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Humboldt, Wilhelm von. Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues – T01

Ueber den Einfluss des Verschiedenen Charakters
der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung

Dass eine Sprache bloss ein Inbegriff willkührlicher, oder zufällig üblich
gewordener Begriffszeichen sey, ein Wort keine andre Bestimmung
und Kraft habe, als einen gewissen, ausser ihm entweder in der Wirklichkeit
vorhandenen, oder im Geiste gedachten Gegenstand zurückzurufen,
und dass es daher gewissermassen als gleichgültig angesehen
werden könne, welcher Sprache sich eine Nation bediene, sind Meynungen,
die man wohl bei niemanden mehr voraussetzen darf, welcher
der Natur der Sprachen auch nur einiges Nachdenken gewidmet hat.
Man kann vielmehr als allgemein anerkannt annehmen, dass die verschiedenen
Sprachen die Organe der eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten
der Nationen ausmachen, dass eine grosse Anzahl von
Gegenständen erst durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden,
und nur in ihnen ihr Daseyn haben (was sich in der Art, wie sie im
Worte gedacht werden, und im Denken durch Sprache auf den Geist
wirken, eigentlich auf alle ausdehnen lässt), dass endlich die Gruhdtheile
der Sprachen nicht willkührlich, und gleichsam durch Verabredung
entstanden, sondern aus dem Innersten der Menschennatur hervorgegangene,
und sich (man könnte hinzusetzen: als gewissermassen selbstständige
Wesen in einer bestimmten Persönlichkeit) erhaltende, und
forterzeugende Laute sind. Allein über die Natur des Einwirkens der
Sprache auf das Denken, die Andeutung derjenigen unter ihren Eigenschaften,
auf welchen es eigentlich beruht, die Festsetzung der Erfordernisse
in ihr, wenn darin ein solcher, oder solcher Grad erreicht werden,
oder diese, oder jene bestimmte Verschiedenheit des Denkens
hervorgebracht werden soll, über die Abhängigkeit, oder Unabhängigkeit,
in der sich die Nation zu ihrer Sprache befindet, die Macht, die sie
über dieselbe ausüben kann, oder den Zwang, den sie von ihr erleiden
muss, liegt das Feld der Forschung noch offen, und man darf, wenn
man auf diese Fragen eingeht, eher besorgen, ein wenig zugängliches,
als ein schon zu oft durchwandertes Gebiet zu betreten.

Es ist der Zweck der gegenwärtigen Arbeit, diese Untersuchung vorzunehmen,
und so weit, als nothwendig und möglich scheinen wird,
fortzuführen, dabei ebensowohl rein betrachtend, und in die Natur der
Sprache überhaupt eindringend, als geschichtlich durch Prüfung der
9bedeutendsten wirklich vorhandenen Sprachen zu verfahren, und auf
diese Weise dahin zu gelangen, den Einfluss des verschiedenen Charakters
der Sprachen (welchen genau festzustellen schon an sich keine
leichte Aufgabe ist) auf Literatur und Geistesbildung zu bestimmen.

Wenn die Grammatik und Wörterlehre als die Zergliederung der
Sprachen gelten können, so werden wir hier gleichsam auf ihre physiologischen
Functionen geführt; erkennen, wie ihre Bestandtheile einzeln,
und zusammen wirken, und wie sich daraus und dadurch ihr organisches
Leben gestaltet. Denn ein solches kann den Sprachen nicht abgesprochen
werden. Die Geschlechter vergehen, aber die Sprache bleibt;
jedes findet sie schon vor, und stärker und mächtiger, als es selbst ist,
ergründet sie nie ganz, und hinterlässt sie dem nachfolgenden; ihr Charakter,
ihre Eigenthümlichkeit lässt sich nur durch die ganze Reihe der
Geschlechter hindurch erkennen, aber sie verbindet sie alle, und alle
stellen sich in ihr dar; man sieht, was sie einzelnen Zeiten, einzelnen
Männern verdankt, aber was alle ihr schuldig sind, bleibt immer unbestimmbar.
Im Grunde ist die Sprache, nicht wie sie in fragmentarischen
Lauten und Werken auf die Nachwelt kommt, sondern in ihrem regen,
lebendigen Daseyn, nicht auch die äussere bloss, sondern zugleich die
innere, in ihrer Einerleiheit mit dem durch sie erst möglichen Denken,
die Nation selbst, und recht eigentlich die Nation. Denn was ist die
Sprache anders, als die Blüthe, zu der Alles in des Menschen körperlicher
und geistiger Natur zusammenstrebt, in der sich Alles sonst Unbestimmte
und Schwankende erst gestaltet, und die feiner und aetherischer,
als die immer tiefer mit Irrdischem vermischte That ist? Sie ist
aber ebenso die Blüthe des Organismus der ganzen Nation. Denn der
Mensch kann sie ebensowenig allein hervorbringen, als bloss von andern
empfangen, und das Geheimniss ihres Ursprungs beruht auf dem
Geheimniss einer getrennten, und doch in höherem Sinne wieder unläugbar
verbundenen Individualität.

Bei der Untersuchung des Einflusses der Sprachen auf die Nationen
scheint es vielleicht sonderbar, gerade der Literatur zu erwähnen, die oft
bloss ein künstliches, nicht von selbst, und durch die Begeisterung der
eignen Sprache aus ihr hervorgehendes Werk ist. Ein Volk gewährt im
häuslichen und öffentlichen Leben, auch wenn es nie nur zu einem Anfange
von Literatur gelangte, viel merkwürdigere Erscheinungen, und
grössere Energien, die gewiss nicht minder unter dem Einfluss der Sprache
stehen, und diese geht meistentheils nur geschwächt und arm gemacht
in Schriften und Bücher über, indess sich ihr voller Strom kräftig
und sinnvoll durch die tägliche Rede des Volkes ergiesst. Die Bildung
einer Literatur gleicht der Bildung der Verknöcherungspunkte in dem
alternden menschlichen Körperbau, und von dem Augenblick an wo der
frei in Rede und Gesang ertönende Laut in den Kerker der Schrift gebannt
10wird, geht die Sprache erst angeblicher Reinigung, dann ihrer Verarmung,
und endlich ihrem Tode zu, wie reich und weitverbreitet sie seyn
möge. Denn der Buchstabe wirkt erstarrend auf die noch einige Zeit frei
und mannigfaltig neben ihm fortbestehende gesprochene Rede zurück,
drückt seine ungebundneren Ausbrüche, seine vielfachen Formen, seine
jede kleinste Nuance bildlich bezeichnenden Modificationen durch seine
Vernehmlichkeit zur Volkssprache herunter, und duldet bald nichts mehr
um sich, als was ihm gleich ist. Allein auf der andren Seite ist dies ein
unvermeidliches, nur daher entspringendes Uebel, dass die Sprache mit
allem übrigen Irrdischen ein vergängliches Daseyn theilt. Denn wenn die
Schrift sie nicht heftet, wenn die Gegenwart nichts hat, als die immer
dunkle und schwankende Ueberlieferung um die Töne der Vorwelt zu
vernehmen, so wird kein Fortschritt festgehalten, und alles läuft in einem
dem Zufall allein überlassenen Kreisgang durch einander. Auch gehören
selten in der Weltgeschichte wiederkehrende Verknüpfungen von Umständen
dazu, wenn es einer Sprache, da sie aus der Alltagsrede des Volks
in ein abgeschiedneres Gebiet der Ideen geborgen wird, nicht an Reinheit,
Adel, und Würde fehlen soll. Ohne also, was gewiss sehr irrig wäre,
das Daseyn, oder den Mangel einer Literatur gerade als das Kennzeichen
anzusehen, das den Einfluss der Sprachen auf die Geistesbildung bestimmte,
kann man doch bei einer Untersuchung, wie die gegenwärtige,
nicht nur die Literaturen der Nationen nicht übergehen, sondern muss
sogar dabei anfangen, das Augenmerk auf sie zu richten, da sie allein
feste und sichere Formen abgeben, in welchen sich der Einfluss der Sprachen
ausprägt, und durch die man ihn sicher beweisen kann. Zugleich
aber muss man allerdings frei von aller, dem Sprachforscher gerade am
wenigsten geziemenden Geringschätzung solcher Sprachen seyn, die vermuthlich
nie eine Literatur besessen haben, noch besitzen werden, und
kann gewiss aus ihnen einen grossen und mächtigen Nutzen auch für
diese Untersuchung ziehen. Denn eine unpartheiische Prüfung wird zeigen,
dass auch scheinbar dürftige und rohe Sprachen reichlichen Stoff zu
feiner und vielseitiger Bildung in sich tragen, der darum, dass er nicht
durch Schriften wirklich ausgebildet wird, nicht ohne Wirkung auf die
Sprechenden bleibt. Denn da das menschliche Gemüth die Wiege, Heimath
und Wohnung der Sprache ist, so gehen unvermerkt, und ihm selbst
verborgen, alle ihre Eigenheiten auf dasselbe über. Auf den hier angedeuteten
Einfluss der Schrift auf die Sprache, der übrigens auch schon vielfältig,
vorzüglich bei Gelegenheit der Aufzeichnung der Homerischen
Gesänge, bemerkt worden ist, werden wir in der Folge noch besonders
zurückkommen. Der Gang mancher Sprachen lässt sich bloss durch diese
Wanderung aus Volks- in Schriftsprache erklären, und wenn man
Montaigne mit Voltaire vergleicht, sollte man meynen, die Sprache einer
Nation sey in die eines Stadtzirkels übergegangen.11

Es giebt noch immer, und nicht wenige Menschen, welche, die Sprache
doch mehr für ein gewissermassen in sich gleichgültiges Werkzeug
haltend, alles, was man von ihrem Charakter behauptet, dem Charakter
der Nation beilegen. Für diese wird in dieser ganzen Untersuchung immer
etwas Schiefes liegen, und nach ihnen wird hier nicht vom Einfluss
der Sprachen, sondern vom Einfluss der Nationen auf ihre eigne Literatur
und Bildung die Rede seyn. Man kann, um diese Ansicht zu widerlegen,
auf die Thatsache aufmerksam machen, dass doch gewisse Sprachformen
dem Geist unläugbar eine gewisse Richtung geben, und ihm
einen gewissen Zwang auflegen, und dass, um in einer wortreichen und
wortarmen dieselben Ideen auszudrücken, man doch wenigstens einen
verschiedenen Gang gehen, und also wenigstens Vorzüge mit Vorzügen
vertauschen muss, was unmöglich ohne allen ferneren Einfluss bleiben
kann. Man kann hernach ferner zeigen, dass…12