und die Richtigkeit und
Beweiskraft seiner Aufstellungen zugegeben. Es kam mir zunächst nur darauf
an zu zeigen, dass zwischen den beiden Ansichten kein principieller Widerspruch
besteht, dass die Uebergangsreihe Schmidts in die Urheimat des ganzen Stammes
oder der betreuenden Familie verlegt werden muss, und dass derjenige, der
daran festhält, dass es innerhalb der indogermanischen Sprachen in der That
scharf trennbare, durch geographische Sonderung entstandene Gruppen gibt,
nur zuzugeben hat, dass auf dem Boden der Urheimat bereits dialektische
Unterschiede bestanden, was jeder ohne weiteres zugeben kann. Man sollte nicht
sagen: das Verhältniss der indogermanischen Sprachen unter einander ist nur
verständlich durch die Annahme continuirlicher Uebergangsstufen, sondern: gewisse
Erscheinungen, einzelne Uebereinstimmungen indogermanischer Sprachen
lassen sich vielleicht nur erklären, wenn sich in der Urheimat Sprachtheile berührt
haben, die später aus einander gerathen sind, das spätere Verhältniss der
XXISprachen aber hängt nicht ab von ihrem etwaigen ursprünglichen, d. h. in der
Urheimat zwischen den Dialekten der Ursprache anzusetzenden Verhältniss.

Es kommt nun nach diesen allgemeinen Auseinandersetzungen vor allem
darauf an, ob die sprachlichen Erscheinungen, die Schmidt zur Grundlage seiner
Hypothese hat, das beweisen, was sie beweisen sollen. Ich knüpfe hier zunächst
an den speciellen Fall, das Verhältniss der slavischen Sprachen zu einander an,
um von da aus auf die Stellung des Slavisch-litauischen im Ganzen des Sprachstammes
überzugehen. Zum Verständniss dessen, was Schmidt S. 194 über die
Entwicklungsgeschichte der slavischen Sprachen zusammenfasst, muss das Resultat
seiner Untersuchungen über die ursprünglichen Lautgruppen er, el, ar, al
vor Consonant vorausgeschickt werden. Dies findet sich ausgesprochen einmal
S. 98: «Das Urslavische hatte, unmittelbar nachdem der Zusammenhang
zwischen ihm und dem Litauischen erloschen war, in den fraglichen Worten
noch wie dieses er, el» … «Es entwickelte sich … auf dem ganzen slavischen
Sprachgebiete gleichmässig die Svarabhakti: wo bisher nur er, el bestanden
hatten, traten ere, ele an deren Stelle». Also nach Schmidt setzen alle
Abweichungen der slavischen Sprachen in der Vertretung von ursprünglichem
er, el durchgehends die Lautverbindung ere, ele voraus (von vereinzelten Fällen,
wo statt el - ol anzusetzen ist, kann hier als etwas unwesentlichem abgesehen
werden). Ferner S. 172: «nachdem das Slavische aus der Continuität mit den
verwandten Sprachen ausgeschieden war, hatte es år, ål an Stelle von lit. und
urspr. ar, al; von diesem Sprachstande hat sich eine einzige Spur bis auf den
heutigen Tag erhallen: poln. połeć gen. połcia, osorb. połč, ěech. polt sind lautgesetzliche
Vertreter von urslav. *poltĭ (S. 134 unter platĭ). In allen übrigen
Worten entwickelten sich år, ål durch Svarabhakti zu årå, ålå, von denen sich
auch ausser dem gemeinslavischen olovo (S. 146) Spuren in allen slavischen Dialekten
erhalten haben. Im Russischen und Kleinrussischen sind oro, olo vom Beginne
der historischen Tradition an (S. 115) die regelmässigen Vertreter von altem
ar, al. Ebenso war es im Altpolnischen …. Erst nachdem sich årå, ålå auf
dem ganzen slavischen Sprachgebiete gleichmässig entwickelt halten (ausgenommen
in *poltĭ, traten dialektische Verschiedenheiten in der bis dahin einheitlichen
Sprache hervor. Russen und Kleinrussen bewahrten årå, ålå in oro, olo,
Polen und Sorben gaben den ersten Vocal auf …, Südslaven und Čechen
zogen årå, ålå in , zusammen. Das Polabische hat inlautendes ålå wie das
Südslavische und Čechische zunächst zu zusammengezogen (S. 152), dagegen
årå zu ār, welches später zu ōr geworden ist (S. 154)». Der auf S. 194 beschriebene
gesammte Entwicklungsgang ist nun folgender: «Als die Slaven
noch ein Volk bildeten …, halte ihre Sprache noch 1. dj, tj unverändert,
2. ebenso dl, tl, dn, tn, 3. vy und izŭ neben einander, 4. ere, ele …, årå,
ålå. Allmählich traten auf verschiedenen Punkten des Gebietes neue Lautneigungen
hervor, welche von dem Orte ihres Aufkommens aus weiter um sich
griffen, jede für sich, jede in anderer Ausdehnung. Die vier genannten urslavischen
Characteristica wurden durch sie in folgender Weise und Ausdehnung
verändert: 1. dj, tj wurden bei den Westslaven zu dz, ts (= c). 2. d, t schwanden
XXIIvor l, n bei den Vorfahren der Russen, Kleinrussen, Bulgaren, Serben, Kroaten,
blieben dagegen bewahrt bei denen der Slovenen (ausser tn) und Westslaven.
3. vy kam bei den Vorfahren der Bulgaren, Serben und Kroaten ausser
Gebrauch, wurde dagegen bei denen der Slovenen, Russen und Westslaven bewahrt.
4. a. ere ward bei den Vorfahren der Südslaven und Čechen zu , erhielt
sich bei den übrigen und ward erst später bei den Vorfahren der Polen,
Polaben und Sorben zu re (S. 90, 94, 95). b. ele ward zu nicht nur bei den
Vorfahren der Südslaven und Čechen, sondern auch bei denen der Polaben
(S. 95) …. Bei den Vorfahren der Polen und Sorben wurden ele und das daneben
liegende olo (S. 98) zu respective le, ło vereinfacht, c. årå ward bei den
Vorfahren der Südslaven und Čechen zu , und zwar waren die Vorfahren der
Čechen und Südslaven zu dieser Zeit noch in vollem Zusammenhange mit denen
der Polen und Sorben, denn der Lautwandel erstreckte sich auch bis in den Anfang
von deren Gebiet, wie poln. straż neben stroż, osorb. straža neben stroža,
poln. osorb. trapić beweisen, d. ålå inlautend ward zu nicht nur bei den
Vorfahren der Südslaven und Čechen, sondern auch bei denen der Polaben …»

Nach Schmidt muss man also annehmen, dass die in den vier Punkten angegebenen
Veränderungen des Urslavischen insofern gleichzeitig waren, als sie alle
noch auf dem Boden der geographischen Continuität stattfanden (vgl. seine Uebertragung
auf die Zeichnung S. 200). Von diesen Punkten sind aber 2. und 3. hinfällig,
d. h. hier, es lässt sich mit demselben Rechte annehmen, dass diese Veränderungen
erst in der einzelnen Gruppe oder einzelnen Sprache nach der
Trennung aus der Urheimat eingetreten und damit für das alte Verhältniss der
Sprachen nicht massgebend sind. Bei vy handelt es sich um einen Verlust, der
nach Schmidts eigenen Ansichten zu solchen Bestimmungen werthlos ist. Der
Verlust von t, d z. B. vor n tritt im Verlauf der Geschichte auch in westslavischen
Sprachen ein: obersorb. panyć neben padnycć, kranyć neben kradnyć,
niedersorb. panuś, kśanuś. So gut das hier nachweislich im Laufe der Sonderentwicklung
des Sorbischen eingetreten ist, kann es in einer Sonderentwicklung
des Russischen und Südslavischen eingetreten sein, kann in der Sonderentwicklung
des Slovenischen dialektisch vorhanden sein und nicht, wie die Formen im
Sorbischen beide vorkommen. Was nun das Verhältniss der Punkte 4. und 4.
betrifft, so scheint mir, ist 1. fern zu halten, weil sich nicht ausmachen lässt, ob
die Verwandlung von tj, dj zu ts, dz bei den Vorfahren der Westslaven schon in
der Urheimat eintrat oder erst nach einer Trennung von den übrigen Stämmen.
Man kann annehmen z. B., dass die Wandlung von ere in von irgend einem
Centrum ausgehend sich über die Vorfahren der Südslaven erstreckte und die
der Čechen noch erreichte und umfasste, während zu gleicher Zeit von einem
anderen Punkte aus dz = dj, ts = tj sich über die gesammten späteren Westslaven
verbreitete, so dass von allen Sprachen nur der Vorfahr des Čechischen
beides, wie auch dz, c erhielt. Völlig ebenso gut kann man sich aber auch
vorstellen, dass das re in dem bezeichneten Gebiete herrschend geworden war,
während über das gesammte Slaventhum hin noch dj, tj unverändert erhalten
waren, dass diese erst verwandelt wurden, als die Vorfahren der Westslaven von
XXIIIden übrigen Stämmen getrennt waren. Da Lautwandel, wie der von dj, tj in
dz, c und der von ere in oder sonst wie in keinem inneren Zusammenhang
mit einander stehen, so bleibt es immer möglich, dass von den späteren Westslaven
bei ihrer Trennung von der anderen Abtheilung die Čechen hatten,
Polen, Polaben und Sorben ere, dass im Čechischen jenes blieb, im Polnischen,
Polabischen und Sorbischen re entstand und dabei nach der Trennung erst das
über alle vier Stämme sich ausdehnende dz, c ausgebildet wurde. Ich weiss
wenigstens nicht, wie man je beweisen will, dass diese verschiedenen Erscheinungen
nothwendig gleichzeitig auf dem Boden der Urheimat eintreten mussten.

Ob Schmidt das Verhältniss der slavischen Sprachen richtig bestimmt hat,
hängt also allein von dem vierten Punkte ab, davon, ob seine Erklärung der betreffenden
Erscheinungen richtig und ob das chronologische Verhältniss der einzelnen
Erscheinungen von ihm richtig dargestellt ist. Es ist äusserst schwierig,
ohne auf die erdrückende Masse von Einzelheilen, auf sämmtliche Beispiele einzugehen,
über diesen Gegenstand zu handeln, und ich kann mir hier nicht die
Aufgabe stellen nachzuweisen, dass Schmidts Svarabhaktitheorie angewendet auf
jede beliebige Behandlung der betreffenden Lautgruppen im Slavischen verfehlt
ist. Es kommt mir nur darauf an, an einem Beispiel zu zeigen, dass die aus der
Behandlung von ursprünglichem er, el, ar, al entnommenen Kriterien nicht zur
Aufstellung der Uebergangsreihen, wie sie Schmidt hat, berechtigen und selbst
seine eigenen Angaben dagegen sprechen.

Ich nehme als Beispiel den Fall, wo im Urslavischen die Lautgruppe ar, al
vor Consonant stand. Daraus müsste im Gange der regelmässigen Entwicklung
or, ol werden, oder wie Schmidt will, år, ål, also mit einer Zwischenstufe
zwischen reinem a und tieferem o, ein Unterschied, auf den es hier zunächst
nicht ankommt. Die Untersuchung der in den einzelnen slavischen Sprachen
überlieferten Formen dieser ursprünglichen Lautgruppen führte ihn zu dem
Schluss, dass die gemeinsame, in der Zeit der ununterbrochenen Continuität des
Slaventhums herrschende Vorstufe das durch Svarabhakti entstandene oro, olo
(årå, ålå) gewesen sei, und zwar ausnahmslos und ohne Unterschied, ob jene
Gruppen im Inlaut zwischen Consonanten standen oder ar, al anlauteten. Die
Annahme der Svarabhakti für den Anlaut bildet aber den schwachen Punkt der
ganzen Theorie: es ist uns hier Svarabhakti in den slavischen Sprachen nicht
bloss nicht überliefert, sondern es lässt sich auch mit der grössten Sicherheit
zeigen, dass sie nie vorhanden war. Es kommen zwei Fälle in Betracht: entweder
die Sprachen differiren im Vocal als a und o, oder sie haben alle a (einmal
alle o). Nehmen wir zunächst den ersten Fall: nach Schmidt ist die Entwicklung
z. B. eines ursprünglichen *arlijā (Acker, W. ar) folgende:

urslav. *årlija
urslav. *årålija
westslav., russ. *orolĭja; südslav. rālija
westslav., russ. rolja (rolĭja).

Dies Schema entspricht nicht der nach der Behandlung des Inlauts (wo ar, al
zwischen Consonanten stehen) zu erwartenden Regel, darnach müsste im Russischen
XXIV*orolĭja oder *orolja erhalten sein (vgl. koróva), im Čechischen *rālja
stehen (vgl. kráva), nur das polnisch-sorbische rola entspricht der Regel, indem
nach Schmidt in diesen Sprachen der erste Vocal der Svarabhakti verloren geht
(krova). Schmidt kann also die russische Form nur erklären durch den Verlust
des ersten o von *orolĭja (S. 197) und beruft sich auf die Abneigung aller
Slaven gegen vocalischen Anlaut. Sievers in seiner Besprechung des Werkes (Jen.
Lit. 1876, Art. 79) hebt die Unwahrscheinlichkeit dieses Vorganges hervor, zumal
«ja die Wörter mit gemeinslavischer Svarabhakti ihren anlautenden Vocal
ruhig behalten (russ. olenĭ, ólovo)». Es kommt aber vor allem in Betracht, dass
eine Abneigung gegen anlautendes o im Russischen nicht besteht, das Grossrussische
bewahrt es im Anlaut überall, und diejenigen slavischen Sprachen,
welche es vermeiden, denen man also jene Abneigung zuschreiben kann, setzen
v vor, aber auch in diesen ist der consonantische Vorschlag verhältnissmässig
jungen Datums. Man kann also nicht mit Schmidt sagen, jene Abneigung habe
die Ausbreitung der von den Nachbarn herüberdringenden Vereinfachung (der
von den Westslaven herüberkommenden des oro zu ro) begünstigt; die Abneigung
existirte eben nicht. Für das Russische kann man nur annehmen, dass
ro unmittelbar, ohne die Mittelstufe der Svarabhakti aus or umgestellt sei. Nur
im Vorbeigehen füge ich hinzu, dass dieser eine Fall schon es überhaupt sehr
zweifelhaft macht, ob irgendwo zur Erklärung des r, l + voc. stall ursprünglichem
voc. + r, l, die sogenannte Metathesis, Annahme von Svarabhakti erforderlich
ist.

Der zweite Fall, wo die Sprachen im Vocal als a übereinstimmen, ist folgender:

Grundform *ar-tra-m, *artlam (Pflug, W. ar)
ursl. *årdlo
ursl. *årådlo
überall rādlo, rālo.

Dagegen wäre zu erwarten gewesen nach der Analogie von *arlija westslavisch
und russisch *orodlo, *rodlo, *rolo, oder lassen wir diese Analogie fallen
und stellen uns vor, die Regel des Inlauts wäre befolgt, so hatte entstehen müssen
russ. *orolo, poln. und sorbisch *rodlo, čechisch und südslavisch radlo, ralo.
Da nun das südslavische ralo bei beiden Voraussetzungen, nach dem Entwicklungsgange
von *arlija wie nach dem des Inlauts, im regelmässigen Laufe der
Entwicklung liegt, und man sich nach Schmidt vorstellen soll, dass im Russischen
rolja durch Hinüberdringen des Einflusses von Seiten der Vorfahren der Westslaven
aus *orolĭja entstanden sei, muss man consequenter Weise annehmen,
dass a im westslavischen und russischen radlo, ralo auf einem Uebergreifen der
bei den Vorfahren der Südslaven einheimischen Wandlung von oro (årå) in
beruhe. Also muss man zu der Anschauung kommen, dass innerhalb einer Anzahl
ursprünglich gleich geformter Worte, und es handelt sich hier um eine geringe
Anzahl, das eine von dieser, das andere von jener Seite her seine Gestalt
bekommen habe. Schmidt drückt sich zwar S. 196 etwas allgemeiner aus: im
Anlaute «erlitten einige Worte auf dem ganzen Slavengebiete, also auch bei den
Vorfahren der Russen, Polen, Sorben, Polaben Contraction zu , ». Allein da
XXVwir uns jede solche Lauterscheinung als In einem engen Kreise entstanden und
von da sich verbreitend denken sollen, so kann der Anfangskreis doch nur innerhalb
der Vorfahren der Sudslaven oder etwa, der Čechen gesucht werden, da
, hier der sonst beobachteten Entwicklung entspricht, während es den Erscheinungen
auf dem übrigen Gebiete widerspricht. Mir scheint es nun äusserst
unwahrscheinlich, ja so gut wie unmöglich, dass z. B. im Russischen von zwei
Worten aus einer in der Sprache noch gebräuchlichen Wurzel (in or-ati pflügen)
das eine, rolja, seine von der zu erwartenden Gestalt abweichende Form durch
Einfluss von westslavischer, das andre, ralo, seine abweichende durch solchen von
südslavischer Seite her gewonnen habe, wie ich mir überhaupt von Berührungen
und Verkehrsverhältnissen der Stämme, die ein solches Herüber und Hinüber zur
Folge haben, keine Vorstellung machen kann. Wollte man endlich etwa Worte
wie rālo ausser Zusammenhang mit den allgemeinen Regeln für die Behandlung
von ar setzen, so bleibt die Gestalt derselben als rālo z. B. im Russischen ein
Zufall, d. h. ist für uns nicht erklärlich und auch nicht zu weiteren Schlüssen
verwendbar.

An die Verbindung al im Anlaut knüpft sich eine weitere Schwierigkeit:
neben ladija (ladiji), Nachen, und lanija (laniji), Hindin, sind uns im Altbulgarischen
überliefert auch aldija, alnija (geschrieben auch alŭdija, alŭnija, wie
Schmidt S. 175 richtig bemerkt, nur eine Consequenz der altbulgarischen Orthographie,
die sonst keine Verbindungen von ld, ln kennt), ferner neben lakati
(hungern) auch alkati (alŭkati). dies auch russisch. Nach Schmidts Vorstellung
Von der allgemein gültigen Svarabhakti wäre die Entwicklung diese:

*alkati
*ålkati
*ålåkati
ālkäti | lākati
,

das ālkati eine der allgemein slavischen wie auch südslavischen Entwicklung
widersprechende Erscheinung, um so wunderbarer, als Regel und Ausnahme
neben einander bestehen. Unter Schmidts Beispielen der Stellung al befindet
sich auch eines des Inlauts balŭtina, das mit blatina (von blato Sumpf, See)
gleichgesetzt wird. Es stammt aus dem Šestodnev des Exarchen Johannes von
Bulgarien, die Handschrift ist serbischer Redaction vom Jahre 1263, und das
Wort wird Gorskij und Nevostrujev, Opisanie II, 1, 23 citirt als bal'tiny mit der
Erklärung «vpadiny, kuda stekaetŭ, voda» von da ist es in Miklosichs Wörterbuch
übergegangen und hat nur dies eine Citat. Schmidt erklärt die auffallende
Erscheinung S. 175 so: «Vielleicht bestand im Südslavischen, ehe sich die Regel
herausbildete, vermöge deren die aus dem ursprünglichen Vocale und der Svarabhakti
zusammengeflossene Länge stets hinter die Liquida rückte, auch die Möglichkeit
die Vocale wie im Polabischen vor der Liquida zu concentriren. Vielleicht
waren diese Nebenformen gerade im bulgarischen Dialekte heimisch, da
das Nebeneinander von alkati und lakati u. s. w. völlig analog dem S. 13 erwähnten
von vŭlk und vlŭk, Bŭlgarin und Blŭgarin in der heutigen Sprache ist…
Diese Annahme wird durch die Gestalt einiger ins. Rumenische gedrungenen
XXVIWorte unterstützt: daco-rom. baltĕ lacus, stagnum (durch ĕ umschreibe ich das
jerŭ), mac.-rom. μπάλλτα aus ab. blato palus; bardĕ securis, bĕrdaš faber lignarius
— ab. brady securis; galvatinĕ cranium — ab. glava caput, serb. glavetina»
(folgen noch einige Beispiele). Miklosich (Slav. Elem. im Rum., Wiener Denkschr.
XII, 15) nahm an, dass hier Umstellung des l aus der altbulgarischen, überhaupt
südslavischen Form blato stattgefunden habe. Schmidt fährt dagegen fort: «Wären
die rumenischen Formen wirklich aus den fertigen altbulgarischen umgestellt, so
dürfte man erwarten, dass diese Metathesis auch das eine oder andere der Worte,
in welchen die Liquida schon ursprünglich vor dem Vocale stand, ergriffen hätte,
dies ist aber nirgends geschehen Daher glaube ich, dass im rum. baltĕ,
bardĕ, galvatinĕ, gard, daltĕ alte bulgarische Nebenformen von blato u. s. w.
bewahrt sind. Allerdings finden sich auch die Worte unseres zweiten Verzeichnisses
(S. 123 ff.), wenn sie ins Rumenische gedrungen sind, liier meist mit der
südslavischen Reihenfolge la, ra: rum. blagĕ, brazdĕ = ab. blagŭ, brazda u. a.
…. Diese widersprechen aber meiner Annahme gar nicht, da sie zu einer späteren
Zeit entlehnt sein können, in welcher die Lautfolgen ra, la durch die Schriftsprache
so fest geworden waren, dass sie die Nebenformen mit ar, al gänzlich
verdrängt hatten». Schmidt führt dann noch (S. 176) rum. Entlehnungen an, die
Svarabhakti haben, z. B. chĕrĕbor (alacer) =altbulg. chrabrŭ; chranĕ, chĕranĕ
(nutrimentum) = serb. chrana, und hält auch diese für wahrscheinlich in dieser
Gestalt aus dem Südslavischen entlehnt. Zugegeben, dies alles verhalte sich so,
so ist doch die Consequenz der Art, dass sie Schmidts frühere Ansetzungen zerstört.
Noch zur Zeit, als die Südslaven (es kann sich hier nur um Bulgaren,
höchstens Serben und Bulgaren handeln) mit den Rumunen in Berührung traten,
d. h. nicht vor dem 6-7. Jahrhundert, bei der Einwanderung in die Süddonauländer,
sollen bei ihnen die Formen mit Svarabhakti, d. h. die nach Schmidt zur
Zeit der slavischen Continuität ausgebildeten und über das gesammte Sprachgebiet
verbreiteten, noch vorhanden gewesen sein, also Formen, um die Sache
an einem Beispiel durchzuführen, wie *gårådŭ, daneben das daraus entstandene
*gardŭ, und ferner noch das ebenfalls daraus entstandene *gradŭ. Die Unwahrscheinlichkeit,
dass dieselbe Sprache den sonst betretenen Weg, die Wandlung
des årå, ålå in , , bei einigen so geläufigen Worten, wie die in der oben
citirten Stelle bei Schmidt vorkommenden glava und gradŭ, nicht eingeschlagen
habe, liegt auf der Hand; es bliebe nur denkbar, dass der eine Dialekt *gardŭ,
*galva u. s. w:, der andre gradŭ, glava ausbildete, und so scheint sich auch
Schmidt die Sache zu denken. Allein wie stimmt dies Resultat zu der Ansetzung
auf S. 200, wornach årå auf dem Gebiet zwischen den Radien BM-FM (siehe
die oben gegebene Zeichnung), d. h. bei den Vorfahren der Südslaven und der
Čechen zu , ålå ausser bei den Südslaven und Čechen noch bei den Polaben
zu geworden sein soll, also während der Continuität des Volks- und Sprachlebens.
Das kann ja gerade nicht der Fall gewesen sein, wenn die Bulgaren oder
Südslaven überhaupt noch årå, ålå in ihre spätere Heimat herüberbrachten oder
daraus auch ar, al gemacht halten. Wenn also Schmidts Princip hier geltend
gemacht werden soll, müssen die Bulgaren oder alle Sudslaven oder das südslavische
XXVIIVolk, von dem die Rumunen ihr gard, baltĕ haben, noch nicht von der
Wirkungssphäre der Veränderung des årå, ålå in , auf dem Boden der Urheimat
mitergriffen gewesen sein. Es hilft nichts, etwa dagegen zu sagen, die
Verbindung der Bulgaren mit denjenigen anderen Stämmen, die , haben,
könne sich gelöst haben zu einer Zeit, wo noch eine Anzahl årå, ålå übrig waren,
wo der ganze Process noch nicht fertig war, daher hätten die Bulgaren später
z. B. *gårådŭ zu gradŭ oder gardŭ umbilden können. Wie will man das jemals
plausibel machen? Konnten bei den Bulgaren nach Lösung der Continuität mit
den übrigen Stämmen eine Anzahl solcher Umbildungen selbständig geschehen,
so sehe ich nicht ein, was einen hindern kann anzunehmen, dass sie alle ausserhalb
des Connexes mit den arideren Stämmen entstanden sind.

Meine Ansicht ist daher, dass die von Schmidt für die gegenseitigen Verhältnisse
der slavischen Dialekte aufgestellten Kriterien durchaus nicht die Bedeutung
haben, welche er ihnen zuschreibt, dass sie das nicht beweisen, was sie beweisen
sollen; und ich glaube dasselbe von den Gründen, die Schmidt (Verwandtschaftsverh.
S. 9 ff.) für eine nahe Berührung des Slavolettischen mit dem
Arischen, für die Untrennbarkeit dieser beiden aufstellt. Die schon von Bopp
hervorgehobenen nom.-acc. dual. der i- und u-stämme und der ā-stämme, slav.
kostī, lit. avì (= avī), sanskrt. avī, znd. āfritī; slav. syny, lit. sūnù (= sūnū),
sanskrt. sūnū, znd. pājū; slav. rącě, lit. rankì (aus *rankë), sanskrt. açvē, znd.
dātē, sind schon deswegen wegzulassen, weil wir nicht wissen, wie im Germanischen
diese Formen gelautet haben, ganz abgesehen von dem irischen fáith
= *váti, das Schmidt anführt. Es heisst bei ihm S. 13: es ist unmöglich «zahlreiche
Erscheinungen, in welchen das Slavolettische mit dem Arischen übereinstimmt,
vom Deutschen aber abweicht, zu übersehen: in der Declination haben
Slavisch und Litauisch den instr. sg. auf urspr. -bhi, plur. auf urspr. -bhis,
den loc. plur. auf urspr. -sva, in der Conjugation den einfachen und den zusammengesetzten
Aorist, das Futurum auf urspr. -sjāmi, das part. perf. act. auf
urspr. -vans, das Supinum auf -tum, lauter Formen, von denen das Gotische
gar nichts mehr weiss oder, wie vom einfachen Aorist (s. Verf. Ztschr. XIX,
291 f.) und part. perf. act. (bērusjōs) nur noch wenige, als solche nicht mehr
empfundene und daher kaum zu rechnende Spuren zeigt. Und zwar sehen
wir schon hier, dass das Slavische, welches geographisch dem Arischen
näher liegt als das Litauische, in der Bewahrung der Aoriste, welche dem Litauischen
verloren gegangen sind, dem Arischen auch grammatisch näher steht
als das Litauische». Man bemerke, dass es sich um lauter Verluste einst gemeinsamer
indogermanischer Bildungen handelt. Sie beweisen für die nähere oder
fernere Beziehung der betreffenden Sprachen nichts. Die grössere geographische
Nähe hat die Slaven nicht verhindert, das Futurum auf -sjāmi zu verlieren,
denn dies existirt auch nur in kaum zu rechnenden Spuren, während das entfernter
liegende Litauische es unversehrt bewahrt hat. Slavisch und Litauisch
haben das alte Perfectum spurlos verloren, während das ferner liegende Germanische
es erhalten hat. Sind aber in einigen Fällen Verlust oder Erhallung des
ursprünglichen Sprachgutes unabhängig von der relativen Lage der Sprachen, so
XXVIIIkönnen sie in allen davon unabhängig sein und alle derartigen Erscheinungen
sind für die Bestimmung des Verhältnisses der Sprachen zu einander gleichgültig.
Ebenso steht es mit einigen anderen auf derselben Seite angeführten
Punkten: «nur eranisch-slavolettisch ist der gen. sg. des Pron. der ersten Person:
apers. manā, abaktr. manu, lit. máno, abulg. mene, denn got. meina muss wegen
der analogen theina, seina als Stamm ma- mit Suff, -eina aufgefasst werden».
Lit. máno gehört nicht hierher, sondern, ist der Genitiv des Possessivstammes
mana-, nom. msc. manas, wie der preuss. Genitiv maise = *maja-sja vom Possessivum
mais = *majas, und dass der gotische Genitiv meina mit dem Possessivpronomen
zusammenhängt, so gut wie der lat. mei etc., kann doch auch nicht
bezweifelt werden. Da so in verschiedenen Sprachen der Genitiv verschiedener
Possessivstämme als Genitiv des persönlichen Pronomens fungirt, ist der ursprüngliche
Genitiv des letzteren verloren gegangen und kann im Litauischen,
Germanischen und Italischen einst mit sanskrt. mana correspondirt haben; es
handelt sich also auch hier vielleicht, ja wahrscheinlich um einen Verlust. Dieselbe
Möglichkeit liegt vor bei lit. visa- (all), slav. vĭsĭ, das nur im Arischen eine
Entsprechung hat. Auch darin, dass slav. ovŭ nur hier und im Iranischen (ava-)
vollständig flectirt wird, andre Sprachen es nur in Resten haben, vermag ich
keine besondre Annäherung des Slavischen an das Iranische zu finden. So gut
es ein Zufall ist, dass an den beiden Enden eines vom Indischen bis zum Litauischen
reichenden Sprachgebietes das Sanskrit jenes ava- fast ganz, das Litauische
völlig aufgegeben hat, so wenig lässt sich demonstriren, dass die Erhaltung desselben
in den beiden in der Mille liegenden Sprachen etwas mit einer längeren
historischen und geographischen Continuität zu thun bat. Ich behaupte damit
nicht, dass alle diese und andre Erhaltungen und Verluste, wenn einmal aus
anderen Gründen eine engere Beziehung hergestellt werden muss, nicht mit angeführt
werden dürfen, sondern nur, dass sie keine Beweiskraft haben. Aus
demselben Grunde sind alle Vergleichungen des Wortschatzes immer erst von
secundärem Werth, abgesehen davon, dass sie sehr veränderlich und abhängig
sind von der veränderlichen und vermehrbaren etymologischen Erkenntniss und
bei verschiedenen Sammlern zu recht verschiedenen Resultaten führen; man
vergleiche in dieser Beziehung die Verzeichnisse Schmidts und Ficks (Spracheinheit
etc.). Etwas mehr Gewicht scheint eine von Schmidt als solche hervorgehobene
Uebereinstimmung gewisser Zahlworte im Slavischen und Arischen zu
haben, S. 14: «an die Stelle der Cardinalzahlen von fünf bis zehn hat das Slavische
collective Substantiva gesetzt. Sehen wir hierbei von den Benennungen für
sechs, sieben und acht ab, welche nirgends ausserhalb genau entsprechendes
haben, so finden sich die drei übrigen Zahlcollectiva oder Abstracta sämmtlich
in den arischen Sprachen, und zwar nur in diesen wieder: pętĭ ist skrt. paṅkti-
Fünfheit, devętĭ = abaktr. navaiti- Neunheit, desętĭ = skrt. daçati- Decade».
Ich würde diesem Umstände mehr Bedeutung zuschreiben, wenn jene Abstracta
auch im Arischen die ursprünglichen Zahlworte verträten, und nicht für das Slavische
auch eine andre Betrachtungsweise möglich wäre. Wir dürfen, meine ich,
von den Worten für 6, 7, 8 eben nicht absehen; sie lauten šestĭ, sedmĭ, osmĭ,
XXIXnur aus der ganzen Reihe erkennt man, dass das Slavische für alle alten Zahlworte
von 5-10 einen Ersatz anderswoher genommen hat und zwar von verschiedenen
Seiten her. Dass nun sedmĭ, osmĭ aus den Ordinalzahlen sedmŭ, osmŭ
(beideauch lit. sékmas, ászmas; dem sékmas wie sedmŭ liegt das im Preussischen
erhaltene.septmas zu Grunde) entstanden, scheint mir unzweifelhaft durch die Form
gegeben. Dass also pętĭ, šestĭ, devętĭ ebenso den Ordinalzahlen pętŭ, sestŭ, devętŭ
entsprechen und daraus gebildet sind, ist durchaus möglich; dass devett in
diese Reihe gehört, ist mir auch deswegen wahrscheinlich, weil im Litauischen
eine andre Form, devyni, herrscht, eine Neubildung wie septyni und asztůni.
Demnach ist das einzige Wort, welches hier bedeutend bleibt, desętĭ, wegen
seiner Uebereinstimmung mit dem Litauischen dészimtis. Die Uebereinstimmung
des Slavisch-litauischen mit dem Arischen beschränkt sich also, wenn man sicher
rechnen will, darauf, dass von einem Zahlwort, dem für 10, in beiden Sprachgruppen
eine gleichartige Weiterbildung mit Suffix -ti- vorgenommen ist, ein
Umstand, dem ich bei der Häufigkeit des Suffixes in beiden keine besondre Bedeutung
beilegen kann.

Es handelt sich hier um zwingende Kriterien, und als solche können alle
von Schmidt angeführten Punkte nicht gelten; es bleibt nur einer übrig, der vielleicht
entscheidend ist: die Wandlung einer gewissen Anzahl von k-Lauten in
einen Spiranten (arisch ç, slav. s, lit. sz oder s) in durchweg denselben Worten.
Dass darauf das Hauptgewicht fällt, ist denn auch anerkannt, und die Frage ist:
muss aus dieser Wandlung auf eine engere Verbindung des Slavisch-litauischen
mit den arischen Sprachen geschlossen werden; mit anderen Worten: ist es
nach sonstigen sprachgeschichtlichen Erfahrungen nothwendig anzunehmen, dass
diese Wandlung innerhalb einer ununterbrochenen Continuität von Slavoletten
und Ariern vor sich gegangen sei. Um diese Frage bewegt sich ein grosser Theil
von Ficks Buche (Die ehemalige Spracheinheit der Indogerm. Europas), und ich
meine trotz Schmidts Einwendungen (Rec. des Fickschen Werkes, Jen. Lit. 4874,
Art. 201), ihm sei der Beweis gelungen, dass bereits die Ursprache einen doppelten
k-Laut, k und ķ (letzteres Zeichen des in ç u. s. w. übergehenden Consonanten)
besessen habe und dass dies Verhältniss in allen indogermanischen
Sprachen wiederzufinden sei. Das allgemeine Resultat von Ficks Untersuchung
ist in einem Schema ausgedrückt folgendes.

indog. k | indog. ķ
ar. k, sl.-l. k, germ. hv(f), südeur.kv(p) | ar. ç, sl.-l. sz, s, germ. h=k, südeur.k

Schmidt bringt a. 0. Ausnahmen bei, also Fälle, in denen Ficks. indogerm.
k z. B. im Südeuropäischen nicht zu kv oder p, und Fälle, in denen k im Südeuropäischen
oder Germanischen zu kv geworden ist. Er zieht daraus den Schluss,
dass die Unterscheidung der beiden k-Laute im Südeuropäischen und Germanischen
nicht durchgeführt war. Geben wir das auch zu, so folgt daraus nicht,
dass der Unterschied in der Ursprache nicht vorhanden war. Die Sache steht
vielmehr so: es giebt unleugbar im Süd europäischen und Germanischen ein kv
XXXneben einem k in einer Anzahl gleicher Fälle; auf der anderen Seite giebt es ein k
neben einem aus k-Laut hervorgegangenen Spiranten im Slavisch-litauischen
und Arischen. Ebenfalls ist es sicher, dass in einer Reihe von Fällen der slav.-lit.-arische
Spirant im Sudeuropäischen und Germanischen als k erscheint, das
slav.-lit.-arische k dort als kv wiederkehrt. Rechnet man nun auch alle Fälle
ab, wo dies Verhältniss nicht zutrifft, so bleibt doch die Thatsache bestehen: das
Südeuropäische und Germanische kennen eine Spaltung des k-Lautes in kv (daraus
auch p) und k das Slavisch-litauische und Arische eine solche in k und ç (sz, s),
in vielen Fällen correspondiren diese Spaltungen mit einander. Hat nun die
Grundsprache keinen doppelten k-Laut gekannt, so ist diese Corresponsion barer
Zufall, und dafür vermag ich sie nicht zu halten, wenigstens kann man dann mit
demselben Recht auch die Uebereinstimmung des Arischen und Slavisch-litauischen
in ç, (sz, s) für Zufall erklären. Die von Schmidt angeführten Beispiele,
in denen das Verhältniss nicht stimmt, können, wie mir scheint, nur beweisen,
dass k und das palatal afficirte ķ einander in der Ursprache noch sehr nahe
lagen, so dass bei den Einzelentwickelungen der Sprachen die beiden Classen
nicht überall so scharf wie durchweg im Arischen und Slavisch-litauischen auseinandergehalten
wurden, Uebertritt von der einen in die andre Classe stattfand,
ebenso wie das Verhältniss der doppelten Medien g, g; gh, gh, die anzunehmen
sind wie k, ķ nur im Arischen und Slavisch-litauischen getreuer bewahrt, in den
übrigen Sprachen mehr verwischt ist, d. h. vielleicht, denn die Untersuchungen
darüber sind nicht abgeschlossen.

Gibt man nun die Existenz eines k, ķ u. s. w. für die Ursprache zu, so beschränkt
sich die specielle Uebereinstimmung des Arischen und Slavisch-litauischen
auf die Qualität des aus ķ hervorgegangenen Lautes, und das ist ein Punkt
von viel geringerer Bedeutung. Seinen wirklichen Werth kann man durch einen
analogen Fall erläutern: in einem Theil des Griechischen, im Oskisch-umbrischen
und im britisch-gallischen Keltisch wird kv z. B. im Relativstamm zu p, in einem
andern Theil des Griechischen, im Latein und im Irischen geschieht das nicht,
und doch wird wohl daraus niemand eine engere Beziehung des nicht-ionischen
Griechisch, des oskisch-umbrischen Italisch und des britischen Keltisch herstellen
wollen, sondern jeder annehmen, die Entwicklung gehöre in allen drei Fällen
der einzelnen Familie an, obwohl der Lautwandel auch auffallend genug ist. Wir
haben es hier zu thun mit einem lautphysiologischen Vorgange, der sich auf gemeinsamer
Grundlage an beliebigen Punkten wiederholen kann, wie z. B. die
Erscheinungen des sogenannten Zetacismus gleichförmig auf den verschiedensten
sprachlichen Gebieten wiederkehren. Es scheint mir daher ebenso wahrscheinlich,
dass ein palatal afficirtes indogermanisches ķ sich in getrennter Entwicklung
verschiedener Familien zu einem Spiranten entwickelt habe, wie, dass diese Entwicklung
in eine Periode der Continuität und gemeinsamer sprachlicher Schicksale
falle. Es ist demnach auch für mich nicht erwiesen, dass das Slavisch-litauische
und Arische zu einander in einem Verhältnisse stehen, wornach es von
vornherein unerlaubt sei, das Slavisch-litauische mit einer oder mehreren anderen
Familien des Indogermanischen, mit allen europäischen Sprachen zu einer Gruppe
XXXIzu vereinigen und dieser Gruppe eine besondere, vom Arischen zu trennende
Entwicklung beizulegen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass es eine solche
Familie geben muss, oder dass wirklich das Germanische mit dem Slavisch-litauischen
eine besondere Gruppe bilde. Es kann ja möglicher Weise die bisher
beliebte Gruppirung innerhalb des Europäischen falsch sein und statt der zwei
Abtheilungen (nord- und südeuropäischer) eine Dreitheilung (Slavisch-litauisch,
Germanisch, Südeuropäisch) anzunehmen sein. Für eine engere Verbindung des
Germanischen mit dem Slavisch-litauischen sind bestimmte Gründe zu suchen.

Die bisher, namentlich von Schleicher beigebrachten, sind zusammengestellt
und kritisirt von Schmidt (Verwandtschaftsverh. S. 4): er kommt zu dem auch
für mich unzweifelhaften Resultat, dass sie alle keine beweisende Kraft haben
ausser dem einen Argument der Wandlung des bh der Casusendungen zu m,
«dies Zusammentreffen ist um so wichtiger, als keine der drei Sprachen diesen
Lautwandel in anderen Füllen zeigt». Schmidt hat dann selbst neue Argumente
hinzugefügt (von der Vergleichung des Wortschatzes sehe ich aus dem oben angeführten
Grunde ab): erstens die Contraction des -jā im nom. sg. fern, wie altb.
prijajqšti, lit. áuganti, got. frijōndi soll auf gemeinsamer Entwicklung beruhen;
auf diesen Punkt gehe ich hier nicht naher ein, weil ich unten S. 10 versucht
habe nachzuweisen, dass keine Gemeinsamkeit stattfindet. Zweitens: die got.
Declination der Zahlen von 4-10 als i-Stämme vergleicht Schmidt mit der
litauischen Declination der Zahlen von 4-9; dabei wird besonders hervorgehoben
die Zahl 4, lit. keturì), welches nach Schmidt gleich einem ursprünglich gotischen
*fidvōri, der Vorstufe von fidvōr sein soll, «die gotische Form lässt sich keinem
der sonstigen Declinationsschemata einordnen, die litauische kann allerdings nom.
plur. des in allen casus obliqui ausser dem acc. erscheinenden Stammes keturja-
sein, aber auch Laut für Laut dem gotischen fidvōr entsprechen, d. h. den im
acc. kéturis zweifellos gesicherten i-Slamm wie im Gotischen ohne Casussuffix
bieten». Gegen diese Aufstellung habe ich verschiedene Einwendungen zu
machen: zunächst können von den litauischen Zahlworten nur 4, 5, 6 zur Vergleichung
herbeigezogen werden, da 7 septynì, 8 asztůnì, 9 devynì secundäre
Bildungen mit erweiterndem Suffixe sind; ferner ist keturì. ganz sicher nicht unflectirter
Stamm, sondern gewöhnlicher pronominal-adjectivischer nom. pl. des
a-Stammes keturja-, so gut wie septynì etc., wie denn überhaupt die Zahlen von
4-9 mit Ausnahme des acc. pl. pronominal-adjectivisch flectirt werden, vgl. dat.
keturēms. In keiner indogermanischen Sprache finden wir das Zahlwort für 4
als unflectirten Stamm und fidvōr ist kein solcher, sondern steht für *fidvōrs =
*katvāras, wie im Arischen, Griechischen, Lateinischen. Es bleiben zur Vergleichung
mit den germanischen i-Casus der Zahlworte thatsächlich nur die drei
Accusative kéturis, penkìs, szeszìs, und ich bin allerdings auch der Meinung,
dass wir darin den Rest einer älteren Flexion der Zahlworte haben, die mit der
des slavischen četyrije (vier), dat. četyrĭmŭ, acc. četyri, instr. četyrĭmi, loc. čelyrĭchŭ
übereinstimmt. Allein im Slavischen heisst der.gen. četyr-ŭ, das ist die
consonantische Form, und möglich ist es wenigstens, dass der nom. četyre, der
vorkommt, auch = čelyr-e ist, wenn dieser freilich auch nach der Eigenthümlichkeit
XXXIIder altbulgarischen Quellen für četyrje (ЧЄТЂѤ) = četyrĭje (ЧЄТЂѤ)
stehen kann. Im Slavischen und Litauischen fallen nun die i-Formen in die allgemeine
Regel dieser Sprachen, die alten consonantischen Formen ausser in Nominativen,
Genitiven und zuweilen Accusativen durch die Formen der i-Stämme
zu ersetzen. Es ist daher ganz zweifelhaft, ob irgend ein historischer Zusammenhang
mit den germanischen Formen stattfinde.

Von weit grösserem Gewicht sind die weiteren bei Schmidt S. 7 angeführten
Punkte: die Zahlbildung mit got. -lif, -lib, lit. -lika, das gleiche Wort für die
Zahl 1000, die Verwendung des nasalen Suffixes oder Infixes zur Präsensbildung
mit inchoativer oder passivisch-intransitiver Bedeutung, Punkte, die ich hier
nicht weher auszuführen brauche. Rechnet man dazu noch besondere Eigenthümlichkeiten
in stammbildenden Suffixen wie das gemeinsame -iska- u. a.,
ferner diejenigen Uebereinstimmungen zwischen Slavisch-litauisch und Germanisch,
die beide Familien nach der bisher geltenden Anschauung als zur europäischen
Abtheilung gehörig characterisiren, so scheint es mir zum wenigsten
noch eine plausible Vermuthung zu sein, dass dem Slavisch-litauischen und Germanischen
eine besondere Entwicklungsgeschichte zuzuschreiben sei. Wir haben
noch, und darauf kommt es mir hier an, das Recht, den Versuch zu machen, ob
das Litauisch-slavische sich mit dem Germanischen zu einer besonderen Gruppe
mit einer vom Ganzen des Sprachstammes oder anderen Theilen desselben getrennten
Entwicklung vereinigen lasse. Das Gelingen eines solchen Versuches
bleibt dabei natürlich ganz dahingestellt.

Fragt man sich, von welcher Seite her dieser Versuch am zweckmässigsten
anzustellen sei, so darf der Wortschatz, wie oben bemerkt, erst in letzter Reihe
berücksichtigt werden. Das Gebiet, auf welches man zu allererst Rücksicht zu
nehmen hätte, die Entwicklung der Laute aus dem ursprünglichen Bestände
heraus, bietet abgesehen von einer Erscheinung, der Wandlung des bh von
Casusendungen in m, keine Ausbeute: bei der Vergleichung des litauisch-slavischen
Lautsystems mit dem germanischen kommt man durchweg auf die allgemein indogermanische
oder wenigstens europäische Grundlage. Es bleiben also Flexion
und Stammbildung, oder um für die letztere einen hier passenderen Ausdruck
zu brauchen, Bildung und Anwendung der Ableitungssuffixe. Sprachen, deren
ganzer Habitus nicht zweifelhaft lässt, dass sie eine längere gemeinsame Geschichte
durchlaufen haben, pflegen in der Flexion Erscheinungen darzubieten,
die nur ihnen gehörig auf Verlassen oder Umbilden der indogermanischen Grundformen
beruhen; man vgl. in dieser Beziehung die Flexion der beiden arischen
Sprachen mit der Flexion der übrigen indogermanischen Sprachen, die des Slavischen
und Litauischen mit der einer anderen europäischen Gruppe, die eigenthümlichen
und gleichartigen Neuerungen in der Conjugation im Italischen und
Keltischen. Neubildungen in der Flexion gelten mit vollem Recht als Hauptkriterien
engerer Verwandtschaft: da die Mittel eine verlorne oder sich verlierende
alte Form zu ersetzen sehr mannichfaltig sind und keine allgemeinen sprachlichen
Gesetze nothwendig auch auf verschiedenem Boden zur Anwendung dieses oder
jenes bestimmten Mittels führen, ist immer die grösste Wahrscheinlichkeit dafür,
XXXIIIdass die Anwendung gleicher Mittel auf historischem Zusammenhang beruhe.
Dasselbe Hisst sich von der besonderen Ausbildung und Anwendung der stammbildenden
Suffixe sagen.

Die folgende Darstellung der Declination des Slavisch-litauischen und Germanischen
ist mit der Absicht unternommen zu untersuchen, ob gemeinsame
Züge einer besonderen Entwicklung dieses Theiles der Flexion vorhanden sind,
und ob demnach dieses Gebiet auf eine gemeinsame Sondergeschichte dieser Familien
zu schliessen erlaubt. Dass dabei oft auch das Verhältniss der slavisch-litauischen
Formen zu denen der arischen Sprachen und die Frage nach der ältesten
Form dieses oder jenes Casus herangezogen werde, war unumgänglich; es
war aber nicht meine Absicht, dahin zielende Untersuchungen weiter zu führen
als für den vorliegenden Zweck erforderlich schien.

Bei der Untersuchung bin ich, wie das S. 1 kurz ausgesprochen ist, von dem
Grundsatz ausgegangen, dass die uns überlieferte Gestalt eines Casus niemals
auf einer Ausnahme von den sonst befolgten Lautgesetzen beruhe. Um nicht
missverstanden zu werden, möchte ich noch hinzufügen: versteht man unter
Ausnahmen solche Fälle, in denen der zu erwartende Lautwandel aus bestimmten
erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, z. B. das Unterbleiben der Verschiebung
im Deutschen in Lautgruppen wie st u. s. w., wo also gewissermassen eine
Regel die andre durchkreuzt, so ist gegen den Satz, die Lautgesetze seien nicht
ausnahmslos, natürlich nichts einzuwenden. Das Gesetz wird eben dadurch nicht
aufgehoben und wirkt, wo diese oder andre Störungen, die Wirkungen andrer
Gesetze nicht vorhanden sind, in der zu erwartenden Weise. Lässt man aber
beliebige zufällige, unter einander in keinen Zusammenhang zu bringende Abweichungen
zu, so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Untersuchung,
die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht zugänglich ist.

Einige Ergänzungen erlaube ich mir hier zum Schlüsse beizufügen. In der
Besprechung des Ablativs (S. 35 ff.) hätte der Gathadialekt herangezogen werden
müssen als Beweismittel für die ursprüngliche Beschränkung des Ablativs
auf die msc.-ntr. a-Stämme, da er den Casus ebenfalls nur bei diesen Stämmen
kennt (s. Hübschmann, Zur Casuslehre S. 240). Was das S. 37 erwähnte Schicksal
des t nach ai, au im Altpersischen betrifft, so macht mich Dr. Hübschmann
aufmerksam, dass naiy (nicht) als dem zend. noiṭ entsprechend Verlust des t hat
und derselbe Verlust in ciy = ciṭ eingetreten ist. Demnach würden altpersische
Ablative von i-Stämmen z. B. *Caispai gelautet haben. In dem Abschnitt über
den acc. plur. S. 104 halle dem Satze: «in keiner der drei Familien ist ein urspr.
acc. plur. der consonantischen Stämme vergleichbar erhalten», beigefügt werden
sollen, was mich veranlasst, die in den Grammatiken aufgeführten consonantischen
Formen des acc. pl. im Litauischen und Slavischen unberücksichtigt zu lassen.
Schleicher führt Lit. Gr. S. 193 dùkteres an (mit der Note «uralte Form! Grundform
duktaras»). Er scheint sie später nicht mehr so angesehen oder für zweifelhaft
gehalten zu haben, da es Comp.3 532 heisst: «alle consonantischen [lit.
Stämme] gehen nach der i-Form, ákmenis u. s. w.» In der That wäre für ein
*duktaras lit. *dukters zu erwarten, vgl. gen. sg duktèrs, nom. pl. dùkters, und
XXXIVda nicht angegeben ist, woher die Form stammt oder welchem Dialekt sie entnommen
ist, kann sie ganz wohl = dùkteris sein; i und e in Endsilben sind
dialektisch oft nicht zu unterscheiden; und selbst wenn e = e ist, könnte die
Form immer noch nach Analogie von żolès (jā-St.) gebildet sein. Sonstige Beispiele
der Art sind mir nicht bekannt. Die slavischen Formen matere, crĭkŭve,
kamene, wie sie Miklosich (Altslav. Formenlehre in Parad.) als acc. pl. in den
betreffenden Paradigmen hat, würden die allgemein indogermanische Endung
-as zeigen, somit nichts besonderes bieten. Der Grund, weshalb ich sie weggelassen,
ist der, dass ich keine sicheren Belege dafür habe finden können; einer,
den Miklosich, Vgl. Gr. II, S. 53 gibt, jelene, ist aus einer serbisch-kirchenslavischen
Quelle des 15. Jahrb. und beweist nichts, da das e die aus dem ę der
ja-Stämme hervorgegangene serbische Accussativendung sein kann.XXXV