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Steinthal, Heymann. Abriss der Sprachwissenschaft. Erster Teil – T01

[Abriss der Sprachwissenschaft I]

Einleitung.

I.
Allgemeine Betrachtungen über das Wesen der wissenschaftlichen
Erkenntniss und über die Aufgabe der Philosophie überhaupt, wie
der Sprachphilosophie insbesondere.

Vor allem ist es wichtig, klar darzulegen, welche besondere
Aufgabe der Sprachphilosophie, gegenüber der historischen
Sprachwissenschaft, gestellt werden kann und muss, und auf
welchem Wege sie solche Aufgabe zu lösen hat. Solche Darlegung
ist aber nicht möglich, ohne die Aufgabe aller Philosophie,
wenn auch nur in den weitesten Umrissen, zu zeichnen;
denn man kann an ihrem Gedanken-Kreise, ohne das Wesen
desselben zu schädigen, keinen Ausschnitt vornehmen, wenn man
dabei nicht unausgesetzt den ganzen Kreis im Auge behält.
Noch mehr aber als der Umfang muss der besondere Charakter
der Philosophie dargestellt werden, weil sich in ihm der Gegensatz
der Philosophie zur Empirie noch bestimmter ausspricht.

Fragen wir also, bevor wir an unsere besondere Aufgabe
gehen: was soll Philosophie? was kann sie? welches dem Menschen
wertvolle Wissen erzeugt sie?

Ziel alles wissenschaftlichen Forschens ist die Erkenntniss
der Zusammenhänge und Verkettungen, auf denen die Erscheinungen
beruhen. So bilden sich in unserm Wissen je nach
den Kreisen verwandter, gleichartiger Wirklichkeiten auch Kreise
von Erkenntnissen, das heißt verschiedene Disciplinen, deren
jede den Grund ihrer Einheit in sich trägt, in ihrem Object
und in ihrer Methode. Den Ordnungen der Dinge und den
Arten ihrer gegenseitigen Abhängigkeit entsprechen Ordnungen
und Entwicklungen von Gedanken und Begriffen: das sind die
empirischen und historischen Wissenschaften.1

Die Philosophie nun, das ist ihre erste Bestimmung, ist die
Erkenntniss des Wesens dieser Zusammenhänge an sich und
im Allgemeinen; und da in der Erfassung dieser Zusammenhänge
alles Wissen liegt, so ist sie das Wissen vom Wesen
und Grunde des Wissens selbst: Wissenschaftslehre. Als solche
hat sie einerseits formale und regulative Bedeutung für die Erkenntniss
und das Forschen; denn sie ist die, alle Schöpfung
von Erkenntnissen und Begriffen begleitende und überwachende
Kritik. Da sie den Gehalt, das Recht und den Wert der
Momente kennt, durch welche die Zusammenhänge gestiftet
werden, so ist sie eben die volle Klarheit über dieses geistige
Tun und dessen Erfolg, und macht so erst das wissenschaftliche
Denken vollkommen zu dem, was es ist oder sein soll.

Andrerseits aber hat sie in jenen Momenten selbst, durch
welche die Zusammenhänge bewirkt werden, d. h. in den Kategorien,
ein besonderes Object der Erkenntniss, einen an sich
höchst wertvollen Gegenstand.

Dieser ihr constitutiver Inhalt wird aber augenblicklich
dadurch erweitert, dass sie, indem sie das Wissen vom Grunde
aller Zusammenhänge ist, sogleich zum Wissen von der Einheit
aller Erkenntnisse, das alle Disciplinen zusammenhaltende Band
wird. Dieses Band ist nicht nur formal und regulativ, d. h.
nicht bloß die Erkenntniss, wie diese Disciplin mit jener dadurch
in Verbindung steht, dass sie sich teilweise derselben Kategorien
und Denkformen bedient; sondern es ist auch constitutiv, d. h.
es bildet selbst eine eigene Art von Erkenntnissen, indem es
einen Inhalt schafft, der den Zusammenhang aller Disciplinen
ausdrückt. Sie ist nicht nur die Methodenlehre, sondern auch
die Encyclopädie und Systematik der Wissenschaften.

Die Philosophie ist demnach die höchste Klarheit und vollkommne
Einheit des Bewusstseins; sie bewirkt die Uebereinstimmung
und das lebendige Zusammenwirken unserer Erkenntniss.
Sie hebt die einzelnen Erwerbungen unserer Untersuchungen
aus der Zerstreutheit und Zufälligkeit, in der sie uns gelungen
sind, und bringt sie in den umfassendsten Zusammenhang, in
welchem sie befruchtet werden und befruchten, in welchem sie
mit ihrer bestimmten Stellung in dem Ganzen erst ihren vollen
Inhalt gewinnen.

So viel sei angedeutet über die erste Bestimmung der Philosophie,
2Wissenschaftslehre zu sein (worüber Weiteres bald
folgen soll). Sie erfüllt dieselbe in der Metaphysik, der
Logik und der Encyclopädie.

Aber nicht nur das theoretische Denken, sondern auch das
praktische Leben der Menschheit ist Gegenstand der Philosophie.
Wie dort die Zusammenhänge der Erkenntniss, sind es hier, in
der Ethik, die Verbindungen der Willen in kleineren und immer
gröſseren Kreisen, ihr Bestand und ihr Gehalt, welche der
Betrachtung unterliegen. — Je gebildeter aber unsere Vorstellungen
von ethischen Sachen sind, je reicher, feiner, geordneter
sie sind: um so sorgfältiger und schärfer wird das Gericht
geübt, das der Mensch über sich selbst hält; aber um so sicherer
wird auch die Herrschaft über plötzliche Aufwallungen und
augenblickliche Erregungen des Gemüts; und wenn so die
tadelnswerte Anwandlung leicht unterdrückt wird, so erhält die
lobenswerte ihre Bestätigung und damit erst ihr entschieden
sittliches Gepräge. So wird die Handlung immer weniger zufällig,
immer weniger gelegentlich; es bildet sich der Charakter,
der überall fest und sicher auftritt, immer einig mit sich. Es
erstarkt und verfeinert sich dann auch der Tact, der in den
Verwickelungen und Zusammenstößen der Lebensrichtungen und
Forderungen unmittelbar das Rechte trifft. So bildet sich eine
Harmonie des Lebens.

Also Harmonie im wissenschaftlichen Erkennen, Harmonie
im Handeln. Ist denn aber der Mensch weiter nichts als Denker
und Arbeiter? Geht darin sein Wesen auf, das All der Dinge
gedanklich zu erfassen und sittliche Zwecke zu verwirklichen?
Und wo bliebe das weite Gebiet des Gemüts?

Wohin die Liebe versetzen? Seinem Mitmenschen wohltun
aus reinem Wohlwollen, wie die Sittlichkeit fordert, ist
doch nicht das, was wir Liebe nennen. Selbst bloßes Wohlwollen
aber ist doch nicht ein kaltes Wollen des Guten, sondern
ist mit Gemütserregung gemischt. Und ferner Spiel?
Wer möchte, wer könnte leben, ohne je zu spielen? Und so
werden wir auch schon an die höchste Form des Spiels erinnert,
an die Kunst. Wenn wir nun bedenken, wie weit und
wie tief die Liebe dringt, wie hoch die Kunst steigt, wie viel
sie umfasst: stehen wir nun nicht schon da, wohin sich zu
stellen der Mensch umsonst widerstreben würde, zumal auch
3schon das kalte Forschen des Geistes schließlich immer dahin
führt — vor der Ahnung des Unendlichen? — Liebe, Spiel,
Kunst ist Freude, und diese erhebt den Menschen. Und wie
der Schmerz? drückt er ihn herab? zerstört er das menschlich
geistige Wesen? macht er es unfrei? wendet er es ab von seinem
geraden, angeborenen Wege ? führt er uns irre ? Im ersten bewältigenden
Augenblicke allerdings. Den Trauernden verlässt
die Prophetie: sagt ein altes jüdisches Wort. Aber soll nun
der Schmerz gar nie zum Geiste des Menschen reden dürfen?
soll jede Sehnsucht, die er weckt, ausgerottet werden? Wenn
das nur möglich wäre! Und wie, wenn dieser Zwillingsbruder
der Freude dasselbe sagt, und dasselbe fordert, wie diese seine
Schwester? wenn beide einstimmig das Unendliche predigen?
So weit wie Liebe und Freude, reicht auch der Schmerz, und
er hat das gleiche Recht wie jene. Man spreche von Zahnschmerz,
habe aber auch Mitgefühl und Verständniss für den
Schmerz eines Faust. Der Name Weltschmerz ist lächerlich
geworden; aber solch' ein Schmerz, der mit diesem Namen
benannt werden könnte, hat von jeher auf allen tiefen, edlen
Gemütern gelastet. Woher stammt der nie zu sättigende Durst
nach Wissen? Noch abgesehen davon, dass durch Kennen unser
Können vermehrt wird, ist das Wissen an sich ein Gut: worauf
beruht das? Woher kommen die Forderungen der Sittlichkeit,
die man doch so wenig erfüllt sieht? woher unser Wunsch
nach der Glückseligkeit Aller, die doch unmöglich ist? Und
wenn der Schmerz bedürftig ist, ist denn Freude und Liebe
weniger bedürftig? Will jener getröstet werden, so will diese
danken, und beide setzen das Unendliche. Denn nur dem
Unendlichen will der Mensch danken und in ihm Trost haben.
Die Kunst umfasst beide und stellt in Freude und Schmerz das
Unendliche dar, und so beruhigt sie und söhnt aus und reinigt
das Gemüt. Und den Wert ihres Tuns und die Wege, welche
sie einschlägt, stellt die allgemeine Ästhetik, die Philosophie
der Kunst dar.

Die Kunst löst ihre Aufgabe spielend, im bloßen Schein.
Dieselbe Versöhnung aber, Beruhigung und Reinigung verlangt
das menschliche Gemüt auch im Ernste; es verlangt das Unendliche,
das Wahre und Gute, zu erfassen nicht nur als abstracten
Schein, als Form, sondern auch als concreten Inhalt
4und volle Wirklichkeit — sonst wird es nicht ruhig.. Solch
ein Bedürfniss ist unabweisbar und ist zugleich eine schöpferische
Macht: es schafft Religion und Religions-Philosophie,
jene für das allgemeine Bewusstsein, diese für die höhere Bildung;
beide nicht in Widerspruch mit einander, sondern indem
diese nur begründet, tiefer und reiner erfasst, was jene schlechthin
ausspricht; beide nicht unwandelbar und nicht fortschrittslos,
sondern menschlich und endlich, wie alles in der Menschheit
Erscheinende, und sich entwickelnd in dem härtesten
Widerspruch, das Unendliche in endlicher Form zu erfassen.

Wie die Religion aus dem Wissen und dem Handeln und
Leiden des Menschen entspringt: so würde auch die Religions-Philosophie
aus den Wissenschaften, namentlich zunächst aus
der Metaphysik, und dann aus der Ethik und Geschichte rein
begrifflich hervorgehen, selbst wenn nicht die positiven Religionen
zu ihr drängten. Dasselbe Bedürfniss, welches im gemeinen
Bewusstsein sich durch Religion befriedigt, würde in viel
höherm Grade, weil bewusster, den Philosophen zur Schöpfung
eines Begriffskreises leiten, der für ihn das leistete, was jenem
die Religion. Tatsächlich zwar erwächst jeder Denker innerhalb
eines Gemein-Bewusstseins und empfängt Religion, die ihm
bald nicht mehr genügt, und darum durch eine andere Betrachtung
ersetzt wird; eben deshalb nennen wir diese: Religionsphilosophie.
In Wahrheit aber würde der Denker zu dieser
geführt, selbst ohne Rücksicht auf eine positive Religion, rein
durch Denken, durch Motive, welche in der Metaphysik und
Ethik und in der inneren Erfahrung liegen. Die Religionsphilosophie
könnte und muss sogar, zunächst wenigstens, von
den positiven Religionen ganz absehen und ihre Aufgabe rein
für sich hinstellen und zu lösen versuchen. Nur wenn sie es
unternimmt, im größten Umfange auch das historische Material,
das auf ihrem Gebiete schon entwickelt ist, d. h. die religiösen
Gedanken, die schon von der Menschheit geschaffen sind, einer
Kritik und Würdigung zu unterwerfen, hat sie auch auf die
positiven Religionen sich einzulassen.

Wir fühlen nicht nur im Wissen und im sittlichen Leben
eine eigentümliche Genugtuung, deren Inhalt und Wert erst die
Religionsphilosophie zu erklären hat; sondern das Wissen, wie
es durch Auffassung der Tatsachen und ihre physikalische und
5psychologische Erklärung gewonnen wird, erklärt sich auch
selbst als unzulänglich zur Beantwortung gewisser Fragen,
welche ihm vom consequenten wissenschaftlichen Denken, das
zu den letzten Gründen drängt, gestellt werden. Die Lebenserfahrungen
und die Kenntniss der Geschichte fügen noch
eigentümliche Probleme hinzu, deren Lösung das Gemüt fordert.
Das sind unabweisbare Bedürfnisse. Die Religion hat sie in
unklarer, voreiliger Form vorausgegriffen und unmittelbar und
in einer dem wissenschaftlichen Denken nicht genügenden Weise
beantwortet. Die Religionsphilosophie wird dies mehrfach zeigen
können; ja sie wird manches Bedürfniss des religiös erregten
Gemüts als unbegründet abweisen. So wird sie aufklärend und
reinigend auf dasselbe wirken. Wesentlich aber bleibt ihre
Aufgabe von der positiven Religion unabhängig. Wenn sie
manches Problem, das die Religion in ihrer Weise gelöst hat,
ganz aus ihrem Kreise ausweist und zur Erledigung den mechanischen
Naturwissenschaften und der Geschichte überlässt:
so wird sie dagegen andre Probleme um so inhaltsreicher hinstellen,
um so schärfer zuspitzen. Zuletzt heißt es: Was ist
der Wert dieses ganzen Seins mit seinen unübersehbaren Verwicklungen
von Stoffen und Kräften? was bedeutet dieser unaufhörliche
Atomen-Wechsel, den wir die Welt nennen? was
liegt an ihm? Und wenn nun dieser Erdball mit all seinem
Leben in Kälte erstarrte und in Staub zerstöbe (gleichgültig, ob
es geschehen kann oder nicht) — was dann ? — Diese Erde —
geschah es denn grundlos, dass man sie ein Jammertal nannte?
Vom Unbestand jedes Glückes wird unaufhörlich gesprochen.
Wer nun darum und weil er denselben erfahren hat, nur zitternd
genießt, nur in Furcht die Freude kostet, denn er fürchtet, der
Zerstörer stehe schon an der Tür — ist der wahnsinnig? Oder
soll das Memento mori ihm nur sagen: carpe diem? — Die
Geschichte der Menschheit — wovon erzählen die meisten ihrer
Blätter? von wie vielen Jahrhunderten des unsäglichsten Elends?
Und bei ihren Berichten von jubelnden Siegen, lesen wir nicht
gleichzeitig zwischen den Zeilen den Jammer der Besiegten?
Ihre Beschreibungen von Glanz und Herlichkeit, weisen sie
nicht zugleich auf die erbarmenswerteste Grundlage, auf der
solcher Glanz und solche Herlichkeit unbarmherzig lastete?
— „Es wird immer besser, von Jahrhundert zu Jahrhundert
6besser” — welch elender Trost! Was haben die leidenden
Väter davon, dass ihre Urenkel sich freuen? Und immer besser
und besser — niemals gut! Nennt es beim rechten Namen:
immer weniger schlecht. Dafür aber wird der Mensch immer
empfindlicher.

Selbst wenn nun die Religionsphilosophie zu dem Ergebniss
kommt, dass all jenem Drängen und Wogen des Gemüts gegenüber,
welches gern in klaren Begriffen zur Ruhe käme, dem
Menschen nur Eins geziemt: Entsagung: so wäre doch ihre
Stellung gesichert. Die Religion gewährt Trost; die Religionsphilosophie
lehrt und fordert vielleicht weiter
nichts, als: sich absolut bescheiden — mag sein; nur
wegzuschaffen ist sie nicht.

Auch ist klar, dass die Philosophie erst durch die Religionsphilosophie
ihre Aufgabe vollständig löst. Indem dieselbe
aus dem gemeinsamen Triebe des theoretischen Wissens, der
Ethik und der Lebenserfahrung hervorgeht, vollendet sie erst
die Einheit und Harmonie des gesammten Bewusstseins. Und
so fassen wir die Wirksamkeit der Philosophie dahin zusammen,
dass sie eine vollkommene Weltanschauung erzeugt, ein allseitiges
Selbstbewusstsein, wahrhafte Bildung, die notwendig
mit der Leuchte des Gedankens auch das Gefühlsleben erhellt
und den Charakter verklärt.

Ist nun mit der Metaphysik und Logik, der Ethik, der
Ästhetik und endlich der Religionsphilosophie die Aufgabe der
Philosophie für die Intelligenz, das tätige Leben und das
Gemüt erschöpft und der Kreis ihrer Untersuchungen ausgemessen:
so dürfte sich wohl in diesem Kreise schwerlich ein
Platz für Sprachphilosophie zeigen. Wir werden den monotheistischen
Gedanken „Gott sprach und es ward” sehr schön,
erhaben finden; aber dies bedingt eben so wenig ein Eintreten
sprachlicher Untersuchungen in die Religionsphilosophie, wie
das Gebet und die Predigt solchen Eintritt bewirkt. Die
Schöpfung der Sprache durch Gott, als besonderer Lehrsatz,
ist kein Glaubensartikel und soll keiner sein. Eben so tritt die
Sprache nicht in die Ethik etwa darum, weil diese fordert, man
dürfe nicht lügen, nicht unsittliche oder unanständige Reden
führen. Nur der Sophistik gegenüber, welche nicht zugestehen
7will, dass der verschleiernde Ausdruck bald sittlich, bald unsittlich
sein kann, je nach der Gelegenheit, hat die Ethik der
Sprachwissenschaft Waffen zu entlehnen. Dass aber endlich
die Grammatik in der Logik oder Metaphysik keinen Platz
findet, wird später noch sehr ausführlich zu zeigen sein.

Es könnte also keine Sprachphilosophie geben, — wenn wir
nicht die Grenzen der Philosophie erweitern; und nun erinnern
wir uns, wie man ja dies längst in neuerer Zeit in Deutschland
getan hat. Indessen gegen diese Erweiterung habe ich mich
entschieden zu erklären, und weil dieselbe auf weit verbreiteten
und auch heute noch, namentlich auch unter den Gegnern der
Philosophie herschenden Irrtümern beruht, so muss ich etwas
ausführlich sein.

Wir sahen soeben, wie die Philosophie dadurch die Zusammenhänge
der Erkenntnisse bewirkt, dass sie die Principien
alles Wissens darlegt. Dagegen hat man gemeint, nicht nur
die Principien, sondern auch den positiven Inhalt aller Erkenntniss
habe sie zu entwickeln, weil die Principien diesen Inhalt
schon in sich schlössen. Denken und Sein nahm man für so
identisch, dass die Principien des Denkens zugleich die des
Seins ausmachen sollten; die logische Entwicklung der Begriffe
laufe also parallel dem Werden der Sachen, der Natur sowohl
als auch der Geschichte. So bestand in der Forderung nicht
nur, sondern auch in vermeintlicher Ausführung eine Philosophie
der Natur und eine Philosophie der Geschichte neben
einer andern sogenannten empirischen Naturwissenschaft und
Geschichte; und wenn auch zugestanden ward, dass die Natur
und der Geist recht wohl empirisch erkannt werden könne und
zunächst sogar nur empirisch erforscht werden müsse, so galt
doch die philosophische Erkenntniss dieser selben Natur und
dieses selben Geistes als die höhere, eigentlich und schließlich
allein befriedigende, weil allein die Gewissheit der Wahrheit
gewährende. Denn da die philosophische Erkenntniss den ganzen
Tatbestand der Natur und Geschichte aus den dem menschlichen
Geist inwohnenden Principien entwickele, erweise sie damit
die Einheit des Denkens, des menschlichen Wesens, mit
der Natur und der Geschichte, und diese Einheit sei das Siegel
der Wahrheit und der Freiheit.

Dieser Dualismus in der Wissenschaft, wonach das All
8und jedes Einzelne im All auf doppeltem Wege, nach doppelter
Methode soll erkannt werden können, ist so fern davon, ein ursprüngliches,
von der Sache selbst gegebenes und erheischtes
Verhältniss darzustellen, dass er vielmehr nur als das Ergebniss
einer langen und vielfach auf Abwege geratenen Entwicklung
zu erklären bleibt. Sein Werden darzulegen ist Aufgabe einer
Geschichte des menschlichen Denkens und kann hier nicht
unternommen werden *)1; aber die Klarheit über den Standpunkt,
den wir einzunehmen haben, wird gewinnen, wenn wir die
durchaus irrtümliche Grundlage näher betrachten, auf der jener
Dualismus beruht. Indem wir erkennen, wie falsch die Voraussetzungen
sind, welche er macht: sehen wir unmittelbar ein,
was die Wahrheit fordert.

Die Begriffe, mit denen man den Gegensatz von Philosophie
und Empirie (oder Historie), Speculation und positiver Wissenschaft
zu bezeichnen pflegt, nämlich: a priori und a posteriori,
synthetisch und analytisch, Syllogismus oder Dialektik oder Deduction
und Induction sind zwar dem Aristotelischen Gedankenkreise
teils entnommen, teils aus ihm entwickelt, haben sich aber
von dem Sinne des Aristoteles **)2 sehr weit entfernt. Indem
wir nun, wie schon gesagt, den Wandel der Bedeutung und
systematischen Stellung jener Termini im Laufe der Jahrhunderte
bei Seite lassen, wollen wir nur zeigen, wie haltlos die Gegensätze
sind, in welche man sie gebracht hat. Wenn sich aber
der dreigestaltige Gegensatz zwischen jenen Begriffen auflöst,
welche die Grundlage für die Unterscheidung der Philosophie
und Empirie hergeben sollen, so ist damit der Dualismus von
philosophischer und empirischer Erkenntniss eines und desselben
Gegenstandes aufgehoben.

Nicht das ist zu leugnen, dass a priori und a posteriori,
Synthesis und Analysis, Syllogismus und Induction drei wahre
Gegensätze bilden; aber gerade weil sie Gegensätze sind, darum
sind sie, jedes für sich genommen, nur abstracte Momente,
welche in ihrer Isolirtheit niemals wirklich auftreten, sondern
nur je eins mit dem andern verflochten zusammenwirken. Wir
9können in jedem Erkenntnissprocess ein doppeltes Moment, zwei
Factoren, unterscheiden: einen apriorischen und einen aposteriorischen
Factor, eine Synthesis und eine Analysis; aber was wir
bei der Betrachtung dieses Processes bloß begrifflich unterscheiden,
darf nicht so aus einander gerissen werden, dass wir
jedem einzelnen der beiden Factoren oder Seiten des Processes
das aufbürden, was nur beide in gesetzmäßigem Zusammenwirken
leisten, die Schöpfung einer Erkenntniss. Denn jede
Erkenntniss, sei sie die höchste oder niedrigste, die verwickeltste
oder einfachste, ist ein Process, und ein solcher findet überhaupt
und notwendig nach dem allgemeinen metaphysischen Gesetz
für alles Geschehene nur unter mindestens zwei Factoren statt.
Es kann kein Druck entstehen ohne Drückendes und Gedrücktes,
und letzteres übt allemal einen Gegendruck. Eben so verhält
es sich mit Stoß, Reibung, Anziehung. Wir können nun allemal
den einen Factor im Process der Bildung einer Erkenntniss als
den apriorischen, den andern als den aposteriorischen bezeichnen,
und die Bewegung des Zusammenwirkens oder der Vereinigung
beider zeigt allemal zwei Seiten, eine synthetische und eine analytische.
Und also ist jede Erkenntniss zugleich apriorisch und
aposteriorisch, synthetisch und analytisch; und es ist unmöglich,
dass nur durch einen Factor, sei es dieser oder jener, etwas
erkannt werde. Durch Auslösung des einen Momentes wird der
ganze Process zerstört und auch das andre Moment untätig
gemacht. Dies werde noch etwas näher dargelegt.

Bleiben wir zunächst bei dem ersten Gegensatze stehen.
In der ursprünglichsten Gestalt tritt er in der einfachsten Erkenntniss.
auf, in der Empfindung. Hier ist das Äußere, das
Element der Natur, das auf unsere Sinne wirkt (z. B. Luft,
Äther), das aposteriorische, die Seele oder die Fähigkeit des
Bewusstseins schlechthin oder das Sinnes-Organ das apriorische
Moment; aus dem Zusammenwirken beider, dem Reize des
Elements und der Gegenwirkung des aufnehmenden Bewusstseins,
entsteht die Empfindung eines bestimmten Tones, einer
bestimmten Farbe. Man sieht sogleich hier, wie aposteriori das
uns Fremde, das Aufzunehmende, apriori dagegen unser Eigentum
heißt, welches wir zur Erkenntniss hinzubringen. Obwohl
jene Termini nicht aus dieser Einsicht geschaffen sind, so passen
sie doch, und wir dürfen sie so verwerten. Das uns Eigene
10ist doch gewissermaßen das Frühere; das uns Fremde tritt erst
an uns heran, ist erst ein Zweites, Späteres. Schon hier sieht
man auch, wie das apriorische Moment das wichtigere, mächtigere,
eigentlich schöpferische ist. Wir würden freilich ohne
die schwingende Luft und den schwingenden Äther weder
Ton noch Farbe haben; aber dass aus Luftwellen ein Ton, aus
erzitterndem Äther eine Farbe entsteht, das bewirkt nicht Luft
und Äther, sondern das gemäß seiner eigensten Natur entgegenwirkende
und in dieser Gegenwirkung schöpferische Bewusstsein.
Auch der Erfolg des Reizes eines Äuſsern auf ein
andres Äuſsere wird ja nicht bloß durch die Natur des Reizenden,
sondern zugleich auch des Gereizten bestimmt. Die Bewegung,
welche ein Körper durch einen Stoß erhält, hängt
nicht bloß von der Kraft und Richtung des Stoßes ab, sondern
zugleich von den Beschaffenheiten und der Lage des gestoßenen
Körpers. Wie sollte also nicht der Anstoß, den das Bewusstsein
vom Äußern erfährt, in seiner Wirkung von der Natur des
Bewusstseins bedingt werden.

Solche Empfindungen einfachster Art bilden den ersten
Besitz unseres Geistes, und aus ihnen wächst der Geist eines
Aristoteles, Leibniz und der intellectuell umfassendsten und höchsten
Männer hervor, noch lange und genau genommen für immer
unter Mitwirkung der äußern Reize und Anregungen, des
Aposteriorischen, aber in noch bedeutsamerer Weise in Formen
und mit Hülfe von Factoren, welche das Bewusstsein bei jeder
einzelnen Phase dieses Wachstums erst nach eigenstem Wesen
schafft. Diese Momente sind die Formen unseres Anschauens
und Denkens und die Kategorien der Begriffe, und wir können
sie ganz eigentlich als die apriorischen Momente unserer intellectuellen
Tätigkeit ansehen, da sie eben lediglich aus uns
stammen. Nur unter Mitwirkung beider Momente, der äußern
Reize und der innern Formen, entstehen zunächst die Anschauungen
von den einzelnen Dingen im Räume und von
räumlichen Verhältnissen, wie das Bewusstsein des Kindes sie
bildet, und worüber der Ungebildete nur wenig hinausgeht.
Aber es ist wohl daran zu erinnern, dass, wie die Physiologen
genau wissen, zwischen der Bildung jener einfachsten Empfindungen
von Licht und Schall u. s. w. und der Auffassung eines
Dinges als eines räumlich gestalteten ein weiter Weg liegt.
11Man darf nicht meinen, die Dinge und die räumlichen Verhältnisse
der Dinge, ihre Formen, ihre Stellung neben, über, unter
einander, ihre Entfernungen, träten als Bilder fertig in unser
Bewusstsein, wie sie in einen Spiegel fallen. Das Bewusstsein
ist absolut verschieden vom Spiegel und mit diesem kaum vergleichbar.
Das Bewusstsein nimmt keinen äußern Reiz auf,
ohne ihn zu gestalten nach eigenem Maße. Gilt dies schon
von dem elementaren Reiz, so muss man, diese Gestaltungskraft
in noch höherem Grade anerkennend, sagen, dass das Bild eines
Dinges vom Bewusstsein in voller Selbsttätigkeit aus den primären
Empfindungen erst zusammengesetzt wird. Freilich verfährt
es bei dieser Zusammensetzung ebenfalls nicht frei und
nicht bloß aus sich, nicht bloß apriorisch, sondern unter Einfluss
und nach Maßgabe des Äußern, also aposteriorisch; aber dieser
Einfluss, diese Abhängigkeit des Bewusstseins von den realen
Bestimmtheiten, hebt seine Tätigkeit nicht auf. Wir wissen von
Seiendem, Wirklichem, Objectivem nur insofern und wie unser
Bewusstsein solches schafft. Nicht nur das, was wir als Qualitäten
der Materie erkennen, sind Bestimmungen unserer Sinnesorgane;
sondern auch alle räumlichen Formen oder die Eigenschaft
der Dinge, räumlich ausgedehnt zu sein, räumliche Formen
zu haben, ist durchaus ein Erzeugniss unseres Bewusstseins,
also apriorisch, obwohl nicht nur notwendig, unausweichlich,
sondern auch durchaus nach Maßgabe realer, objectiver, also
aposteriorischer Bestimmtheiten. Das alles setzt die neuere
Physiologie außer allem Zweifel. Der Mensch sieht nicht von
Natur, sondern von Geist, d. h. er lernt allmählich sehen, er
lernt Bewegungen, Entfernungen, Formen kennen. Lernen
aber ist nicht ein unmittelbares Auffassen, sondern ein Aneignen
durch mehrfache Vermittlung, durch Combinirung. Verschiedenheit
der Eindrücke auf die Netzhaut des Auges, Bewegungen
des Auges, der Hand, des Leibes werden, zusammengefasst zur
Bildung räumlicher Warnehmungen. Nur solche Empfindungen
empfangen wir von außen; sie sind das Aposteriorische im
eigentlichen Sinne. Ihre Combinirung und Deutung oder Versetzung
in die Außenwelt, also die Bildung von Gegenständen
aus den Empfindungen ist apriorisch, d. h. Tat des Bewusstseins,
und zwar schon eine sehr verwickelte, eine vielfach von
apriorischer und aposteriorischer Bewegung zusammengeflochtene.
12Aus Lichtreizen ein Ding erkennen, ist die Tat nicht des Auges,
sondern der Intelligenz.

Es ist hier nicht der Ort, auch nur in Umrissen die Entwicklung
des Bewusstseins zu verfolgen. Für unseren Zweck,
den Nachweis zu geben, dass sich jeder Act der Erkenntniss,
jeder Schritt der Entwickelung des Bewusstseins mit Hülfe eines
apriorischen und eines aposteriorischen Factors vollzieht, könnte
das Gesagte genügen. Doch mögen noch folgende Andeutungen
gegeben sein. Sind Anschauungen von Dingen gebildet, so ist
das Wiedererkennen desselben Dinges als desselben gewiss nicht
ohne apriorische Seite. Denn um ein Ding als ein schon bekanntes
zu erkennen, muss der gegenwärtigen Auffassung desselben
als dem aposteriorischen Momente eine innere Tätigkeit,
eine Erinnerung, als apriorisches Moment entgegentreten, und
durch das Zusammenwirken beider Momente vollzieht sich der
Process der Vergleichung und Identificirung. — Nun gar die Vorstellung
eines Dinges als eines solchen, d. h. als eines dauernden
Trägers von Eigenschaften, ist doch wahrlich schon sehr fern
davon, rein empirisch zu sein. Denn wenn wir auch die Berechtigung,
von dauernden Dingen zu reden, erst durch die Erfahrung
erlangen, welche uns zeigt, wie sich ein einheitlicher
Grund durch eine Entwicklung von Vorgängen hindurchzieht:
wie viel beziehende, vergleichende Tätigkeit wird erfordert, um
die Gleichheit und die Ungleichheit des Wiedererkannten mit
sich selbst, welche es in den verschiedenen Zeitpunkten zeigt,
aufzufinden; und ist Beziehen und Vergleichen nicht etwas durchaus
Apriorisches, Tätigkeit des Bewusstseins an einem geeigneten
aposteriorischen Material? Und wenn die Identificirung
des doch teilweise Veränderten nur möglich ist, indem eine
Einheit in der Mannichfaltigkeit gesetzt, und wenn noch weiter
die Einheit als Grund oder auch nur als Träger von Veränderungen
gefasst wird, sind nicht solche Einheit, Veränderung,
Träger, Grund schon geradezu Kategorien, welche Gegenstand
der Metaphysik sind, und welche das Bewusstsein lediglich aus
sich nimmt? Die Erfahrung kann solche Kategorien niemals
und in keiner Weise geben: diese gestalten erst eine Erfahrung;
und die mögliche Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit in
der Anwendung der Kategorien verbürgt uns ihre Wahrheit
und Berechtigung:13

Darauf also beruht der Fortschritt in der Entwicklung des
Bewusstseins, dass jedes Gebilde des Bewusstseins, das immer aus
einem apriorischen und einem aposteriorischen Momente besteht,
nun weiter als ein bloß aposteriorischer Factor, allein oder mit
anderm Aposteriorischen, in Verbindung treten kann mit einem
aus dem Bewusstsein geholten apriorischen Factor, und dass
das so gewordene neue Erzeugniss abermals als aposteriorischer
Stoff, als Gegebenes, Vorliegendes mit einem noch bedeutsamern
apriorischen Momente combinirt und noch höher gestaltet
werden kann. Anders ausgedrückt: jede Erkenntniss kann Mittel
einer neuen, höhern Erkenntniss werden durch Combination mit
andern Elementen. Abgesehen also von den Empfindungsreizen,
welche nur als aposteriorischer Factor auftreten können, und
andrerseits abgesehen von den höchsten Kategorien, welche umgekehrt
nur als apriorisches Moment wirken können, kann jede
zwischen diesen Gränzen liegende Erkenntniss bald apriorisch,
bald aposteriorisch wirken und sind also nur im Process vergleichsweise
dieses oder jenes.

Man hat gefragt: warum bewegt sich unser Denken in der
Form des Urteils? Die Antwort ist, weil jeder Denkact die
Combinirung eines apriorischen und aposteriorischen Moments
ist; es ist nämlich das Subject das aposteriorische, das Prädicat
das apriorische, d. h. das vergleichsweise ältere, also mehr
innerliche, dem Bewusstsein mehr angehörige, bekanntere Moment,
wenn es nicht schon eine rein dem Bewusstsein entsprossene,
metaphysische Kategorie ist. Subsumtion des Einzelnen
unter das Allgemeinere, mathematische Gleichsetzung,
Beziehung einer Eigenschaft auf ein Ding, einer Wirkung auf
eine Ursache, Messen einer Leistung an einem Maßstabe nach
Richtigkeit, Schönheit, Güte — überall ist Gestaltung eines
Aposteriorischen durch Apriorisches.

Es ist noch ein Missverständniss abzuweisen. Von den
reinen metaphysischen Kategorien, wie Ding, Wesen, Grund,
Kraft u. s. w. wird zwar behauptet, dass sie rein und ausschliesslich
dem Bewusstsein gehören, welches sie aus eigenstem
Wesen schafft, wie auch die logischen Denkformen. Das ist
nun aber eben nicht so zu verstehen, als ob diese Kategorien
und Formen schon ursprünglich irgendwie fertig im Bewusstsein
lägen; sondern erst je nach innerm Bedürfniss, im Drange, das
14Gegebene wahrhaft zu erfassen, mit dem Aposteriorischen ringend,
sich an ihm messend, erzeugt das Bewusstsein dieselben
allmählich im Laufe der Entwickelung des Wissens. Also am
Gegebenen, aber aus sich selbst holt das Bewusstsein die reine
Form; nicht ohne Gegebenes, aber nicht durch dasselbe und
nicht aus ihm gewinnt der Denker die Kategorie; sondern dieselbe
zum Vorliegenden, zum Aposteriorischen hinzuschaffend,
bildet er sich die Erfahrung, ein Object. Das Gewinnen und
das Anwenden der Kategorie geschieht in einem und demselben
Acte. Der Mensch macht Erfahrung, indem er zu einem aposteriorisch
Gegebenen die Kategorie hinzudichtet, mit welcher als
dem apriorischen Organ er jenes auffasst. Geht das Gegebene
widerspruchslos in der Kategorie auf, bestätigt sich das hieraus
gewonnene Wissens-Ergebniss wiederholt und allseitig: so ist
die Erfahrung richtig gebildet, es war das geeignete apriorische
Organ dazu geschaffen, es ist ein wahres Object, eine richtige
Tatsache.

So steht nun wohl fest, dass es unmöglich eine objective
Wissenschaft geben kann, die nur aposteriorische Erkenntniss
enthielte, da gar keine Erfahrung ohne apriorische Factoren
möglich ist; und andrerseits kann und muss zwar die reine
Kategorie und Denkform an sich, abgelöst von jedem besondern
Gehalt, Gegenstand einer Betrachtung werden, wie in der Metaphysik
und Logik geschieht; aber es kann lediglich aus ihnen
und bloß durch sie ohne Hülfe aposteriorischer Momente keine
objective Erkenntniss, keine Erkenntniss der Objecte oder der
Außenwelt gewonnen werden. Die rein apriorischen Elemente
mag man die Formen unserer Erkenntniss nennen; alles was
aposteriorisch auftreten kann, und insofern es dies tut, mag
Stoff heißen, so ist klar: aus dem Apriorischen kann nichts
Aposteriorisches, aus der Form kein Stoff gewonnen werden.
Denn es kann überhaupt aus Einem nicht ein Zweites, wohl
aber aus Zweien ein Drittes werden. Wie sehr man also Kategorien
und Denkformen von allen Seiten betrachte, man kann
hiermit nur eine Erkenntniss vom Innern, vom Wesen des Bewusstseins
erlangen. Weder kann einerseits die Philosophie,
als Betrachtung der rein apriorischen Factoren, das Reich der
Dinge erforschen, so wenig wie durch Geometrie das Mineral-Reich
erkannt wird; noch auch kann andrerseits eine empirische
15Wissenschaft bestehen, die nicht bis in ihre letzten Teile von
apriorischen Momenten durchwoben wäre. Keine Wissenschaft,
welche wirklich Seiendes erforscht, die Natur oder die Geschichte
darstellen will, kann rein constructiv oder speculativ sein, und
keine kann ohne Construction, ohne Speculation sein. Tatsachen
sind nie gegeben, sondern werden aus Gegebenem und Apriorischem
zusammengenommen gestaltet.

An diese Betrachtung der Termini a priori und a posteriori
knüpft sich noch ein anderer Punkt, nämlich die Behauptung,
nur dem durch apriorische Construction Erkannten wohne der
Charakter der Notwendigkeit inne, während er dem empirisch
Erkannten fehle. Ein Blick auf die zwingende Notwendigkeit
der von unserer Physik festgestellten Tatsachen genügt, um die
Unrichtigkeit dieser Behauptung zu erkennen; ja, es muss Verwunderung
erregen, wie sie überhaupt nur aufgestellt werden
konnte. Um dies zu verstehen, sind zwei Punkte zu beachten.
Einerseits nämlich hat man sich zu erinnern, dass alle hierher
gehörigen Termini wesentlich von Aristoteles entlehnt sind; der
aber kannte zu seiner Zeit noch keine exacte empirische Wissenschaft,
deren Lehrsätze Notwendigkeiten enthielten. Als sich
aber unsere Physik entwickelte, da (und dies ist der zweite
Punkt) änderte sich mit dem Umschwunge des wissenschaftlichen
Geistes auch die Bedeutung jener Termini. Der Physik
des Galilei und seiner Nachfolger trat Cartesius gegenüber
mit einer neuen Ansicht von der Aufgabe der Philosophie.
Von jetzt ab verstand der Philosoph etwas ganz anderes
unter Notwendigkeit, als der Empiriker und als Aristoteles.
Dieser würde sich vor unserer heutigen Physik beugen als vor
dem Ideal einer nach seiner Ansicht apriorischen, mit vollster
Notwendigkeit bekleideten Erkenntniss der Natur. Denn hier
wird alles aus Ursachen erklärt und mit solcher Sicherheit, dass
man, wenn gewisse Bedingungen vorliegen, mit größter Zuversicht
den Erfolg voraus (a priori) sagen kann. Wo der Physiker
ein Gesetz, ein Causalitäts-Verhältniss erkannt hat, da hat
er eine Notwendigkeit des Werdens oder Geschehens erkannt.
Der neuere Philosoph dagegen ist gar nicht darum bemüht,
Wirkungen aus Ursachen zu erklären; er will alles aus dem
Geiste, der Idee, begreifen, und notwendig heißt ihm das, was
er als Moment oder Entwicklungsstufe der Idee nachweisen
16kann, unbekümmert um die Existenzform in der Wirklichkeit.
Die Idee entlässt das All aus sich, gibt sich in den Dingen
Wirklichkeit; und die Frage ist nun: welche Stellung nimmt
jedes Ding ein in diesem unendlichen Processe der Selbstverwirklichung
der Idee? Daraus fließt jedem Wesen seine
Notwendigkeit zu, dass es in diesem Processe eine bestimmte
Function, Bedeutung hat, und aus dieser seiner Bedeutung als
einer höhern oder niedern Darstellung der Idee ergibt sich sein
Wert. Während also die Betrachtung des Naturforschers genetisch
ist, kann man die der neueren Philosophie als ästhetisch,
wertschätzend bezeichnen.

Wir kommen zu dem vermeintlichen Gegensätze einer synthetischen
und einer analytischen Methode; die analytische, sagt
man, steige vom Einzelnen hinauf zum Allgemeinen, die synthetische
vom Allgemeinen hinab zum Einzelnen. Auch hiermit
hat man Zusammengehöriges aus einander gerissen. Wie bei
dem Zustandekommen jeder Erkenntniss ein apriorischer und
ein aposteriorischer Factor mitgewirkt hat, so hat der Process
denkender Auffassung auch allemal zwei Seiten; er schließt eine
Doppelbewegung in sich, insofern er das Zusammengehen zweier
Momente zu einem Dritten enthält. Je nach dem Gesichtspunkte,
unter welchem diese Bewegung betrachtet wird, erscheint
sie als synthetisch oder als analytisch, während sie allemal beides
zugleich ist. Wer den menschlichen Körper secirt, irgend eine
Maschine in ihre Teile zerlegt, der erkennt eben im Zerlegen
die Zusammensetzung des Gegenstandes; und ebenso begreift man
das Gefüge eines zusammengesetzten gedanklichen Inhalts durch
Auflösung desselben: verfährt man da synthetisch? oder analytisch?
oder nicht vielmehr beides zugleich, in der Analyse synthetisch?

Jeder Act der Erkenntniss setzt ein Besonderes in einem
Allgemeinen, aber nicht etwa so, als wäre das Allgemeine ein
gegebenes, bereit liegendes Fachwerk, in welches ein Einzelnes
gelegt würde; sondern so, dass eben erst durch die Erkenntniss
das Allgemeine selbst geschaffen und damit zugleich das Besondere
erfasst wird; und beides ist nur der eine, wohl wissenschaftlich
analysirbare, aber tatsächlich unteilbare Act. Dies
bewährt sich schon an der niedrigsten eigentlichen Erkenntniss,
wie sie sich in der Wortbildung, in der Benennung eines Dinges,
17also auch in der Aneignung eines Wortes durch das Kind ausspricht.
Wer zuerst eine Höhle, ϰύ-τ-ος, caulae, als solche benannte,
d. h. als solche erfasste, der musste die vorliegende
Erscheinung mit andern hohlen Dingen, deren er sich in diesem
Augenblicke erinnerte (hohle Baumstämme, Stengel, ϰαυλόϛ, caulis,
Bauch), zusammenfassen; und gerade, indem er so ein Allgemeines
bildete, erfasste er jedes darunter gefasste Einzelne und
auch die vorliegende Warnehmung. Man hatte mancherlei Dinge
gesehen, welche irgend eine Eigenschaft, und gerade eine charakteristische,
gemeinsam haben; aber noch hatte man diese
Eigenschaft nicht herausgehoben, noch nicht zum Gegenstande
einer besondern Vorstellung gemacht, und eben darum auch
die Aehnlichkeit jener Dinge in Bezug auf diese Eigenschaft
oder durch dieselbe nicht beachtet. Nun geschieht es in einem
Augenblicke, wo eine Warnehmung geboten wird, welche gerade
diese Eigenschaft recht auffallend an sich trägt. Da schießen
die Vorstellungen von allen jenen Dingen, welche diese Eigenschaft
an sich tragen, an einander und krystallisiren sich zu
der allgemeinen Vorstellung dieser Eigenschaft. Dieses Zusammenfassen
ist Synthesis; aber damit zugleich ist die Analysis,
die Auslösung dieser Eigenschaft aus den Verbänden von Eigenschaften
gegeben, welche jene Dinge bilden. Und so ist es
überhaupt unmöglich, etwas Besonderes, etwa eine Farben-Schattirung,
einen Geschmack, in andrer Weise denkend zu
erfassen, sprachlich zu bezeichnen, als gerade dadurch, dass
man das Allgemeine bildet, worunter jenes Besondre gefasst
werden kann. Erst wenn mehrere Pferde als einander gleich
synthetisch zusammengefasst und aus der großen Anzahl bekannter
Tiere analytisch herausgehoben werden, wird das einzelne
Pferd als Pferd erkannt, und diese drei Acte sind nur einer.
Ebenso: erst wenn viele grünfarbige Dinge bezüglich ihrer
Farbe als gleich erkannt und im Gegensatze zu anders gefärbten
Dingen zusammengefasst sind, ist die grüne Farbe allgemein
und das einzelne grüne Ding als grün erfasst; und wer nun
eine Besonderheit dieses Grün an einem einzelnen Dinge herausheben
will aus dem allgemeinen Grün, der muss erst innerhalb
dieser Allgemeinheit wiederum eine neue, engere Allgemeinheit
bilden, indem er das vorliegende Einzelne mit einem Teil des
weitern Allgemeinen zusammenfasst, etwa mit dem Grase, wodurch
18er die Schattirung „grasgrün” bildet. Ebenso aber, wie
die Bildung des Allgemeinen und die Erfassung des Einzelnen
sich in einem Acte vollziehen, so ist auch jene wie diese sowohl
synthetisch als analytisch und ist eben das Eine nur durch
das Andre. Denn die Zusammenfassung des vorliegenden Einzelnen
mit andern, erinnerten Einzelnen ist nur möglich, indem
aus dem Complex von Merkmalen, als welcher jede dieser
Einzelheiten erscheint, die gemeinsamen Merkmale ausgelöst
werden; diese Auslösung aber andrerseits vollzieht sich gerade
durch jene Zusammenfassung. Synthesis und Analysis scheinen
sich gegenseitig zu bewirken; in Wahrheit sind sie nur ein Act,
der so oder so angesehen werden kann. Ebenso verhält es sich
mit der höheren wissenschaftlichen Erkenntniss. Wundt, Menschen-
und Tierseele (I. 435) behauptet: „Die Synthese” (d. h.
die Induction) *)3 „ist der schöpferische Act in unserem Erkenntnissprocess.
Wo wir aus gegebenen Erkenntnisselementen neue
construiren, da geschieht dies nie anders, als auf dem Wege
der Synthese, und die Analyse, so unerlässlich sie für die systematische
Erkenntniss ist, kann doch nie mehr leisten, als dass
sie die von der Synthese gelieferten Producte zergliedert und
ordnet.” Aber die Beispiele, die Wundt anführt, lehren etwas
anderes. Es bilde sich in uns zuerst, bemerkt er, ein Verein
gleichartiger Tatsachen, wie z. B. Vorstellungen von Steinen,
welche gegen die Erde fallen. Zunächst ist die hier vorliegende
Verbindung der Vorstellung des fallenden Steines mit der Vorstellung
der Erde eine rein äußerliche. Nun strebt man weiter
danach, den Grund dieser Verbindung aufzufinden. Dies werde
dadurch geleistet, „dass man eine Mehrzahl solcher Vorstellungsvereine
gleicher Art zusammennimmt und das ihnen Gemeinsame
herausgreift. Man kann diese Tätigkeit als Synthese bezeichnen.”
Das kann man freilich, insofern das in mehreren Erscheinungen
Gemeinsame zusammengefasst wird. Aber muss nicht das Gemeinsame,
bevor es zusammengefasst werden kann, aus der
ganzen Menge der Momente, welche in den Erscheinungen gegeben
sind, herausgegriffen sein? Oder ist es so leicht, um
beim angeführten Beispiel zu bleiben, aus den einzelnen Beobachtungen
fallender Steine, wobei die Fallhöhe und die Geschwindigkeit
19sich verschieden zeigt, das Gemeinsame analytisch
auszusondern, um danach synthetisch das Gesetz des freien Falles
zu begreifen? Gerade erst, indem das Gesetz gefunden wird,
wird das Gemeinsame erkannt; so lange das Gesetz unerkannt
bleibt, ist auch das Gemeinsame noch nicht gesehen. Was der
fallende Stein mit der um die Sonne kreisenden Erde gemeinsam
hat, wurde eben in dem Augenblicke erkannt, als man das
Gesetz der Attraction aufgefunden hatte.

Die Vorstellung einer einseitig synthetischen oder einseitig
analytischen Methode beruht aber ursprünglich auf einem viel
tiefer liegenden Irrtum, nämlich auf der Annahme, als wären
die Begriffe, welche dem All entsprechen, in irgend einer Form
Existenzen, in deren Besitz sich der Geist zu setzen habe, die
wir ergreifen, uns aneignen können. Man verkannte völlig, dass
die Begriffe vielmehr nur in unserm Bewusstsein erzeugt werden
müssen. Die Erkenntniss ist nicht eine Tat der Aneignung,
sondern der Schöpfung. Indem man nun die Begriffe als existirend,
vorhanden betrachtete, sah man sie sogleich in einer
nach dem logischen Verhältnisse ihrer Allgemeinheit und Besonderheit
gebildeten Rangordnung aufgestellt. Der nächst allgemeinere
Begriff stand immer eine Stufe höher als der nächst
besondere. So bilden sie eine Stufenleiter, welche der zu besteigen
hat, der sie erfassen will; und nun meinte man, man
könne auf dieser Leiter ebensowol synthetisch von der Spitze
hinab, als analytisch von dem Fuße hinauf steigen. Je weniger
man den Formalismus der Logik erkannte, je fester man im
Objectivismus verharrte, um so mehr gestaltete sich jenes Begriffsschema,
das die Welt bedeutete, zur mystischen Emanationstheorie.
Schon Aristoteles macht den Anfang hiezu. Auch er
hypostasirte schon die Begriffe und nahm sie für die Objecte
selbst; ja, er sah in ihnen die das All schaffenden Mächte. Der
je höhere Begriff habe auch immer mehr Wesenhaftigkeit (οὐσίαν),
stehe der schaffenden Urkraft der Natur näher, und der weiteste
Begriff erzeuge ebendarum die engeren, weniger Wesenhaftigkeit
enthaltenden, sich von der Natur immer weiter entfernenden Begriffe.
Je enger ein Begriff, desto weniger Zeugungskraft habe
er, die jedem aus dem obersten zufließe und im sinnlich Einzelnen
ende. Wir haben hier das Bild eines Stromes, der in
ausserordentlich vielen Verzweigungen immer schmäler wird und
20endlich versiecht. Diese Anschauung setzt sich fort in der
Stoa und dann bei den Neuplatonikern; so nimmt sie dann auch
der christliche Philosoph des Mittelalters auf. Auch die dialektische
Methode Hegels tritt nicht aus diesem Kreise heraus.
Sie ist wesentlich Analysis, ϑέωσιϛ hoc est deiftcatio, wie Scotus
Erigena im 9. Jh. n. Chr. sie nennt. Nur schreitet er nicht
durch Induction und Abstraction vor; es werden nicht die
mannichfachen Besonderheiten, Arten, eines Allgemeinern, einer
Gattung so zusammengefasst, dass dies ihnen allen Gemeinsame
ausgelöst und dieses als der höhere Begriff, als die seine Besonderheiten
umfassende Allgemeinheit hingestellt würde; sondern
er springt von einer Besonderheit zu einer andern desselben
Gattungsbegriffes über, zeigt ihren Gegensatz auf, und
wie sie in dem höhern, sie umfassenden Gattungsbegriff ihre
Einheit, die Auflösung ihres Gegensatzes finden. Es sei z der
höhere Begriff, v und w seien dessen Specificationen: so zeigt
die Dialektik von v ausgehend den Gegensatz zwischen ihm
und w und die Ausgleichung dieses Gegensatzes in z. Das ist
eine etwas versteckte Analysis; versteckt dadurch, dass die Induction
mangelhaft und die Abstraction unrein bleibt. Auch
Hegels Philosophie ist wesentlich Scholastik, wenn der Charakter
der Scholastik darin besteht, an und mit fertigen Begriffen
zu operiren, Begriffe zu spalten und wieder zusammenzufassen,
statt die Sache zu untersuchen. Denn auch für ihn
steht die Begriffsleiter fest, nur ist der Gang gekünstelter. Die
Dialektik soll uns von einer Sprosse oder Stufe zur andern
heben, oder die eine Begriffssprosse hebt sich selbst dialektisch
zur andern empor.

Die mittelalterliche Scholastik hat Baco von Verulam verurteilt;
die neuere und neueste hat Kant gerichtet, indem er
zugleich den Wahn einer rein empirischen Wissenschaft zerstörte.
Er wies darauf hin, dass einerseits unsere Erfahrung
ohne apriorische Momente sich gar nicht vollführen kann, dass
aber andrerseits aus den letztern allein das nicht gezogen werden
kann, was uns notwendig als Empfindungsstoff gegeben
sein muss. Wir haben dies nur dahin zu ergänzen, dass auch
die apriorischen Formen des Denkens und der Anschauung, wie
die Kategorien des Verstandes, nicht ruhig in uns als gegeben
vorhanden sind, sondern erst im Laufe der Entwickelung unseres
21Geistes gegenüber dem spröden Erfahrungsstoffe herausgearbeitet
werden. Diese Arbeit, die Kategorien der Metaphysik zu schaffen,
ist eine geschichtlich menschheitliche, welche jeder Einzelne in
sich zu wiederholen hat.

Das bisher Dargelegte fassen wir dahin zusammen: alle
unsere Erkenntniss vom natürlichen und geistigen Geschehen
beruht auf einer Verflechtung apriorischer und aposteriorischer
Elemente. Die Philosophie nun ist die Betrachtung jener apriorischen
Elemente unserer Erkenntniss an sich. Und hier ist
der Ort, wo sich eine Erweiterung ihrer Aufgabe leicht begreifen
lässt. Sie betrachtet, wie wir oben sahen, die obersten
Principien, Kategorien, Maximen, Denkformen; so ist sie in
der Metaphysik und Logik allgemeine Erkenntnisslehre. Damit
aber hat sie den Bereich der apriorischen Elemente unserer
Erkenntnisse keineswegs erschöpft. Denn außer jenen allgemeinsten,
in jeder Wissenschaft angewandten Principien und
Formen bedarf jede besondere Disciplin ihrer besondern apriorischen
Momente, welche in enger Verbindung mit ihrem Gegenstande
und ihrer Aufgabe stehen; und die allgemeinen metaphysischen
Kategorien müssen je nach der Natur des besonderen
Kreises von Objecten, auf den sie angewandt werden sollen,
bestimmter, enger gefasst werden. So entstehen im Anschluss
an Metaphysik und Logik, und diese mit der Erkenntniss des
Einzelnen vermittelnd, die Philosophie der Natur und die der
Geschichte, und so auch die Philosophie der Sprache, als diejenigen
Disciplinen, welche die besonderen apriorischen Momente
der Naturwissenschaften, der Geschichte und der Sprachwissenschaft
untersuchen. Sie sind Principien- und Methoden-Lehren,
indem sie die regulativen und die constitutiven Principien der
besonderen Disciplinen darlegen. *)4 Erst so vollendet die Philosophie
ihre Aufgabe, die Lehre von den Zusammenhängen zu
sein und die Einheit alles Wissens zu vermitteln.

Die beobachtende und experimentirende Naturwissenschaft,
und durchaus nicht minder die kritisch sichtende Geschichtsforschung,
namentlich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft,
hat im letzten Menschenalter eine so volle, reiche Entwicklung
22gewonnen, dass es heute weniger not tut, die Geister
an das Sachliche zu weisen, von unfruchtbarer Speculation abzurufen,
als vielmehr daran zu erinnern, dass es mit dem besten
Willen, sich der Sache, dem Object hinzugeben, noch nicht
abgetan ist; dass es, um nicht durch falsche Abstractionen in
Irrtümer zu geraten, von entscheidender Wichtigkeit ist, sich
der Voraussetzungen, d. h. der apriorischen Momente bewusst
zu werden, mit denen man an die Forschung geht. Immer
noch ist vor der Torheit zu warnen, als könne man voraussetzungslos
an die Sache hintreten. Ein Object gewinnen wir
nur durch Denken, nicht durch bloßes Tasten; was aber irgend
ein Object im Denken wird oder ist, das wird es durch das
apriorische Moment, mit Hülfe dessen es gebildet ist. Ein geistvoller
Forscher auf dem Gebiete der Volkswirtschaft, J.F(aucher),
bemerkt gelegentlich, wie die größten Aufgaben hinter dem
kleinsten Satze der Volkswirtschaft stecken, und wie ihre „Schwierigkeit
für den jungen Adepten, welchen der Glanz des logischen
Teils der Wissenschaft, den er bemeisterte, mit triumphirender
Freude erfüllt hat, später nur zu häufig dergestalt gefährlich
wird, dass er, an der Vereinigung von Logik und Wirklichkeit
verzweifelnd, in gedankenlose Routine zurücksinkt, und nun erst
recht für alles wissenschaftliche Streben verloren geht. Die
Schwierigkeit liegt allerdings nicht bloß auf dem Felde des
Gedankens. Es ist nichts, gar nichts mit der Volkswirtschaft
in der Studirstube … Die sogenannte Anthropologie und Ethnologie
aber, welche sich auf Reisen einsaugt, ohne alle logische
Sichtung, und dann der Logik in loser Reihe rasch fertiger
Einfälle gegenüberstellen zu können glaubt, was wie Erfahrungssucht
aussieht, hat in der Gesetzgebung und Sitte der Völker
schon mehr Schaden angerichtet, als alle verrannte Lehre auf
dem Gebiete der Abstraction, gegen welche der logische Kampf
in der Front stattfindet. Sehe man nur genug, und denke
man nur genug dabei, so wird man immer wieder finden, dass
die Erfahrung genau mit der Logik stimmt.” Das sollten sich
auch diejenigen Sprachforscher gesagt sein lassen, welche meinen,
es sei völlig gleichgültig, ob eine der von ihnen aufgestellten
(vermeintlich gefundenen) Tatsachen mit der Logik vermittelt
werden könne oder nicht. Man nenne immerhin die Logik
Subjectivität — ein dieser Subjectivität Hohn sprechender Satz
23bleibt Unsinn, und in solchem Unsinn spricht man nie eine
wahre Tatsache, sondern nur seine mangelhafte Einsicht aus.
Denn hat die Objectivität ihre unausweichlichen Gesetze, so hat
die Subjectivität deren nicht minder; die Erkenntniss, welche
eine wahre sein soll, hat den beiderseitigen Gesetzen zu genügen,
welche nie in Widerspruch sein können.

Noch treffender als die oben angeführte Äußerung des
National-Ökonomen und in heiterer Weise zeigt folgende Anekdote
die schöpferische Wirksamkeit der apriorischen Momente.
„Jemand soll sich erboten haben, die mittelhochdeutsche Syntax
vollständig auszuarbeiten, wenn ihm nur Jacob Grimm die
Capitelüberschriften dazu geben wollte.” Der Mann war freilich
„naiv”; aber ihm „Trägheit, die sich nicht selbst ihre Bahn
brechen mag”, vorzuwerfen, wäre nicht minder naiv, nur nicht
so gutmütig. Er war gewiss nicht träge. Aber was fehlte ihm?
Er sagt es ja selbst: die Capitelüberschriften. Sind aber wohl
diese etwas andres als die apriorischen Momente, die Kategorien,
deren er bedurfte, um aus der Fülle des ihm zu Gebote stehenden
Materials die Syntax zu bilden? Das also ist die Spitze
dieser Anekdote, dass das Wesentlichste, das eigentlich Schöpferische,
das apriorische Moment, so dargestellt wird, als wäre
es etwas so ganz Äußerliches, wie die Capitelüberschrift freilich
erscheint.

Ein kritisch wissenschaftliches Selbstbewusstsein zu wecken:
das ist die Aufgabe der Philosophie; dass also der Forscher
wisse, was er treibt; dass er das Wesen seines Gegenstandes
kennt, die Bedeutung der Bestimmungen oder Prädicate an sich,
die er jenem beilegt, und den Sinn, in welchem er diese mit
jenem verbindet. Ohne solches Selbstbewusstsein kann man
zwar in glücklichem Tact vielfaltig sicher gehen, aber oft genug
wird man auch Tatsachen zu finden meinen, wo man nur abenteuerliche
Theorien, die luftigsten Einfälle entwickelt.24

Erste Anmerkung
(zu Seite 9).

Nach Aristoteles erfahren wir das Einzelne durch die sinnliche Warnehmung
unmittelbar. Andrerseits erfassen wir die Principien, die höchsten
Allgemeinheiten, ebenso unmittelbar durch den νοῦς. Das beweisende, vermittelnde,
ableitende Wissen bewegt sich zwischen diesen beiden Grenzen,
und mag es sich nun aufsteigend vom Einzelnen zum Allgemeinen erheben
oder von den Principien zu den Einzelheiten hinabsteigen, immer wird ein
Wissen aus einem vorangehenden Wissen (ἐϰ πϱοϋπαϱχούσης γνώσεως gewonnen;
jede Erkenntniss also, abgesehen von den unmittelbar erfassten Principien
und Einzelheiten entsteht aus einem früheren (πϱότεϱον), also a priori, das
heisst weiter nichts, als sie ist vermittelt, während die Principien unmittelbar
(ἄμεσοι) sind.

Die Warnehmung gibt kein Wissen, denn sie erfasst nur Einzelnes;
Wissen aber ist Erkenntniss des Allgemeinen. Dieses wird aus mehreren
Einzelnen offenbar. Nämlich der Syllogismus steigt vom Allgemeinem zum
Besondern herab, die Induction von diesem zu jenem hinauf. Das Allgemeine
lernen wir demnach vom Einzelnen aufsteigend durch Induction oder
Abstraction (ἀφαίϱεσις), und nur so. Wenn also auch der Syllogismus allein
als eigentlicher Beweis gelten kann, so ist doch die Induction unentbehrlich
und kann nicht durch den Syllogismus ersetzt werden.

Das Frühere nämlich wird in doppeltem Sinne genommen. Etwas ist
ein Früheres und leichter und sicherer Erkennbares für uns, oder es ist
früher und erkennbarer an sich, schlechthin von Natur. Das Einzelne, sinnlich
Warnehmbare ist das Leichtere, Frühere für uns. Das Allgemeinere,
das Princip, die Ursache ist das Frühere an sich und von Natur; und das
Erkennbarste, Wahrste, Notwendigste, Früheste sind die allgemeinen Principien.
Die Induction führt uns also den Weg von dem für uns Erkennbaren,
für uns Frühern zu dem an sich Frühern, und wie sehr auch festzuhalten
ist, dass nur von oben herab streng bewiesen werden kann, so geht
doch der menschliche Weg der Erkenntniss nur von unten hinauf. Hierin
sieht Aristoteles in keiner Weise einen Widerspruch, und höchst bezeichnend
für sein Verfahren ist der Anfang der Physik. Auch hier stellt er zunächst
den Grundsatz auf, dass sich das Wissen aus der Erkenntniss der Principien
oder Ursachen oder Elemente (ἀϱχαὶ ἢ αἴτια ἢ στοιχεῐα) ergebe, und also mit
ihnen zu beginnen sei. Er fährt aber dennoch mit der Bemerkung fort,
die er durch ein bloſses δὲ an das Vorangehende knüpft, dass das für uns
Deutlichere, Gewissere (σαφέστεϱον) verschieden ist von dem an sich und von
Natur Klaren und schlechthin Gewissen, und dass also der naturgemässe
Weg (πέφυϰε ἡ ὁδός) von jenem zu diesem vorschreite.

Wenn man aber nun etwa ein inductivisches Verfahren, ein Ausgehen
vom Einzelnen erwartet, so sieht man sich sogleich getäuscht. Denn wieder
unmittelbar weiter und nur durch δὲ anknüpfend heisst es, für uns sei das
Allgemeine das Klare, und von diesem aus habe man zum Einzelnen zu
gelangen. Denn für uns ist das Zusammengesetzte (τὰ συγϰεχυμένα) klarer
als das darin Enthaltene; das Ganze, welches Vieles als Teile umfasst, liegt
25der Warnehmung näher als der eingeschlossene Teil. Das Allgemeine (το
ϰαϑόλου) aber ist solch ein Ganzes (ὄλον τι). Die Erkenntniss der Eigentümlichkeiten
(τῶν ἰδίων) ist später als die des Gemeinsamen (τῶν ϰοινῶν).
Es handelt sich also vielmehr um ein Zerlegen (διαιϱεῖν), wodurch die Elemente
und Principien gewonnen werden.

Die Analyse ist also der Weg, die Principien zu finden und sie nennt
Aristoteles auch im Anfange der Politik als die Methode, die ihn in allen
seinen Untersuchungen leite. Sie zerlegt das Zusammengesetzte (σύνϑετον,
συγϰείμενον) in seine einfachsten Elemente, kleinsten Teile (ἀσύνϑετα, ἐλάχιστα
μόϱια
) aus denen es besteht, um ihre unterscheidenden Eigentümlichkeiten
zu erfassen.

Nun sollte man meinen, er werde mit dem Staate beginnen; aber er tut
es nicht, sondern beginnt mit dem Individuum. Das könnte nun zwar in
andrer Beziehung ganz folgerecht scheinen. Denn nach Aristoteles ist ja
der Staat vor dem Individuum und der Familie, nämlich von Natur, wie
überhaupt nach der Natur das Ganze vor dem Teil ist. Mit dem aber, was
der Natur nach das Frühere ist, können wir nicht beginnen; denn für uns
ist es das Spätere. In Widerspruch hiergegen aber heisst es wieder unmittelbar
weiter, er wolle in der Betrachtung des Staates den Weg gehen, der
überall der schönste sei, nämlich gerade den, den die Natur selbst in der
Zusammensetzung der Wesen befolgt (ἐξ ἀϱχῆς τά πϱάγματα φυόμενα βλέψαι).
Und sogleich hierauf lässt er die erste Gesellschaft aus zwei Individuen,
Mann und Weib, entstehen.

Endlich aber, wie verträgt sich dies Alles mit seinem eigentlich logischen
Werke, welches er ἀναλυτιϰά nennt, und wo er doch mit den Begriffen,
den einfachsten Elementen, beginnt?

Täusche ich mich nicht, so wird man aus diesen Schwierigkeiten wohl
nicht anders herauskommen, als indem man annimmt, Aristoteles verstehe
unter ἀναλύειν sogleich das Doppelte, das Ganze in seine Elemente zerlegen,
und das Zerlegte seinem Wesen gemäß zusammenfügen. Dargestellt aber
wird von ihm nur das Eine oder das Andere. In den Analytika aber zeigt
er beides, sowohl die Bildung der Schlüsse aus den Begriffen (ὅϱοι), als auch
die Auflösung gemachter Schlüsse in ihre Elemente, die Begriffe. Dass sich
aber Aristoteles über alles dies klar gewesen wäre, muss ich leugnen. Charakteristisch
und für meine Ansicht beweisend scheint mir der Umstand,
dass Aristoteles den Terminus ,synthetisch' noch gar nicht gebildet hat, was
um so bedeutsamer ist, je leichter es war, solchen Gegensatz aufzustellen.

Zweite Anmerkung
(zu Seite 17—20).

Nach unserer Darstellung der Synthesis und Analysis im Texte muss es
willkürlich erscheinen, dass man meist den Fortschritt vom Allgemeinen zum
Einzelnen synthetisch, den umgekehrten Gang analytisch nennt. Mit gleichem
(ja, wenn man den etymologischen Sinn des Wortes beachtet, mit größerem)
26Recht heißt bei andern Forschern der Gang vom Allgemeinen zum Einzelnen
(also die Deduction) Analyse, und umgekehrt das Aufsteigen zum Allgemeinen
vom Einzelnen (also die Induction) Synthese. So bei Wundt (Menschen- und
Tierseele, I. S. 411 ff.). Dieser verdienstvolle Physiologe und Psychologe
meint, der ursprüngliche Weg der Erkenntniss sei immer der synthetische,
und dieser bleibe überall notwendig, wo weder der besondere Gegenstand,
um den es sich handelt, noch die Gruppe von Erscheinungen, in die er gehört,
bekannt ist. Dann tragen wir synthetisch die Prädicate zusammen,
immer inductiv von den besonderen, begrenzten Begriffen zu den allgemeineren
übergehend. Wenn uns nämlich eine neue Erscheinung entgegentritt, so
seien es zunächst gewisse sinnliche Warnehmungen der Farbe, der Gestalt
u. s. w., die wir in Urteilen aussprechen (z. B. dieser Gegenstand ist gelb,
glänzend). Dann prüfen wir die Erscheinung näher in Bezug auf solche
Eigenschaften, die nicht unmittelbar sinnlich wargenommen werden können,
wie Schwere, Durchdringlichkeit, Härte. Eine Anzahl einzelner auf diese
Weise gebildeter Urteile oder Prädicatsbegriffe zusammenlegend, fassen wir
den Körper zuerst als ein Individuum, als etwas von seiner Umgebung Verschiedenes
auf (bilden z. B. den Begriff Gold). Dann vergleichen wir ihn
mit denjenigen Körpern, mit denen er am nächsten verwandt ist, und geben
uns über die Unterschiede Rechenschaft. Später erst stellen wir den Körper
mit andern zusammen, von denen ihn eine tiefere Kluft äußerer und innerer
Verschiedenheit trennt, und der letzte Schritt sei, dass wir ihm in der ganzen
Kette der Naturerscheinungen die ihm zugehörige Stelle anweisen. Wenn
dagegen entweder der Gegenstand schon bekannt ist, wir aber denselben
nach den ihm zukommenden Eigenschaften wieder aufzufinden beabsichtigen,
wenn es sich also weniger um eine Erkenntniss als um eine Wiedererkenntniss
handelt, oder wo bloß im Allgemeinen die Gruppe, in welche ein Gegenstand
gehört, bekannt ist, dagegen noch nicht der Gegenstand der Untersuchung
selber: da komme das analytische Verfahren zur Anwendung. Gesetzt, es
handle sich um eine neue Pflanze, so sei der allgemein eingeschlagene Weg,
dass man zuerst die Classe und Ordnung feststelle, unter welche der untersuchte
individuelle Gegenstand zu subsumiren sei, dann zur Familie und
Gattung übergehe, um schließlich bei jenen Merkmalen stehen zu bleiben, durch
die sich das untersuchte Individuum als zu einer neuen Art gehörig ausweist.

Wundt unterlässt nicht, wiederholt zu bemerken, dass solche reine Synthese
und reine Analyse kaum jemals nachweisbar sei. In der Wirklichkeit
setze sich unser Verfahren immer aus beiden Methoden zusammen, sie werden
mit einander vermengt. Man beginnt etwa synthetisch und fährt in einem
bestimmten Punkte analytisch fort. Auf fast jeder Erkenntnissstufe lasse
sich die Analyse neben der Synthese nachweisen; bald schließe sie sich einer
vollzogenen Synthese an, bald bereite sie eine neue vor. Indessen, diese
Auffassung ist immer noch nicht ganz frei von der älteren Einseitigkeit.
Die Wahrheit ist, dass nicht nur „fast”, sondern durchaus in jedem Schritte
der Erkenntniss eine Synthese und Analyse nicht bloß nach und neben einander,
sondern zugleich und in einander enthalten sind. Wundt geht sogar
so weit, Synthese und Analyse in den einfachsten Empfindungs-Erkenntnissen
27anzuerkennen, die nicht nur jenseits der Sprachbildung, sondern sogar noch
vor der Anschauung liegen. — Das lässt sich zwar cum grano salis tun;
aber ich muss zweifeln, ob Wundt dieses granum wirklich hinzugefügt hat.
Sein Werk scheint mir geradezu daran zu leiden, dass er im Streben, die
Einheit von physiologischen und logischen Vorgängen nachzuweisen, die
psychologischen Vorgänge ganz übersprungen hat. Ich vermisse in seinem
Werke gerade die Psychologie. Zu einer ausführlichen Kritik ist hier nicht
der Ort. Nur soviel. Jene primitivsten, nur durch sinnliche Warnehmung
gebildeten Anschauungen, wie das Tier und das Kind vor dem Besitze der
Sprache bildet, sind durch ein unbewusstes Geschehen entstanden, auf welches
die Kategorien und Synthesis und Analysis nur nach Analogie angewandt
werden können. Sie sind Verbände vom Empfindungen. Dabei ist zwischen
Außenwelt und Subject noch gar nicht unterschieden. Will man nun hier
logische Processe zugestehen (und eine Analogie findet statt), so zeigt sich
doch auch hier, dass Wundt das wahre Wesen der Synthesis und Analysis
mangelhaft erfasst hat. Er sagt (I. S. 438): „Eine Distinction liegt schon
in der einfachen Empfindung, und diese Distinction wird zur Analyse, wenn
wir die Empfindungen nach ihrer Qualität und Quantität genauer bestimmen.
Wenn ich z. B. eine Druck- oder Lichtintensität auffasse, so liegt hierin
eine Analyse. Ich empfinde die Intensität nur durch bestimmte Merkmale
der Empfindung; ich muss von allen der realen Empfindung zukommenden
Merkmalen diejenigen herausgreifen, welche zum Resultat die Intensität
haben. Ein solches Isoliren der Merkmale durch Zergliederung der Empfindung
ist aber Analyse.” Solch ein Herausgreifen aber gewisser Merkmale ist
eben nur ausführbar neben und durch Zusammenfassung und Vergleichung
mehrerer gleichartiger Empfindungen. Dieses Zusammenfassen (Synthese)
und jenes Herausgreifen (Analyse) ist nur ein einziger Act — und zwar in
diesem Falle ein unbewusster, also weniger eine Handlung als ein Geschehen.

II.
Umfang und Gliederung der Sprachwissenschaft.

Die Gliederung einer Wissenschaft kann vor der ausführlichen
Darstellung derselben nur mehr angedeutet, als begründet werden.
Aber auch so kann sie als Uebersicht des Stoffes und der Haupt-Punkte
dem Verständnisse erleichternd entgegenkommen.

Gegeben ist dem Sprachforscher uranfänglich nur die Tatsache,
dass sich die Menschen mit einander unterreden, sich
gegenseitig ihr Inneres, d. h. den Inhalt ihres Bewusstseins,
mitteilen, indem sie denselben mit Hülfe eigentümlicher Laute
äußern oder darstellen. Ebenso ist weiter gegeben, dass diese
Mitteilungsfähigkeit und das Verständniss sich zwar über das
ganze Menschengeschlecht erstreckt, jedoch so, dass nicht Jeder
28schlechthin mit Jedem sprechen kann und ihn versteht, sondern
immer nur Jeder mit Jedem aus einer abgeschlossenen Vielheit,
welche ein Volk bildet. Es sind also viele Sprechweisen oder
Sprachen gegeben.

So viele Sprachen es gibt, so viel Grammatiken haben
wir zu schaffen. Sie enthalten den eigentlichen Stoff, die eigentlichen
Aufgaben des Sprachforschers. Soll sich dieser nun gut
ausgerüstet an sein Geschäft begeben, so muss er die Natur
seiner Aufgabe kennen. Er muss vertraut sein mit dem allgemeinen
Wesen seines Gegenstandes und dem zu erstrebenden
Ziel seiner Forschung, mit der Methode und den Grundsätzen
des Verfahrens, mit dem Inhalte oder der Bedeutung der anzuwendenden
Kategorien. Diese Belehrung hat die Sprach-Philosophie
oder die allgemeine Sprachlehre zu erteilen, während
die besondere Sprachwissenschaft in den einzelnen Grammatiken
der gegebenen Sprachen liegt. Jene enthält die rationale Grundlage
für diese, ist aber nicht bloße Hülfswissenschaft, sondern
erzeugt ein an sich selbst wertvolles Wissen.

So hat die Sprachwissenschaft zwei Teile, indem zu dem objectiven
noch ein formaler Teil kommt, der die apriorischen Momente
an sich erörtert, welche in jenem zur Anwendung kommen.

Demnach hat die allgemeine Sprachlehre oder Sprachphilosophie
das Wesen der Sprache darzustellen. Es ist hier die
Frage: was ist die Sprache überhaupt? wie ist sie geworden?
welches sind ihre constitutiven Elemente? was leistet sie dem
Geiste? welche Stellung nimmt sie ein im geistigen Organismus
des Menschen? welche Schicksale erfährt sie im Laufe der
Zeiten? Hieraus bestimmt sich das eigentliche Princip der
Grammatik und ihr wahrer Gegenstand, woraus sich wieder
Folgerungen für die Methode, die Untersuchungs-Weise mit
voller Klarheit ergeben müssen.

Bei all diesen Untersuchungen, deren Bedeutung nun wohl
schon einleuchtet, ist von den Besonderheiten der gegebenen
Sprachen noch nicht die Rede. Hier wird die Sprache als
etwas ganz allgemein dem Menschen Gehörendes betrachtet,
noch abgesehen von der Verschiedenheit der Völker. Auf diese
nimmt eben erst die besondere Grammatik Rücksicht.

Die allgemeine Sprachlehre mag die formale heißen, insofern
sie es nur mit der allgemeinen Form der Sprachtätigkeit,
29mit der Möglichkeit derselben zu tun hat; dagegen betrachtet
die besondere Sprachlehre die wirklich von den Völkern geschaffenen
Sprachformen. Wir könnten die erstere auch die
subjective nennen, insofern sie vorzugsweise das sprechende
Subject beobachtet, wogegen der besondere Teil der objective
heißen mag, da hier die wirkliche Sprache als gegebenes Object
erfasst wird. Diese Gegensätze sind freilich nicht absolut zu
verstehen.

Würde nun aber nicht, erstlich, die besondere oder objective
Sprachlehre gänzlich der Einheit einer Disciplin entbehren
und sich unmittelbar in eine kaum überschaubare Menge
von Grammatiken auflösen? würde sie wohl etwas anderes sein,
als eine Bibliothek sämmtlicher Grammatiken?

Zweitens aber kann nicht eindringlich genug davor gewarnt
werden, sich dabei zu begnügen, dass man die allgemeinsten
Sätze an die Tatsachen legt und diese durch jene erklären zu
können meint. Dies ist vielmehr das eigentliche Zeichen mangelhafter
Bildung und die Veranlassung zu vielfältiger Sophistik.
Die alte Regel, dass man nicht aus den allgemeinsten Principien,
sondern aus den eigentümlichen eines besonderen Kreises von
Erkenntnissen zu erklären habe, dass man die Definition aus
dem specifischen Merkmal und dem genus proximum bilden
müsse, nicht aber mit Übergehung des letztern die noch
höheren, noch allgemeineren Classenbegriffe anwenden dürfe,
wird gar oft außer Acht gelassen. Dann erscheint die Darstellung
eines Gegenstandes, wenn sie nicht gar Irrtümliches
enthält, wie ein schlotterndes Gewand, während eine treffende
Darstellung wie ein eng anschließendes Kleid die eigene Gliederung
der Sache hervortreten lässt. Der Reichtum und die
Gediegenheit unserer Erkenntniss beruht auf der vielfachen,
sachgemäß abgestuften Vermittelung zwischen den höchsten
Kategorien und den Tatsachen, zwischen dem Allgemeinsten
und dem Einzelnsten.

In dieser zwiefachen Rücksicht ist nun auch, wie die
Sprachphilosophie selbst schon ein Vermittelungsgeschäft zu
übernehmen hat, noch enger zwischen ihr und den besonderen
Grammatiken zu vermitteln, was dadurch erreicht wird, dass sie
die gemeinsamen Beziehungen der letztern heraushebt. Das
kann freilich nicht geschehen, ohne schon sehr tief in den Bereich
30der wirklichen Einzelheiten einzugreifen. Wenn übertriebene
Forderungen für die Einheit abgewiesen werden, so
kann es genügen, um die einzelnen Grammatiken zur Einheit
einer Wissenschaft zusammen zu bringen, dass sie als die Individuen
einer Sprach-Welt classiflcirt werden, als die Orte
eines Sprach-Reiches eine gewisse Stellung zu einander erhalten.
Näheres über das Wesen, den Wert, das Verfahren der Classification
soll hier nicht angegeben werden; dieselbe sollte nur
als eine fernere Aufgabe der allgemeinen Sprachwissenschaft
hingestellt werden, welche sie nach Betrachtung der Sprache
überhaupt an den einzelnen Sprachen zu vollziehen hat. So
bleibe denn auch einstweilen unbestimmt, inwiefern durch die
Classification die Erkenntniss der einzelnen Sprache gewinnt;
nur dass dies der Fall sein muss, sei hier vorläufig ausgesprochen.

Durch die richtig verstandene Classification erhält denn
auch die vergleichende Grammatik erst ihre theoretisch genaue
Stellung. Hier mag, da nicht vorausgegriffen werden kann,
die vorläufige Bemerkung genügen, dass die vergleichende
Grammatik eines Sprachstammes die allgemeine Grammatik desselben
ist, wobei freilich hervorzuheben bleibt, dass die Allgemeinheit
der vergleichenden Grammatik nicht eine logische Abstraction,
sondern eine geschichtliche Wirklichkeit ist.

Zu dem ersten Abschnitte der allgemeinen Sprachlehre, zur
Sprach-Philosophie, tritt also als zweiter die Classification der
Sprachen hinzu, in welcher die vergleichende Grammatik ihre
systematische Stellung findet. Durch die sachlich und methodologisch
veranlasste fortwährende Bezugnahme auf diesen
zweiten Abschnitt der allgemeinen Sprachlehre erhält die einzelne
Grammatik ihren wissenschaftlichen Charakter, und erscheint
sie nur als ein besonders ausgeführtes Kapitel der
Sprachwissenschaft.

Diese Andeutungen über den Umfang und die Gliederung
der Sprachwissenschaft würden selbst für ihren Zweck zu lückenhaft
sein, wenn nicht noch einige Punkte erwähnt würden.

Man ist erstlich zu sehr gewöhnt, wenn von Sprach-Philosophie
oder allgemeiner Sprachlehre die Rede ist, etwas von
allgemeiner oder philosophischer Grammatik zu hören, als dass
ich hier ohne irgend eine Bemerkung über dieselbe hinweggehen.
31dürfte. Ich muss daher hier schon meine Ansicht von ihr aussprechen,
wenn auch die Begründung verschoben werden muss.
Dass diejenige Disciplin, welche unter dem Namen der allgemeinen
Grammatik seit zwei Jahrhunderten (und wenn man
will: seit zwei Jahrtausenden) angebaut ward, gewisse apriorische
Momente der Sprachbetrachtung zum Gegenstand hatte,
leugne ich nicht. Ihr apriorisches Wesen aber war bei weitem
nicht so hoch und so allumfassend und nicht so streng, wie
man meinte. Die grammatischen Kategorien und Formen, welche
man als absolut für den sprechenden Menschen, also für jede
Sprache gültig ansah, weil man sie aus der logischen Natur des
Denkens überhaupt ableiten zu können glaubte, sind tatsächlich
fast auf die indogermanischen Sprachen beschränkt und ergeben
sich durchaus nicht aus den logischen Denkformen. Das wahre
Verhältniss ist vielmehr dies, dass jede Sprache für sich ihre
eigenen Formen hat, welche der Sprachforscher als gegebene
Tatsache hinnehmen und als solche erklären soll, aber nicht als
allgemein und logisch notwendig construiren kann. Der zweite
Abschnitt der allgemeinen Sprachlehre hat in der Classification
und vergleichenden Grammatik diese Aufgabe im Wesentlichen
zu lösen, und die besondere Grammatik jeder Sprache hat sie
in allen Einzelheiten auszuführen.

Der zweite Punkt ist folgender. Man hat die Litteraturgeschichte
neben der Grammatik als zweiten Teil der objectiven
Sprachwissenschaft ansehen wollen. Von der Stellung der Poetik
und Rhetorik war in der neueren Sprachwissenschaft bisher nur
wenig die Rede; man hat sich eben zu diesen alther überlieferten
Disciplinen noch keine Stellung gegeben.

Was nun zunächst die Litteraturgeschichte betrifft, so muss
man allerdings, rein theoretisch genommen, dies festhalten, dass
der Sprachwissenschaft nicht bloß die Sprache überhaupt (Sprach-Philosophie),
sondern auch die einzelnen Sprachen, und diese
wiederum nicht bloß nach ihren Elementen und ihrem Bau an
sich, sondern auch in Bezug auf die Weise der Anwendung,
welche jede in der Litteratur gefunden hat, zur Vorlage dienen;
oder mit andern Worten, nicht nur die Form jeder Sprache,
sondern auch ihr Charakter und die in ihr entwickelten litterarischen
Formen (oder Redegattungen) und Style sind Gegenstand
der Sprachwissenschaft. Diese künstlerisch gestalteten Formen
32der Rede aber sind es zugestandenermaßen, welche die Litteraturgeschichte
in ihrer Entwicklung zu erkennen hat. — Indessen
wie richtig dies auch ist, so zeigt doch schon eine oberflächliche
Ueberlegung, dass für die Gestalt der litterarischen
Gattungen und der individuellen Style noch ganz andre Momente
als die Sprache in Betracht kommen, und zwar viel wichtigere
Momente, ja dass die Sprache hier nur eine secundäre Rolle spielt.
Das Darstellungsmaterial, das in den gewöhnlich angenommenen
sechs hauptsächlichen Redekünsten oder litterarischen Gattungen
(in der Epik, Lyrik, Dramatik; Geschichte, Philosophie, Beredsamkeit)
verwendet wird, besteht keineswegs bloß oder auch
nur vorzugsweise und in erster Linie aus sprachlichen Elementen,
sondern viel mehr noch aus rein innern Elementen und Formen
der Anschauung und des Gedankens, und diese sind von sehr
vielfältigen geschichtlichen Beziehungen, und großentheils gar
nicht von der Sprache abhängig — aber wohl die Sprachform
von ihnen. Wenn man auch den Inhalt, den dargestellten Stoff
eines sprachlichen Kunstwerkes, ganz ausschließt aus der Litteraturgeschichte,
wie z. B. die Sage, welche einem Drama zu
Grunde liegt, oder den wissenschaftlichen Gehalt eines Werkes:
so müssen doch zur Erklärung der Form der Darstellung noch
manche Momente außer den sprachlichen herbeigezogen werden.
Denn der Styl hängt allemal ursprünglichst und am bedeutsamsten
von der Anordnung und Verbindung der Gedanken ab.
Es kann hier nur angedeutet werden, dass das bloß Formale
eines Kunstwerkes weit über die Sprachform hinaus reichte Ja
sogar mehr oder weniger äußerliche Dinge, wie die Einrichtung
der Bühne, die Zahl der agirenden Schauspieler, Dasein oder
Mangel eines Chors, Ansichten der Machthaber u. s. w. kann
die Litteraturgeschichte nicht außer Acht lassen, da von solchen
Dingen die Gestalt des Dramas unmittelbar abhängt. Die
Sprachform gibt erst den Abschluss der Darstellung; auf ihr
mögen die feinsten Wirkungen beruhen, aber nicht die stärksten,
nicht die wichtigsten (vergl. meine Abh. Poesie und Prosa,
Zeitschr. f. Völkerpsych. IV, 285 ff.).-

Man wird also nur sagen können: die Litteraturgeschichte
hat ein sprachwissenschaftliches Moment in sich; aber sie geht
nicht ganz in Sprachbetrachtung auf. Die Sprachwissenschaft
reicht in sie hinein, aber umfasst sie nicht. Dagegen kann
33allerdings gefordert werden, erstlich, dass die Sprachphilosophie
die mannichfache Anwendung der Sprache im Leben hinlänglich
begründe und also auch der Litteraturgeschichte den rationalen
Boden bereite. Wie verschiedene Redeformen überhaupt möglich
sind, muss vor Allem aus dem Wesen der Sprache (apriorisch)
erkannt werden. — Zweitens aber können wir uns auch
den sprachwissenschaftlichen Anteil an der umfassenden litterarhistorischen
Aufgabe ausgesondert denken. Dieselbe würde
dann wohl am natürlichsten zusammengefasst werden mit der
Betrachtung aller der Schicksale, welche eine Sprache in geschichtlicher
Zeit erfährt. Und so kommen wir zum Begriff
einer Geschichte der Sprache, welche als zweiter Teil der
sprachwissenschaftlichen Behandlung einer besondern Sprache
neben der Grammatik notwendig wird. Dies wird vielleicht am
klarsten durch einen Blick auf das Latein. Wie ganz anders
behandelt Plautus die Sprache und Cicero und Tacitus und der
Philosoph Seneca und die noch späteren Schriftsteller? Hier
sehen wir eine Reihe von Veränderungen, welche mit dem
Übergange des Latein in das Romanische abschließt.

Die Poetik und Rhetorik veranlassen dieselben Bemerkungen
wie die Litteraturgeschichte: sie haben noch von vielen
andern Dingen zu reden, bevor sie zur Sprache kommen, und
von wichtigeren als diese. Jene Disciplinen werden also nur
einen sprachwissenschaftlichen Abschnitt haben, der, wenn wir
ihm innerhalb der Sprachwissenschaft seinen Platz anweisen
wollen, die letzte Abteilung der Syntax bilden würde. Freilich
bleibt zu beachten, dass die Syntax einen ganz andern Charakter
hat als die Rhetorik und Poetik; sie hat es nur mit der
Richtigkeit der Sprache zu tun, jene zeigen die Schönheit oder
Angemessenheit des Ausdrucks; sie ist rein historisch, jene sind
ästhetisch; sie hat ausschließlich grammatische Principien, jene
haben Rücksichten zu nehmen, welche ganz außerhalb der
Sprache liegen, wie die Stimmung des Redenden u. s. w. Genau
genommen, verhält sich die Syntax zur Stylistik doch wie die
grammatische Betrachtung der Quantität der Vocale zur Metrik.
Man wird also noch folgende Rücksicht hinzu nehmen müssen.
Die litterarhistorische Charakteristik des Styls eines hervorragenden
Schriftstellers wird auch Punkte hervorzuheben haben, die
nicht in die Geschichte der Sprache gehören, weil sie überhaupt
34gar nicht grammatischer, sondern rhetorischer Art sind. Die
Rhetorik, Poetik und Metrik, wie sie überhaupt die rationale
Grundlage abgeben für die Litteraturgeschichte, werden also
auch in ihren sprachlichen Betrachtungen die Kategorien darzulegen
haben, deren sich der Litterarhistoriker zur Bestimmung
des sprachlichen Styls zu bedienen hat. Sie vermitteln die
Sprachphilosophie mit der Literaturgeschichte.

Es ist klar: da die Sprache bei ihrer Anwendung in einem
großen Complex ganz anderartiger, von ihr unabhängiger, aber
sie bestimmender Verhältnisse hineingezogen wird, so kann die
Betrachtung der angewandten Sprache, von welcher Seite auch
sie ausgehen mag, niemals zu einer in sich abgeschlossenen
sprachwissenschaftlichen Disciplin führen.

Noch ein Punkt wäre das Lexikon. Es ist nicht zu verkennen,
dass es eine besondere Stellung und einen besonderen
Charakter neben der Grammatik wohl hat: es ist wesentlich
statistisch; es zeigt, welche von den nach der Grammatik möglichen
Formen und Bedeutungen wirklich gebildet und entwickelt
sind. Nun leugne ich nicht, dass die Statistik, wo immer sie
Raum hat, wissenschaftliche Betrachtung von höherem oder
geringerem Werte ermöglicht. Der wissenschaftliche Erfolg
aber der lexikalischen Statistik kommt eben der Geschichte der
Sprache und auch der Grammatik zu Gute. Daher wird das
Lexikon wohl für immer ein bloßes Hülfsbuch bleiben, das,
man möge es ordnen, wie man will, immer der Einheit entbehren,
für immer eine Sammlung wissenschaftlicher Einzelheiten
(Monographien) bleiben wird. Es kann jeder Artikel
eines Wörterbuches den Beweis sprachforschender Genialität
geben, sei es in der Ableitung (Etymologie) des Wortes, sei es
in der Entwicklung der verschiedenen Bedeutungen desselben,
sei es in der Festsetzung oder Bestimmung der noch unbekannten
oder fraglichen Bedeutung — aber ein Ganzes wird ein Wörterbuch
nie und in keiner Weise.

Es sei noch hinzugefügt, dass das Lexikon seine rationale
Grundlage in der Grammatik findet. Denn wenn es auch
dahingestellt bleiben mag, ob diese ein Verzeichniss der Wurzeln
aufzustellen hat, (das, könnte man meinen, habe gerade
das Wörterbuch zu tun, weil es schon eine statistische Aufgabe
ist, und weil ferner die Grammatik es nur mit den formalen
35Elementen der Sprachen zu tun hat, die Wurzeln aber den
Sprachstoff ausmachen): so ist doch so viel klar, dass die Grammatik
die Weisen und die Mittel darzulegen hat, nach und mit
denen aus der Wurzel die wirklichen Formen gebildet sind,
deren Statistik das Wörterbuch enthält. Für die Entwicklung
der Bedeutungen der Wörter aber hat die Sprach-Philosophie
die Grundsätze aufzustellen. Wie wenig auch diese Seite der
Sprache noch bisher bearbeitet ist, so ist doch kaum anzunehmen,
es dürfte sich je die Notwendigkeit herausstellen, für jede einzelne
Sprache eine besondere Lehre von der Entwicklung der
Bedeutungen der Wörter zu begründen. Vielmehr scheint hier
das Allgemeine überall in gleicher Weise aufzutreten. Nicht
als ob hier individuelle Züge den einzelnen Sprachen völlig
fehlten. Irgend eine Möglichkeit wird in dieser und eine andere
in jener Sprache vorzugsweise häufig wirklich geworden
sein. Dies würde aber in der allgemeinen Charakterisirung einer
Sprache, mit der die Geschichte derselben zu beginnen hätte,
genügend dargelegt werden können. Es braucht also nicht jede
Special-Grammatik ein Kapitel über die Bedeutung der Wörter
zu geben.

III.
Beziehung der Sprachwissenschaft zu anderen Wissenschaften.

Es ist Tatsache, dass sich die Sprachwissenschaft aus der
Philologie als selbständige Disciplin ausgelöst hat. Fragen wir
also nach ihren Beziehungen zu anderen Wissenschaften, so tritt
die zur Philologie in den Vordergrund *)5.

Gehen wir vom Mittelpunkte der Sprachforschung aus, so
wird leicht klar, wie sie einen Ausschnitt aus dem Kreise der
Philologie bildet. Alles Wirkliche ist entweder Natur oder
Geist. Hierbei bleibt die Frage, ob nicht diesen beiden Reichen
der Wirklichkeit doch schließlich ein Princip zu Grunde gelegt
werden kann und muss, ganz unberührt. Wie die Antwort auch
ausfallen mag, es kann Niemand so idealistisch, oder so spiritualistisch
sein, dass er die Natur in ihrer Verschiedenheit vom
36Geiste nicht gelten zu lassen versuchen könnte; noch auch kann
jemand so materialistisch sein, dass er behaupten dürfte, der
Kreis von Tatsachen, den wir unter dem Namen Geist zusammenfassen,
sei nicht durch ganz eigen geartete Verhältnisse von
den natürlichen Erscheinungen abgesondert. Neben der Naturgeschichte
steht also die Geistesgeschichte oder die Philologie.
Überhaupt mag die Wissenschaft einerseits die Einheit aller
bekannten Erscheinungen aufsuchen; andererseits darf sie die
Unterschiede nicht unbeachtet lassen. Es mag der Nachweis
vollständig gelingen, dass unter den Erscheinungen des Lebens
nichts vorkomme, was nicht aus den mechanischen Verhältnissen
der leblosen Körper vollständig erklärt werden könnte:
immer bliebe der Unterschied zwischen belebten Wesen und
leblosen Stoffen bestehen, nicht nur für die gemeine Anschauung,
sondern auch für die Wissenschaft, welche nie leugnen könnte,
dass die Lebenserscheinungen von den Bewegungen des Leblosen
verschieden, besonders ungleich verwickelter sind. Die
organische Chemie und die physiologische Mechanik sind nicht
bloß angewandte Chemie und Physik, sondern lehren noch ganz
andere Stoffe und Bewegungs-Verhältnisse kennen als diese.
Mögen ferner die untersten Stufen des Tierlebens von dem
Pflanzen-Leben nicht zu unterscheiden sein, so bewiese dies
nur, wie alle möglichen Stufen des Daseins verwirklicht und
die Übergänge höchst allmählich sind. Mit noch größerer
Sicherheit unterscheidet sich, alles Geistige vom Natürlichen,
durch das Bewusstsein. Nicht als ob ich den Beweis dafür
übernehmen möchte, dass der Stein kein Bewusstsein hat; noch
auch fordere ich den Gegenbeweis, wenn jemand behaupten
möchte, der Stein habe Bewusstsein. Nur dies steht fest: Erscheinungen
des Bewusstseins, sie mögen vorkommen, wo es
auch sei, sind von materiellen Erscheinungen verschieden und
unterliegen einem eigentümlichen Mechanismus, der andre Gesetze
offenbart als der physische. Die Naturwissenschaft betrachtet
die Gegenstände, insofern sie bewusstlos sind; die Tatsachen
des Bewusstseins bilden den Geist.

Das geistige Leben reicht weiter als das geschichtliche,
wiewohl geschichtliche Entwicklung zu haben, ein wesentlicher
Charakterzug des Geistigen bleibt. Es gibt Völker und Zeiten
und Verhältnisse, welche außerhalb der geschichtlichen Bewegung
37bleiben. Die Philologie umfasst nur das geschichtliche
Leben; die culturlosen Völker und die Zeiten, welche der Geschichte
vorangehen, bleiben außerhalb ihres Bereiches.

Es gibt also eine philologische Erforschung des geschichtlichen
Lebens der beiden classischen Völker, der Cultur-Völker
Asiens, zu denen auch die Ägypter gerechnet werden können,
und der Völker Europas. Wenn nun so einerseits die Philologie
in die Geschichte verschiedener Völker zerfällt, so gliedert
sie sich andererseits nach den verschiedenen Lebensweisen oder
Tätigkeitsformen des Geistes in die Geschichte des politischen
Lebens, der Religion, der Kunst u. s. w. Wer nur das geistige
Leben der Griechen oder der Germanen erforscht, bearbeitet
nur einen Teil der Philologie, er beschränkt sich auf einen
Volksgeist; diesen aber erforscht er in allen seinen Tätigkeitsformen,
in seinem praktischen wie in seinem theoretischen Leben
und Weben. Eben so beschränkt sich, nur in anderer Weise,
wer die Geschichte der Kunst erforscht; er beschränkt sich
nicht auf ein Volk, sondern umfasst alle Völker, welche Kunstwerke
hervorgebracht haben, die asiatischen wie die europäischen,
die alten wie die neuen; aber er bearbeitet nur einen Zweig
der Philologie, die Kunstgeschichte. Das ist die Teilung der
Arbeit auch im Gebiete der Wissenschaft. So lassen sich denn
nun auch die Sprachen der Völker nicht minder als ihre Kunstwerke
oder ihre Religionen zu einem besonderen Zweige der
Philologie zusammenfassen.

Tut man nun letzteres, so kann der Unterschied nicht entgehen,
dass wer die Kunst oder das Recht der Völker aus dem
Gesammtleben derselben herausgreift und besonders erforscht,
da er hierbei immer innerhalb der Cultur-Völker verharrt, er
auch innerhalb der Gränzen der Philologie bleibt. Wer aber
die Sprachen erforscht, wird gar leicht und sogar notwendig,
da ja wohl immer die Sprache eines Cultur-Volkes mit der
Sprache eines uncultivirten verwandt ist, über die Gränzen der
Philologie hinausgeführt. Lassen wir uns aber vom Begriffe
leiten, so leuchtet alsbald ein, dass die Sprachwissenschaft sogar
alle Sprachen aller Völker der Erde umfassen muss. So
zeigt sich sogleich, dass diese doch mehr ist, als ein bloßer
Ausschnitt aus der Philologie: oder vielmehr, es zeigt sich, wie
gar leicht ein Teil einer Wissenschaft, wenn er aus seinem
38Ganzen ausgelöst wird und die Selbständigkeit einer Disciplin
für sich erhält, aus denselben Rücksichten, wonach er ausgelöst
ist, auch neue Elemente an sich zieht und neue Beziehungen
gewinnt.

So tritt nun auch unmittelbar noch ein neues, die Selbständigkeit
der Sprachwissenschaft sicherndes Moment hinzu.
Die Forschung des Philologen reicht, soweit geschichtliche
Denkmäler reichen. Da er es mit Erzeugnissen der Cultur zu
tun hat, ist er zunächst gar nicht veranlasst, über die Zeit der
Cultur hinauszugehen. Die Sprachwissenschaft aber hat in der
vergleichenden Grammatik das Mittel, weit über die Zeit hinaus,
welche geschichtlich erhellt ist, die sprachlichen Verhältnisse
zu erforschen. Auch zeitlich also überschreitet sie die Schranken
der Philologie.

Drittens aber sind ja diese beiden Erweiterungen nur Folgen
derjenigen verschiedenen Rücksicht oder derjenigen Verschiedenheit
des Ziels der Forschung, wodurch gleich ursprünglich
die Heraushebung der Sprache aus den übrigen Factoren
des Nationalgeistes veranlasst wurde. In der Philologie, die
es nur mit einem Volksgeiste zu tun hat, aber mit allen Momenten
desselben, handelt es sich vorzugsweise um den Zusammenhang
dieser Momente unter einander, also auch der Sprache
mit allen übrigen Momenten und mit dem Gesammtcharakter
des Volkes. Der Sprachforscher löst die Sprache aus diesem
Zusammenhange und bringt sie in einen ganz andern Zusammenhang,
nämlich mit den verwandten Sprachen. Der Philologe
wird also vorzugsweise das hervorheben, was die strenge
Eigentümlichkeit einer Sprache ausmacht, ihren besonderen Charakter,
der sich am klarsten in der Litteratur, in den Styl-Arten,
dem Satzbau, den syntaktischen Fügungen, der Entwicklung
der abstracten Begriff und der feineren, intellectuelleren Anschauungen
offenbart; der Sprachforscher findet die meisten und
ursprünglichsten Aufgaben in der Wortbildung und in dem Wortwandel,
nämlich da, wo die Sprache mit anderen zusammenhängt.
Die Geschichte einer Sprache in der geschichtlichen
Zeit lockt mehr den Philologen; die Wandlungen der Sprache
in der vorgeschichtlichen Zeit reizen den Sprachforscher.

Der hier aufgestellte Unterschied zwischen philologischer
und sprachwissenschaftlicher Betrachtung der Sprache ist einerseits
39nach abstract oder logisch begrifflicher Rücksicht gemacht;
andererseits schließt sich ihm die Teilung der Arbeit unter den
Forschern an. Die ideale und sachliche Forderung geht dahin,
das Object, hier die Sprache, allseitig zu erkennen. Der Philologe
oder Historiker wusste längst, wie vielfach die geschichtlichen
Zustände und Einrichtungen des staatlichen, des religiösen
und des privaten Lebens auf Verhältnissen der vorgeschichtlichen
Zeit beruhen, und er fühlte sich darum getrieben, an der
Hand überlieferter Tatsachen durch Schlüsse über die Zeit der
Geschichte hinaus zu blicken. Warum sollte er dies in Bezug auf
Sprache nicht tun? Er hat es vielmehr zu allen Zeiten zu tun
versucht und versuchen müssen, um seiner Aufgabe nachzukommen.
Und nun, da wir in der Sprachvergleichung das Mittel
haben, solchen Blick auf die Urzustände in Sprache, Glauben,
Sitte und Lebensweise mit Sicherheit zu werfen, sollte er davor
das Auge zudrücken? Der Sprachforscher aber andererseits,
wenn ihm feststeht, dass die Sprache nur in intellectueller Betätigung
lebt, er sollte gerade die Betrachtung der geistigen
Fortbildung der Sprache in der Geschichte, in den Kunstwerken
der Rede von sich abweisen? Und wenn die Vergleichung der
Sprachen lehrt, wie zwar jede mit der andern auf einer gemeinsamen
Grundlage beruht, aber doch auch ihre Eigentümlichkeit
hat, wie will denn der Sprachforscher diese Eigentümlichkeit
begreifen, wenn er sie nicht mit der Individualität des gesammten
Volksgeistes zusammenfasst? Oder soll er nur fragen, was
z. B. das Griechische mit den andern indogermanischen Sprachen
gemeinsam hat, gegen das eigentümlich Griechische aber zwar
anstoßen, weil es unvermeidlich ist, dann aber sich sogleich
davon zurückziehen?

Es muss also sowohl der Philologe als auch der Sprachforscher
jede Sprache, wenn anders es ihm um eine volle Erkenntniss
derselben zu tun ist, nach der doppelten Richtung
ihres Zusammenhanges erforschen, nämlich wie in der Verbindung
mit den anderen Sprachen, so auch in der Verbindung
mit dem Nationalgeiste, weil beide Richtungen unzertrennlich
verbunden sind. Der Zusammenhang der Sprachen ist ja zugleich
ein Zusammenhang der Volksgeister; und es liegt im
Wesen der Sprache eines zur Cultur bestimmten Volkes, sich
geschichtlich in der Geschichte des Volkes zu entwickeln.40

Innerhalb dieser idealen, auf die Erfassung des gesammten
Objects in seiner vollen Wesenheit und in allen Beziehungen
seines Daseins gerichteten Forderung behalten die oben nach
Begriffen gezogenen Abgränzungen ihre untergeordnete, blasse,
Berechtigung, und diese in vollerer Farbe hervortreten zu lassen,
kann der immer nur beschränkten Individualität des Forschers
nicht verargt werden; aber man soll nicht aus der Not eine
Tugend machen. Nur ist mit der Erkenntniss der notwendigen
Beschränktheit der Individualität zugleich die Hoffnung gegeben,
dass durch die Mannichfaltigkeit derselben schließlich doch die
Idee gedeckt wird.

Es ist hier immer festgehalten worden, dass die Sprache
in die Wissenschaft vom Geiste gehöre, ja sogar, dass sie an
der Geschichte Teil habe. Dies erscheint hier, in Betrachtungen
zu vorläufiger Orientirung, als bloße Voraussetzung; diese muss
und kann nur in der zusammenhängenden Entwicklung der
Wissenschaft selbst, namentlich in der Sprach-Philosophie, ihre
Begründung finden. Wir haben indessen schon gesehen, dass
die Sprache in zwiefacher Weise die Gränzen der Philologie
oder Geschichte überschreitet; denn gesprochen haben die
Völker schon vor ihrem Eintritt in die Geschichte, und es
sprechen und sprachen viele Völker, die nicht geschichtlich geworden
sind. Hier reicht also die Sprachwissenschaft in ein
andres Gebiet hinein, nämlich in das der psychologischen Ethnologie.
Diese Wissenschaft hat nämlich die Aufgabe, das geistige
Leben der nicht geschichtlichen Völker darzustellen. Denn es
gibt unleugbar ein geistiges Leben, das nicht geschichtlich ist.
Die cultur- und geschichtlosen Völker haben Sprache, Religion,
ein durch geistige Rücksichten geregeltes Leben, wie Ehe, Eigentum,
Arbeit, Gesetz und Herrschaft und Gehorsam u. s. w.;
sie führen also ein geistiges Leben, ohne doch Geschichte zu
haben. Also sind sie weder bloße Objecte der Naturwissenschaft
noch auch Objecte der Philologie, sondern unterliegen
einer geistigen Betrachtung, und doch nicht der philologischen.
Es besteht also neben der Geschichte die ethnologische Psychologie.

Wie nun die Erforschung der wirklichen Natur, die Astronomie,
die Geologie und Meteorologie, die Mineralogie, Botanik
und Zoologie in der Mathematik, der Physik und Chemie und
41der Physiologie ihre rationale Grundlage findet; wie in jenen
Disciplinen tatsächliche Erscheinungen, in diesen die Gesetze
zur Erklärung derselben erforscht werden: so findet die Geschichte
(Philologie) und die psychologischer Ethnologie die
Mittel zur Erkenntniss der causalen, gesetzlichen Verhältnisse
der geistigen Tatsachen in der Psychologie. Diese, als die
Lehre von dem, allem geistigen Leben zu Grunde liegenden
Mechanismus, liefert also auch der Sprachwissenschaft die Gesetze
und die rationalen Elemente, mit Hülfe deren die sprachlichen
Erscheinungen in ihrem causalen Zusammenhange zu
erkennen sind.

Insofern hätte die Sprachforschung keine andere Beziehung
zur Psychologie als jede historische Disciplin. Ob sie nun
aber und in wie fern sie in innigerem, wesentlicherem Zusammenhange
mit ihr stehen mag, kann sich erst aus der näheren
Darlegung der Sache, des Wesens der Sprache, ergeben. Vermuten
lässt sich dies allerdings auch schon bei der vorläufigen
Ansicht von der Sprache, wie sie jeder Gebildete mitbringt.
Es merkt Jeder, sobald er die Aufmerksamkeit darauf richtet,
dass die Sprache wesentlicher in das ganze Getriebe des geistigen
Lebens eingreift, bestimmender auf die Gestaltung der Ansichten
von natürlichen und menschlichen Sachen einwirkt, als sonst die
Erzeugnisse des Geistes mit einander zusammenhängen. Die
Sprache zeigt sich in so auffallender Weise als Begleiter und
Medium aller geistigen Bewegung, als Mittel zum Lernen und
Erkennen, als eigentliche Energie des Bewusstseins, dass man
sogleich bereitwillig sein wird, ihrer Erforschung eine höhere
Bedeutung für die Psychologie zuzugestehen, als jeder anderen
Betätigung des Geistes. Bestimmteres jedoch ist hierüber vorläufig
nicht zu sagen.

So kann denn auch hier noch gar nichts darüber gesagt
werden, wie sich die Sprache als Tatsache des Bewusstseins
und der Geschichte von allen sonstigen Elementen der Geschichte
unterscheidet. Dass die Sprache in der Geschichte wie im
Bewusstsein eine besondere Stellung einnimmt, eine eigentümliche
Natur zeigt, soll nicht geleugnet werden. Klare Einsicht
in diese Eigentümlichkeit aber kann nur mit Hülfe der Psychologie
gewonnen werden.

Andrerseits ist noch weniger zu verkennen, dass die Sprache
42auch eine physiologische Function ist. Sprechen ist ein gewisses
Erschallen. Von dieser Seite aus bildet die Sprache
vollkommen ein Kapitel der Physiologie. In dem Abschnitte
von den Bewegungen ist auch von der der Sprachorgane zu
handeln. Die Physiologie der Laute soll der Sprachforscher
kennen; aber sie bildet nicht einen Teil der Grammatik. Die
Philosophie der Sprache entlehnt dieses Kapitel als fremdes
Gut, aus welchem der Grammatiker Gewinn zu ziehen sucht.

Und nur so, nämlich dass der Grammatiker in der Physiologie
der Laute von einer Seite her die Begründung seiner
Lautlehre findet, ist das Verhältniss zu verstehen. Denn die
Behauptung, die ganze Lautlehre, wie sie den ersten Teil der
Grammatik bildet, sei physiologisch, würde weit über das Ziel
hinausgehen. Vielmehr ist die Betrachtung der Laute, wie sie
dem Grammatiker gehört, eine durchaus historische mit nur
teilweise physiologischer, wesentlich und in letzter Instanz aber
psychologischer Begründung. Jeder Lautwandel in den Sprachen
ist ein Geschehen in der Zeit; die Schicksale des Lautkörpers
einer Sprache haben, wie die Geschichte der ganzen Sprache,
eine Chronologie. Sprechen ist aber nicht ein bloßes Schallen
und Tönen, sondern ein vom Geist angeregtes; und so, wie der
Geist ihn erregt, wird der Laut hervorgebracht. Die Sprachwerkzeuge
bilden allerdings einen Mechanismus für sich, ein
Instrument. Aber das Instrument ist stumm, sprachlos, wenn
nicht der Geist es spielt. Will der Geist darauf spielen, so
muss er sich freilich dem Mechanismus desselben unterwerfen,
und das Unmögliche wird er nicht leisten. Manche Passage
aber mag schwierig sein; ja, sie wird dem Einen unmöglich
sein, dem andern höchst unbequem, so unbequem, dass er sie
erleichternd umgestaltet; doch, ist sie überhaupt nur möglich,
so wird ein Dritter das Unbequeme überwinden und die Schwierigkeit
nicht scheuen. Das ist Sache der Energie oder der
Schwäche des Geistes. Ja, manche Uebergänge sind kaum
schwierig; aber der Geist ist schlaff, oder er liebt sie nicht.
Hierauf beruht aller Lautwandel, und das heisst auf psychologischen
Verhältnissen.

Ueber alle diese bisher erörterten Beziehungen der Sprachwissenschaft
zu anderen Wissenschaften konnten wir uns, meine
ich, schon nach vorläufiger Ansicht von der Sprache hinlänglich
43verständigen. Wenn wir nun aber endlich nach dem Verhältniss
von Grammatik und Logik zu einander fragen, so erfordert
dieser Punkt nicht nur eine größere Ausführlichkeit,
sondern er veranlaßt ein genaueres Eingehen auf das Wesen
der Sprache. Er wird uns vollständig in unsere eigentlichen
Untersuchungen hineinführen und verdient billig eine besondere
Überschrift. Er kann aber gar nicht betrachtet werden, ohne
zuvor nach dem Verhältniss zwischen Denken und Sprechen zu
fragen. Dieses ist also zunächst zu bestimmen, insoweit es sich
tun lässt, bevor das Wesen der Sprache gründlich erfasst ist.

IV.
Sprechen und Denken. Grammatik und Logik.

Plato hatte die Untersuchung über die grammatischen Kategorien
begonnen, Aristoteles setzte sie fort, die stoische Schule
brachte sie insofern zum Abschluss, als sie wenigstens alle Kategorien
aufgefunden hatte. Diese aber wurden von den griechischen
Philosophen nicht nur im Dienste und zum Vorteil der
Dialektik und Logik, betrachtet; sondern so, wie sie von ihnen
erfasst und betrachtet wurden, waren sie und galten sie als
dialektische oder logische Wesen. Indem sich die Philosophen
mit sprachlichen Gegenständen beschäftigten, wussten sie sich
keineswegs als Grammatiker. Ihre logischen Kategorien wurden
zu grammatischen erst durch die Grammatiker umgedeutet. Wie
sich nun überhaupt die Aristotelisch-stoische Logik traditionell
durch die letzten Zeiten des Altertums und durch das Mittelalter
hindurchschleppte, so auch in ihr die Betrachtung der
Redeteile. Und so hat denn auch der berühmte Scholastiker
Johannes Duns Scotus (im 13. Jh.) einen Tractatus de modis
significandi
geschrieben, im logischen Interesse, obwohl dieses
Buch eine philosophische Grammatik heißen kann, wie es auch
in der Ueberschrift den Zusatz trägt: seu grammatica speculativa.
Dann hat im 16. Jahrhundert, als die neuere Philologie
aufblühte, Julius Caesar Scaliger (Vater des Joseph Justus
44Scaliger) unter dem Titel De causis linguae latinae eine philosophische
Grammatik des Latein geschrieben, wie ein Verehrer
der Aristotelischen Schrift De interpretatione sie schreiben musste.
Als endlich die Cartesianische Philosophie auftrat, da ward für
die Kloster-Schule von Port-Royal bei Paris eine Logik und
eine Grammaire générale et raisonnée aus einem Gusse gearbeitet,
ja längere Stücke sind beiden Werken gemeinsam. Letzteres
aber bildet den Anfang einer langen Reihe allgemeiner und
philosophischer Grammatiken bis in die letzten Zeiten, welche
sich sämmtlich bemühen, die Grammatik aus der Logik heraus
zu construiren, die logische Grammatik zu schaffen.

Wir könnten diese Ansicht ruhig gelten lassen und in den
grammatischen Formen der Sprache die Verkörperungen der
allgemeinen Formen des logischen Denkens und der allgemeinen
Anschauung finden wollen: so bliebe das schon S. 42 angedeutete
Verhältniss zwischen Grammatik und Psychologie unverändert.
Denn wenn man nur zugesteht, dass die metaphysischen
Kategorien wie die allgemeinen Formen des Denkens und Anschauens
nicht fertig angeborene Ideen sind, sondern im menschlichen
Bewusstsein erst allmählich entstehen: so ist es Aufgabe
der Psychologie, diesen Entstehungsprocess nachzuweisen. Wie
kommt der Mensch zu diesen Kategorien Ding, Substanz, Ursache?
und zwar nicht bloß zur abstracten Erfassung derselben
sondern zu ihrer zunächst unbewussten Anwendung? Wie gelangt
ferner der Mensch zum Begriff Raum und zur Vorstellung
von Dingen als im Baume befindlich und in räumlichen Verhältnissen
zu einander stehend? Und ebenso wäre dann zu
fragen, wie die sprachliche Verleiblichung dieser Kategorien
und Formen entstehe. Dies alles mag immerhin organisch entstehen:
es muss allemal eine Physiologie der metaphysischen
Kategorien und logischen Formen geben, und dies ist die Psychologie.

Indessen ist zu untersuchen, inwiefern die ganze Ansicht,
auf der die Ableitung der Grammatik aus der Logik beruht,
haltbar ist. Anderwärts *)6 ist gezeigt, wie sich Aristoteles nur
allmählich von dem streng logischen Standpunkt in das sprachliche
45Material hat hineinziehen lassen, und wie dies der Logik
nicht zum Vorteil gereichte. Hier ist näher zu betrachten, ob
die Grammatik wirklich in der Weise logischer Natur ist, wie
man angenommen hat. Dürften wir schon hier die Kenntniss
des Wesens und der Factoren der Sprache voraussetzen, so
wäre die Sache schnell entschieden. Da wir aber jene Kenntniss
erst gewinnen wollen, so müssen wir versuchen, die Frage
vom Verhältniss der Grammatik zur Logik zunächt nur vorläufig
zu erörtern, in der Hoffnung, so auf die rechte Fährte
zu gelangen, die wir zu verfolgen haben werden.

Wenn man, wie auch wir tun, die Sprache Ausdruck des
Innern, Darstellung der Intelligenz genannt hat, so hat man,
von Plato bis in die neuere Zeit, damit behaupten wollen, dass
die Sprache mit der Intelligenz durchaus identisch sei, d. h.
dass die Bedeutung der Sprachlaute durchaus nichts anderes
sei als die Erzeugnisse der Intellectualität selbst, Anschauungen,
in weiterer Ausbildung Begriffe, und Gedanken. Die Sprache
sollte hiernach zwei Seiten haben, eine äußere und eine innere,
welche sich zu einander wie Körper und Geist verhalten sollten;
die äußere, die Lautseite der Sprache, meinte man, sei das
körperliche Element, in welchem die innere Seite, die Intellectualität,
lebe, wohne und geboren werde, und durch welches
Element sie sich zugleich äußere und darstelle zu sinnlicher
Warnehmbarkeit. Sprache, sagte man, ist Gedanke selbst, Wort
ist Begriff selbst, Satz ist Urteil selbst, nur zugleich sprachlich
ausgedrückt, lautlich warnehmbar, verleiblicht. So streng hat
man die Einheit von Sprechen und Denken genommen, dass
das eine ohne das andere organisch unmöglich sein sollte, dass
wenn sie nach ihrer organischen Natur heranwüchsen, jedes mit
dem andern notwendig zugleich gegeben sein müsste, weil sie
eben gar nicht zwei verschiedene Wesenheiten seien, sondern
nur eine. Der Laut, d. h. der organisch articulirte, ist nicht
ein selbständiges Wesen für sich, begründet nicht etwa ein
Wesen, Sprache genannt, abgesondert und verschieden vom
Gedanken; sondern der Laut gehört dem Denken selbst, ist
ihm organisch so notwendig, wie der Kraft eine Materie, der
Seele ein Leib. Nach K. F. Becker's Ansicht vom organischen
Wesen der Sprache ist es der menschliche Logos, der sich mit
schöpferischer Naturkraft in der Sprache eine sinnliche Wirklichkeit
46gibt, geradeso wie die Idee des Lebens sich im organischen
Leibe verwirklicht. Man hat sich von diesem Drange,
Sprechen und Denken zu vereinheitlichen, so weit treiben lassen,
dass man vergaß, sich zu fragen, was denn nun eigentlich der
Name Sprache noch bedeuten solle, jetzt, da selbst der Laut
ein Element des organischen Denkens ist? Auf diese Frage
würde ich nach der dargelegten Ansicht nur antworten können,
Sprache bezeichne die organische Eigenschaft des Denkens, zu
tönen.

Neuerlichst hat man versucht, eine dieser älteren Ansicht
gerade entgegengesetzte, aber eben darum nahe verwandte aufzustellen.
Die gemeinsame Grundlage beider hat man fast mit
Plato's Worten so ausgedrückt: „Sprache ist lautes Denken,
wie Denken lautloses Sprechen.” Während nun aber K. F.
Becker *)7, mit Anlehnung an die Natur-Philosophie im Anfange
unseres Jahrhunderts, die Idee sich verwirklichen, den Geist
sich verkörpern und ebenso den Gedanken sich sprachlich
verlautlichen liess: wollte man nun, in Anschluss an den heutigen
Materialismus, die Behauptung aufstellen **)8, der Geist
oder der Gedanke oder der Inhalt der Sprache sei die Function
des Lautes.

Ist denn aber die Grundlage beider Ansichten so fest?
Sehen wir zu.

Dem Denken, sagt man, fehle das Lauten niemals. Denn
(und diese Tatsache ist richtig) selbst unser stilles, lautloses
Denken ist ein mindestens beabsichtigtes Sprechen; die innere
Ansicht der Articulation begleitet dasselbe allemal. Stilles Denken
ist gedachtes Sprechen, Sprechen nur gesprochenes Denken.
Ich habe an mir eine Beobachtung gemacht, die gewiss auch
jeder andere an sich schon gemacht hat oder machen kann.
Wenn ich nämlich auswendig gelernte Reden und Gedichte
schweigend in Gedanken wiederholte, wobei allerdings auch eine
gewisse Aufmerksamkeit auf das äußere, wiewohl unterdrückte
Element des Vortrags gerichtet war, so konnte ich sehr deutlich
ein leises Zucken in der Zunge, ein schwaches, oft nur
47beabsichtigtes Ausführen aller Articulationen an mir bemerken.
Auch Herbart sagt (Bemerkungen über die Bildung und Entwickelung
der Vorstellungsreihen, S. W. VII. S. 320): „Das
stille Denken ist großenteils merklich ein zurückgehaltenes
Sprechen; und man hat allen Grund anzunehmen, dass wirklich
ein Handeln dabei vorgeht, welches für die Seele schon ein
äußeres Handeln ist; nämlich ein Anregen der Nerven, welche
die Sprachorgane regieren; nur nicht stark genug, um die
Muskeln zu bewegen.”

Dies wird richtig sein. Wenn aber hieraus die Unzertrennlichkeit
von Sprechen und Denken folgen mag, so folgt
daraus noch nicht ihre Einheit und Selbigkeit. Ja man darf
daraus noch nicht einmal ihre Unzertrennlichkeit schließen;
denn andere, nicht minder sichere Tatsachen beweisen die
Trennbarkeit.

Das Tier denkt, ohne zu sprechen. Wir werden hierauf
zurückkommen. Nur kann es uns nicht einfallen, beweisen zu
wollen, dass das Tier denkt (es wäre überflüssige Mühe), noch
dass es nicht spricht — es wäre verschwendete Mühe. Wir
wollen aber schon hier bemerken, dass das Tier nicht bloß empirisch
denkt, in rein sinnlicher Gegenwart lebt; sondern es
hat Gedächtniss, erkennt wieder, und hierin liegt ein Keim
zum Bewusstsein der Vergangenheit; ja noch mehr, es vermutet
und erwartet die Zukunft, berechnet sie und macht überhaupt
Schlüsse: das ist sogar schon ein apriorisches Element.

„Das sind Tiere; aber der Mensch!” — Nun, auch er
denkt in manchen Fällen ohne Sprache. Der Taubstumme
denkt oft verständiger als mancher Redende; er ist sogar meist
schlau, und selbst ohne besonderen Unterricht erwirbt er sich
religiöse Vorstellungen. Er lernt ein Handwerk und wird ein
nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft. Er erzählt,
lässt sich erzählen, ist der Unterhaltung fähig.

„Das ist der verstümmelte, unglückliche Mensch! aber der
normale, der im Besitze aller menschlichen Kräfte ist! aber
wir!” — Nun, auch wir denken oft genug ohne zu sprechen.
Wir träumen, und Träumen ist doch ein Denken. Es werde
zugestanden, dass geträumte Reden, wie unser leises Denken,
von schwachen Erregungen der Nerven der Sprachorgane begleitet
werden, und manchmal sind ja diese Nervenerregungen
48stark genug, um die Muskeln der Sprachorgane in Bewegung
zu setzen und hörbares Schlafsprechen zu erzeugen. Die ganzen
Traumbilder aber mit bestimmten Örtlichkeiten und Personen,
mit Handlungen und Begebenheiten sind doch sicherlich
nicht ein bloßes leises Erzählen. Träumen ist Phantasiren, also
ein intellectuelles Handeln, aber ohne Worte.

„Das ist der träumende Mensch; aber der wachende!” —
Auch er denkt vielfach ohne Worte. Vieles können wir
durch die Sprache weder erfassen, noch mitteilen; vieles können
wir zwar mitteilen, aber wir erfassen es ursprünglich ohne
Sprache. (Vergleiche Lazarus, Leben der Seele, II. S. 221 ff.)
Dies sind die Warnehmungen durch unsere Sinne. Wem es
nicht der Sinn eingibt, was Blau, was der Ton der Trompete,
was Süß ist, der kann es durch kein Wort erfassen,
noch können wir es ihm durch Rede mitteilen. Obwohl Sehen
eine verwickelte intellectuelle Tätigkeit ist, so lernt es doch das
Kind vor der Sprache, und wir üben diese Tätigkeit ohne
Sprache. Haben wir nun durch das Gesicht wargenommen,
so können wir hierüber berichten; aber die Kunst keines Redners
geht so weit, uns eine Gesichtsbildung und Gestalt, die
leibliche Haltung und Bewegung einer Person, eine nur einigermaßen
an Formen und Farben vielfache Örtlichkeit so zu beschreiben,
dass wir uns ein genau zutreffendes Bild von der
gemeinten Person oder Gegend in unserm Bewusstsein entwerfen
könnten. Und weil solche Darstellung eines Bildes durch Sprache
ganz unmöglich ist, darum lautet das stylistische Gesetz, dass
der Dichter und Redner das Entwerfen solches Bildes gar nicht
unternehmen, mit den darstellenden Künsten nicht wetteifern
solle; dass er nicht durch Beschreibung, sondern durch andre
Mittel die Phantasie des Hörers und Lesers so zu erregen habe,
dass sie selbst sich das vom Dichter gewollte Bild entwerfe.
Und noch weniger als sinnliche Warnehmungen lassen sich
Gefühle sprachlich ausdrücken.

„Das ist nicht Denken! das ist Warnehmen; das sind
Tätigkeiten der niedern Geistesvermögen.” — Denken freilich
im eigentlichem Sinne ist das nicht; aber eine niedere Geistestätigkeit
ist das Anschauen und Warnehmen nicht immer. Wenn
der Kunstkenner vor einem Meisterwerke der bildenden Kunst
oder der Baukunst betrachtend steht, so ist seine Tätigkeit Anschauen,
49und doch wahrlich keine niedere Tätigkeit. Wer ein
musikalisches Kunstwerk erfasst, der hört und übt nicht eine
niedere Seelenfähigkeit. Und diese Männer tun nichts als Sehen
und Hören, und die Urheber jener Werke hatten im natürlichen
Stoffe das ausgeprägt, was sie innerlich geschaut und gehört
hatten, und dieses Schaffen und jenes Aufnehmen geschieht
ohne Sprache. Wer eine Maschine betrachtet, um ihren Bau
kennen zu lernen, wer nachsieht, wie ihre Räder und ihre
Walzen und ihre Balken in einander greifen und Eins das
Andere stützt oder in Bewegung setzt, der sieht und erkennt
eine bedeutende geistige Schöpfung und — spricht nicht dabei.

„Dabei ist kein Sprechen, aber auch immer noch kein
Denken!” — Nun, so sehen wir denn hin auf das streng wissenschaftliche
und streng logische Denken; aber hüten wir uns,
dass wir uns nicht täuschen. Am klarsten ist, dass das mathematische
Denken sich lautlos vollziehen kann. Das Urteil
3 + 4 = 7 ist durch sichtbare Zeichen völlig bestimmt ausgedrückt
und mittelst des Auges aufzufassen. Dasselbe Urteil
kann auch durch die Sprache ausgedrückt werden, aber nicht
besser als in der ersteren Weise. Auch meine man nicht, jene
sichtbare und durch das Gesicht aufzunehmende Darstellung sei
Schrift, und Schrift sei nur durch Kunst sichtbar gemachter
Laut. Das ist keineswegs der Fall; jene Formel ist nicht Schrift,
sondern ist unmittelbares Zeichen des Gedankens, also ideographisch.
Die Ideographie aber ist nicht Schrift. Was geschrieben
heissen soll, muss gelesen werden können, d. h. das
Zeichen muss uns ganz bestimmte Laute darstellen, welche der
Lesende erkennt. Alles wirklich Geschriebene kann daher nur
in einer Weise gelesen werden, nur in denjenigen Worten,
welche der Schreibende im Bewusstsein hatte und gelesen wissen
wollte. Die Formel 3 + 4 = 7 aber lässt ihren Inhalt in mehrfacher
Weise aussprechen, also in mehreren Weisen lesen. Es
ist Willkür, ob ich denselben so ausdrücke: drei und vier sind
sieben, oder: wenn ich zu einer Anzahl von drei die von vier
erhalte, so werde ich die.Anzahl von sieben haben u. s. w.,
und ich kann diesen Inhalt in jeder beliebigen Sprache ausdrücken.
Was aber geschrieben wäre, müsste doch in einer
bestimmten Sprache geschrieben sein. Also liegt in jener Formel
gar keine Sprache; sondern dieselbe ist eine besondere,
50von der Sprache ganz unabhängige Darstellung eines Gedankens,
der freilich auch sprachlich ausgedrückt werden kann.

Eben so aber verhält es sich mit aller Wissenschaft; je
höher sie steigt, um so mehr begibt sie sich des Wortes. Der
Geometer zeichnet seine Figur, zieht seine Hülfslinien und
durchläuft in Gedanken eine lange Demonstration, ohne dass
ihm dazu die Sprache unentbehrlich wäre. Logik, wahre Wissenschaft
fordert, dass wir Begriffe und nicht Worte denken.
Daher bewegt sich die ursprüngliche Lehre des Aristoteles vom
Schlusse nicht um Wörter und Sätze, sondern um Begriffe, die
er mit Buchstaben α β γ u. s. w. bezeichnet; er zeigt, wie diese
Begriffe beschaffen sein müssen, wenn β die beiden andern vermitteln
soll. Ist die Sache, also das Wesen des Schlusses,
verstanden, so lässt sie sich viel besser als durch Worte durch
geometrische oder arithmetische Formeln, oder überhaupt durch
Formeln darstellen. (Vergl. meine Geschichte der Sprachwissenschaft
bei den Griechen und Römern, S. 194). Ebenso ist es
in der Physik, in der Chemie, welche dem Kundigen mit wenigen
Zeichen ein mannichfaches Geschehen von Scheidungen
und Verbindungen ausdrücken. Alle solche Formeln werden
nicht gelesen, nicht gesprochen; sie werden gesehen und gedacht.
Sie lassen sich allerdings in die Sprache übersetzen und gewinnen
dann wohl an Fasslichkeit, aber sicherlich nicht an
Klarheit, und verlieren sogar an Schärfe und Bestimmtheit. Und
die größere Fasslichkeit rührt nur von unserer Gewohnheit her,
sprechend zu denken. Das Denken wird uns leichter mit Hülfe
des Wortes, weil wir an diese Krücke gewöhnt sind. So gelangt
man durch die Sprache zum Verständniss jener Formeln; aber
das Ziel ist, sie zu schauen, sie zu denken ohne Wort.

Hieraus folgt nun, dass die unterste Stufe des Denkens,
das Anschauen von äußeren oder inneren Bildern, des Wortes
nicht bedarf; dass das gewöhnliche Denken des gemeinen menschlichen
Lebens wenigstens tatsächlich und in der Kegel an die
Sprache gebunden ist; dass aber endlich der Geist auf einer
höheren Stufe der Ausbildung sich von der Last des Lautes zu
befreien sucht. Nur irgend ein sinnliches Zeichen muss er auch
auf der höchsten Höhe haben als Stab und Stütze, als Leitfaden;
oder, nach einem anderen Bilde, die Zeichen sind dem
Geiste, indem er dem Begriffe nachspürt, eingeschlagene Pfähle
51an den Stellen, wo er die Fußstapfen des Begriffs erkannt hat,
um die Schritte und den Weg derselben um so leichter von
neuem durchlaufen zu können. Dazu ist ihm aber das Wort oft
zu grob, und er wählt statt dessen das algebraische Zeichen.
Auf der untersten Stufe des Denkens bedarf er weder des
Zeichens, noch könnte es ihm dienen; hier ist es die Anschauung
selbst, die er will, die ihm stehen soll. Nur im mittleren
Denkreiche herrscht gewöhnlich das Wort. Dass es aber auch
hier eben nur ein Zeichen ist, als Zeichen dient und keinen
höheren Wert hat, zeigt sich daran, dass es beim unterrichteten
Taubstummen durch Fingersprache und Schriftzeichen vollständig
ersetzt wird. Auch ist für den Taubstummen, der sich von
Kindheit auf an ein künstliches Fingeralphabet gewöhnt hat, die
Fingerbewegung fast ebenso unzertrennlich vom Denken, eben
so notwendig für dasselbe geworden, wie bei uns das Wort.
In den Anstalten, in denen ein Fingeralphabet als gewöhnliche
Umgangssprache dient, hat man bemerkt, dass die Taubstummen
bei ihrem stillen Denken die Finger bewegten. Auch im Traume
tun sie es oft. Die Fingerbewegung ist also bei ihnen eben so
sehr mit dem Denken verschmolzen, wie bei uns der Laut, die
Articulation, was darauf führt, auch die Verbindung der Articulation
mit dem Denken als den Erfolg einer Gewohnheit anzusehen.
Späterhin freilich werden wir sehen, dass zwischen
Gewohnheit und Gewohnheit ein Unterschied ist, dass nämlich
die eine von der Natur vorgezeichnet und angeordnet, die andere
nur zum Ersatz angenommen ist. Hier aber war zu zeigen,
dass die behauptete Unzertrennlichkeit von Denken und
Sprechen eine Uebertreibung ist, und dass der Mensch nicht
im Laute und durch Laute denkt, sondern an und in Begleitung
von Lauten. Denn weder ist die Wirklichkeit des
Denkens von dieser Anknüpfung desselben an den Laut durchaus
abhängig und ohne sie unmöglich, noch wird durch ihre
Aneinanderknüpfung Wort und Begriff, Sprache und Gedanke
identisch.

Es ist eine schlechte Ausrede, zu behaupten, das lautlose
Denken sei unorganisch. Denn erstlich das Denken als Anschauung,
als Bildschöpfung, ist ohne Zeichen durchaus organisch.
Das algebraische Denken ferner ist eine ganz notwendige,
also organische Stufe in der organischen Entwicklung des
52menschlichen Geistes, auf welche Stufe derselbe in ganz organischer
Weise seiner organischen Natur nach gelangen muss.
Endlich aber, wäre der Laut dem Denken so organisch notwendig,
wie ein Leib der Seele, ein Stoff der Kraft: so müsste
die Trennung des Lautes vom Denken für beide eben so zerstörend
und tödtlich wirken, wie die Trennung des Leibes von
der Seele, oder so unmöglich sein, wie die des Stoffes von der
Kraft. Das ist aber nicht der Fall; sondern es findet das Wunder
Statt, dass das Denken, obwohl unorganich, doch fortlebt
— gewiss eine wunderliche Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit
des Gedankens.

Ich will zu den oben angeführten Beispielen des Denkens
mit Zeichen noch ein höchst merkwürdiges hinzufügen, wo man
nicht aus dem Mangel eines Sinnesorganes und nicht bloß zu beschränkten
Zwecken, zu wissenschaftlichen Formeln, sondern wo
ein Volk zur Darstellung von Gedanken sich schriftlicher Zeichen
bedient. Dies geschieht in China. Kein Chinese ist im
Stande, im alten erhabenen Styl abgefasste Schriftstücke, die
man ihm vorliest, durch bloßes Hören aufzufassen. Dies ist
eine vielfach versicherte und für den Kenner des Chinesischen
leicht begreifliche Tatsache. Diese chinesische Litteratur alten
Styles ist so umfangreich wie irgend eine; sie ist ganz vorzüglich
reich an Darstellung von Reflexionen und Gefühlen, besonders
an Betrachtungen über die sittlichen Verhältnisse der menschlichen
Gesellschaft; sie ist weniger beschreibend, sinnlich, anschauungsvoll,
als reflectirend, rein denkend; sie wird gepflegt
und studirt mit demselben Fleiße, wie der chinesische Ackerbau,
seit mehr denn zwei Jahrtausenden: und diese Litteratur ist in
der Tat keine sprachliche, sondern eine Zeichenlitteratur; denn
nicht sprechend wird sie mitgeteilt und hörend vernommen,
sondern in Zeichen geschrieben, wird sie nur durch Anschauung
aufgefasst. Zwar hat jedes Zeichen einen Laut, mit dem es
ausgesprochen wird; aber was kann das nützen, da dieser Laut,
der das Zeichen trägt, bloß ausgesprochen, völlig unverständlich
bleibt, das Zeichen aber, gesehen, beim ersten Blicke eine
Vorstellung anregt? Hier redet also eine weite und tiefe Litteratur
nicht zum Ohre, sondern zum Auge; hier wird also gar
nicht mit Lauten, sondern mit Schriftzeichen gedacht; und diese
53Litteratur ist das höchste Erzeugniss des Geistes eines der ältesten
und cultivirtesten Völker der Erde.

Endlich noch ein Beispiel, das viel näher liegt, als das der
chinesischen Sprache und Schrift, und doch mit ihm die größte
Ähnlichkeit hat. Es wird gewiss Vielen, die nur englische
Schriften gelesen, aber nicht Englisch gesprochen haben, eben so
gehen wie mir, dass sie nämlich, wenn sie Englisch hören, sich
das Gehörte schnell als geschrieben vergegenwärtigen und so
erst verstehen, d. h. den Gedanken auffassen. Das rührt von
der Verschiedenheit zwischen Schreibung und Aussprache und
der Gewöhnung her, immer die Schreibung dem Geiste gegenwärtig
zu haben. Ich denke, dies beweist, dass, wenn man Englisch
zu uns spricht, wir nicht in englischen Lauten, sondern in
englischer Schrift denken.

Aber auch abgesehen von diesem künstlichen Denken in
Zeichen, gibt die Lautsprache in mehrfachen Tatsachen Zeugniss
davon, wie sehr sie vom Gedanken ablösbar ist. Alles,
was dagegen spricht, dass uns die Sprache angeboren ist, spricht
auch dagegen, dass sie in organischem, d. h. naturnotwendigem
Zusammenhange mit dem Gedanken stehe. Wäre die Sprache
die von der zeugenden Natur selbst geschaffene Verleiblichung
des Gedankens, so müsste derselbe Gedanke auch immer in
derselben Weise lautlich erscheinen und die tatsächlich vorhandene
mannichfache Möglichkeit des Ausdruckes wäre unbegreiflich.
Vor allem wäre die Verschiedenheit der Volkssprachen
bei der Einheit des menschlichen Logos unerklärbar. Die Fähigkeit
der Uebersetzung aus einer Sprache in die andere zeigt
doch wohl klar, wie der Gedanke nur über den Sprachen webt,
aber nicht in ihnen lebt als in seinem Leibe. Aber selbst nur
die Verschiedenheit des Styls, die Möglichkeit verschiedener
Darstellung in derselben Sprache müsste nach jener organischen
Ansicht unmöglich sein.

Noch mehr: Wäre die Sprache logisch, und ihre Form der
organische Abdruck der logischen Form des menschlichen
Denkens: was würde daraus folgen? Es würde mit unleugbarer
Notwendigkeit aus dieser Voraussetzung Becker's folgen, dass
es unmöglich sein müsste, das unlogisch, d. h. das logisch falsch
Gedachte, den logischen Irrtum, sprachlich und sprachrichtig
auszudrücken. Wir würden also in der Fähigkeit, einen Gedanken
54sprachlich auszudrücken, einen Prüfstein für die Richtigkeit
dieses Gedankens haben. Wenn z. B. zwei conträre
Begriffe sich nicht als Subject und Prädicat in einem Urteile
mit einander verknüpfen können; wenn das Urteil: der Kreis
ist viereckig
, oder ein viereckiger Kreis, undenkbar, logisch
unrichtig ist: so müsste dergleichen auch in der Sprache unausdrückbar
sein. So oft der Mensch auf dem Punkte stünde,
sich zu einem logischen Denkfehler hinreißen zu lassen, falsch,
d. h. genau genommen, nicht zu denken: so müsste ihn der
Gebrauch der Sprache verlassen; er müsste um das Wort oder
um die grammatische Form in Verlegenheit sein; es müsste
wenigstens jeder Denkfehler mit einem Sprachfehler, jeder Verstoß
gegen die Logik mit einem entsprechenden gegen die
Grammatik unablöslich und unvermeidlich verknüpft sein. So
ist es doch nun aber nicht; sondern der tollste Unsinn lässt
sich richtig und sogar in schönem Satzbau ausdrücken.

Da sowohl die organische Ansicht Becker's als die materialistische
Schleicher's auf metaphysische Betrachtungen gegründet
ist: so noch schließlich folgende Bemerkung.

Ich verstehe das Bedürfniss nach einem einheitlichen Alpha
und Omega, nach einem einheitlichen, monistischen Principe,
welches einer gegliederten Weltanschauung Halt und Leben gewährt.
Aber es ist doch eine Verkennung aller Methodik, ja
es ist eine Verkennung der Tragweite jeder Kategorie, wenn
zur Erkenntniss einer concreten Erscheinung mitten im vielfältigst
zusammengesetzten Getriebe der Welt ohne Weiteres —
ausschließlich der letzte, höchste Begriff herbeigezogen wird.
Was geht uns, die wir das Wesen der Sprache erforschen, die
metaphysische Monas an? Ob diese Welt nichts anderes ist
als Attribute und Modi der absoluten Idee, ob der Geist die
Wurzel oder die Blüte (Function) der Materie ist — wie fern
liegt uns diese Frage, wenn die Sprache unsere Vorlage ist!
Hüten wir uns doch, durch vielleicht ganz richtige, hier aber
übel angewandte Metaphysik, von Anbeginn die vorliegende
Tatsache zu fälschen.

Welches ist diese Tatsache? Nicht mehr als dies, dass
die Menschen einander den Inhalt ihres Bewusstseins durch
Laute mitteilen, also darstellen. Mehr haben auch weder Plato
und Aristoteles, noch Scaliger und die Männer von Port-Royal
55zunächst behauptet; sie sind gerade von der so gefassten Tatsache
ausgegangen. Sogleich der nächste Schritt aber war ein
falscher Schluss. Sie sagten: Ist die Sprache Ausdruck oder
Darstellung unseres Gedankens, so sind die Formen des
Gedankens auch die Formen der Sprache. Dagegen ist klar,
dass der Schluss nur so lauten darf:

Da die Sprache = Darstellung des Gedankens,
so sind die Formen der Sprache = Formen der Darstellung des Gedankens.

Ist das aber nicht dasselbe: Formen des Gedankens und
Formen der Darstellung des Gedankens? Gewiss nicht. Welcher
Art der Unterschied ist, muss deutlich gemacht werden.

Wenn der Sprachlaut ein weiches Wachs wäre, in welchem
sich der Gedanke wie ein Siegel ausprägte, so wäre wohl
in der Tat die Form des Gedankens im Laute ausgedrückt;
aber doch so, dass, was dort erhaben war, hier vertieft erscheint,
und was dort vertieft war, erhaben erscheint, und was rechts
war, ist links, und umgekehrt. Also ist der Ausdruck doch
nicht ganz wie das Ausgedrückte.

Eine andre geläufige Betrachtungsweise ist folgende: „In
den Sprachen spiegeln sich die Gedanken selbst, also auch deren
Bestandteile sammt ihren Verhältnissen.” Wie aber, wenn die
Sprache ein Spiegel wäre mit concaver oder convexer Fläche?
oder irgend wie gefärbt? Würden uns dann in den Sprachbildern
die Formen der Begriffe erscheinen?

Doch das ist es gar nicht, was ich meine. Nein, die Sprache
ist ein wunderbares Wachs; in ihr erscheint das Erhabene
erhaben, das Tiefe tief, und das Rechte rechts, das Linke links.
Die Sprache ist ein Spiegel von wunderbarer Glätte und Reinheit
— ich gestehe es zu. Was ich aber meine ist dies. Ist
der Spiegel so rein, so mag es uns, so mag es dem Maler, der
eine Person auffassen will, völlig gleichgültig sein, ob wir diese
Person unmittelbar oder nur im Spiegel sehen. Und so mag
der Logiker, wenn uns der Gedanke nicht unmittelbar erscheint,
seine Aufmerksamkeit auf dessen Spiegelbild in der Sprache
richten. Aber der Grammatiker? Ist es denn seine Aufgabe,
die Gegenstände, die sich in der Sprache spiegeln, oder auch
die Bilder, welche die Sprache bietet, zu betrachten? Nein,
der Spiegel selbst ist Gegenstand seiner Forschung, die Sprache,
nicht das in ihr Abgespiegelte und nicht dessen Bild. Wie
56dieser wunderbare Spiegel beschaffen ist, woher er seine Zauberkraft
hat, das will er erforschen. Die Sprache ist noch viel
wunderbarer, als hier angenommen ist. Sie ist nicht nur ein
so reiner Spiegel, dass er jede Form und jede Farbe unverfälscht
wiedergibt; sondern dieser hat die Kraft, was er widerspiegelt,
geradezu in seinem Dasein zu verdoppeln und so viel
mal zu vervielfachen, als Personen hineinblicken, ja er hat die
Kraft, dass, wer hineinsieht, mit Hülfe der erblickten Begriffe
neue Begriffe erzeugen kann. Woher kommt ihm diese Kraft?
— Was tut nun der, welcher uns den materiellen Spiegel erklären
will? Spricht er von den Dingen, die sich möglicherweise
einmal in ihm spiegeln können? (Das wäre ja töricht!)
Nein, von Zurückwerfung der Lichtstrahlen und den dabei obwaltenden
mechanischen Gesetzen. So soll also auch der, von
dem wir Belehrung über den Sprach-Spiegel erwarten, nicht
von den Gedanken reden, die sich wohl gelegentlich darin
spiegeln können, sondern von der Natur dieses Spiegels an sich
und von dem allgemeinen Processe der Abspiegelung der Gedanken
im Laute.

Der Sprachlaut ist weder ein Wachs, noch ein Spiegel,
sondern kann nur gewissermaßen damit verglichen werden,
lieblicher ist es, zu sagen, die Sprache sei Darstellung des
Gedankens; und das ist passender und führt uns darauf, die
Analogie der Sprache mit der Kunst zu verfolgen. Denn auch
diese ist ja Darstellung. Denken wir uns also einen Fall.

Ein Maler stellt Napoleon dar nach seiner Unterzeichnung
der Entsagungsacte in Fontainebleau. Der Ästhetiker will uns
dieses Kunstwerk analysiren. Wenn er nun in dieser Absicht
den Vorgang der Abdankung oder überhaupt die Geschichte
Napoleon's nach den historischen Quellen erzählte *)9, was hätte
er getan? Dasselbe was der Grammatiker tut, welcher die
Formen des Gedankens, der in der Sprache dargestellt ist, statt
der Form dieser Darstellung erörtert. — Wir stehen vor der
Bildsäule Friedrich's des Großen; was haben wir vor uns? Den
Stein-gewordenen Friedrich? So wenig wie das Wort das Lautgewordene
Ding ist. Das Wort aber soll der verlautlichte Gedanke
57sein; ist etwa die Bildsäule Friedrich's der versteinerte
Gedanke von jenem Könige, der durch Heldenmut und Führerkunst
in solchen und solchen Schlachten wie durch Regierungsweisheit
im Frieden die Großmacht Preussen schuf und dadurch
dem deutschen Volke einen neuen Lebenskeim einpflanzte? Auch
das nicht, wenigstens nicht eigentlich und unmittelbar. Dann
ist aber auch das Wort nicht eigentlich und unmittelbar der
verlautlichte Begriff.

Aber auch diese Betrachtung gibt uns eine positive Hinweisung
auf den Gegenstand, der die eigentliche Aufgabe des
Grammatikers bildet. Wer von einem Gemälde oder einer Bildsäule
Friedrich's oder Apollo's berichten wollte, der hätte wohl
zuerst von dem Stoffe und den äußeren Verhältnissen dieser
Kunstwerke zu berichten. Es ist ein Öl- oder Fresco-Gemälde,
so und so hoch und breit; es ist ein Stand-Bild von Marmor
oder Erz, in einfacher oder doppelter Lebensgrösse. So hat
ganz analog der Grammatiker, der über eine Sprache berichtet,
vor allem die Lautlehre zu geben. Was Friedrich, Napoleon
in der Geschichte war, was Apollo im Glauben der Hellenen
galt, überlassen wir dem Historiker und Mythologen; das hat
der Ästhetiker nicht zu lehren. Aber hat dieser bloß von
dem materiellen Stoffe der Kunstwerke zu reden ? und gar nicht
von etwas Innerem ? 0 doch! Wir wollen etwas darüber hören,
wie der Künstler seine Vorlage aufgefasst habe. Napoleon
oder Friedrich nach dem Überfalle bei Collin völlig zerknirscht,
ergeben, oder im Gegenteil sich gegen das gegenwärtige Missgeschick
stemmend; ohnmächtig brütend oder gefasst berechnend.
Apollo als der reine Lichtgott oder als der furchtbare fernhintreffende
Schütze. Und wie hat der Künstler dies ausgedrückt?
Der Held wird stehend oder sitzend oder liegend dargestellt;
so hält er den Kopf, so den Leib, so die Glieder; so ist das
Auge und die Stirn, so die Lippe. So soll auch der Grammatiker,
nachdem er vom Laute gesprochen, nicht von Begriffen
und Denkformen reden, sondern davon, wie die Sprache darstellt,
wie sie alle Gegenstände auffasst, concipirt.

Ist nicht das Schauspiel ein Bild der Welt? Man hat es
oft genug gesagt. Sind darum die Formen des Lebens zugleich
die Formen des Schauspiels? Formen des Menschenlebens sind
die sittlichen Institutionen des Staates, der Familie, der Gesellschaft,
58sind Wissenschaft und Kunst u. s. w. Das Schauspiel
aber hat seine eigenen Kategorien, als da sind: Coulissen und
Schauspieler und Gesetze des Dramas.

Wie das künstlerische Schaffen ein äußeres und ein inneres
ist, wozu der geschichtliche oder natürliche Gegenstand, der
dargestellt werden soll, nur die Grundlage liefert: so ist auch
die Sprache ein äußeres und inneres Bilden und Gestalten, noch
ganz abgesehen von dem darzustellenden Gedanken. Der Ästhetiker
erzählt uns nicht die Geschichte Friedrich‘s, Napoleon's,
den Mythos von Apollon, sondern zeigt, wie die Taten und
Schicksale dieser Helden, der Glaube der Hellenen in den
Gestalten, welche der Künstler in seiner Anschauung trug, und
die er dem Steine anbildete, einen sinnlichen Ausdruck gefunden
haben. Die Sprache hat in der Tat ebenfalls außer der äußeren
noch eine innere Seite; aber diese innere Seite ist noch verschieden
vom Gedanken. Ist die Sprache die Form des
Gedankens, so ist der Gedanke ihr Inhalt; die Sprachform
aber ist zwiefältig: äußere Sprachform oder Laut und innere Sprachform,
die verschieden ist von der logischen Form
des Inhalts an sich, wie die Form der Bilder etwas Anderes
ist als die Form der Geschichte, welche sie darstellen.

Die Sprache an sich ist zwiefaltig, die Rede dreifältig;
denn in der Rede ist der Gedanke mit seinen logischen Formen
und die Sprache mit ihrer Lautform und ihrer inneren Form.
So ist auch jedes Kunstwerk dreifältig; es stellt erstlich eine
Idee dar, einen Inhalt, wie die Sprache, und an sich hat es
wie diese zweitens ein äußeres Material und drittens eine innere
Form, welche im Material äußerlich wird.

Nahe liegt auch, Sprechen als menschliche Tätigkeit mit
Sehen und Hören zu vergleichen, wie man so oft getan hat.
Nur hat man verkannt, dass auch hier nicht bloß zwei Momente,
sondern drei zu unterscheiden sind. Zum Sehen gehört erstlich
ein Organ, das Auge, dessen Bildung uns der Anatom darlegt,
wie die Lautlehre die Sprache secirt. Gesehen werden Dinge,
oder, wenn man will, Licht und dessen Modificationen, Farben
und Schatten. Was würde man nun zu dem Physiologen sagen,
der eine Physiologie des Sehens verspräche und, nachdem er
die Anatomie des Auges gegeben hat, die physikalischen Eigenschaften
des Lichts erörterte, vom Raume, vom Kreis und
59Dreieck u. s. w. spräche? Gerade dies tut aber der logische
Grammatiker, der nach der Betrachtung des Sprachlauts, statt
die Physiologie des Redens darzulegen, vom Besprochenen, vom
Inhalte der Rede, von dessen logischen Formen und metaphysischen
Kategorien handelt.

Noch eine Analogie. Der Webstuhl ist auch ein verkörperter
Gedanke; der Techniker soll ihn uns analysiren. Er
spricht aber von den Stoffen, welche verarbeitet werden, und
von den Erzeugnissen der Webekunst: ein solcher Techniker
ist der logische Grammatiker. Auch hier nämlich treten, wie
in den früher beigebrachten Analogien, drei Momente hervor.
Erstlich das Werkzeug, der Webstuhl; dem entspricht die
Sprache als vorliegende Volkssprache; zweitens der zu verwebende
Stoff dort, der Denkinhalt hier; drittens die Tätigkeit
des Webens und des Sprechens. Der Stoff ist zuerst der rohe,
das Material, und ist dann gewebtes Zeug; so ist auch der
Gedankeninhalt anders vor dem sprachlichen Ausdrucke und
anders, nachdem er in der Sprachform dargestellt ist.

Hiernach ist klar, erstlich negativ: dass weder Sprache und
Denken, noch auch die Formen der Sprache mit denen des
Denkens identisch sind. So wenig die Bildsäule Cäsars eine
Darlegung unserer geschichtlichen Erkenntniss von Cäsars Charakter,
Talent, Taten, Verdiensten enthält, obwohl sie dies gewissermaßen
allerdings darstellt: so wenig ist auch die Sprache
an sich der Inhalt unseres Denkens, wenn sie ihn auch darstellt.
Es ist also auch zweitens positiv klar, dass der Grammatik,
abgesehen von der Lautlehre, von der bloßen Betrachtung
des materiellen Stoffes der Sprache, als eigentliche Aufgabe
dies zufällt, zu zeigen, wie die Sprache verfährt, um, ähnlich den
Kunstwerken, Gedanken darzustellen, oder um, ähnlich dem
Auge, welches uns Farben und Formen, dem Ohre, welches
Schälle und Töne zuführt, Gedanken zu Bewusstsein zu bringen.

Dass Sprechen und Denken nicht identisch sein können,
gerade weil die Sprache den Gedanken darstellt, lehrt schon
die einfache Betrachtung, dass ja, wenn etwas, es sei A, ein
Anderes, es sei B, darstellt, jenes A nicht mit B identisch sein
kann. Sonst würde sich B unmittelbar darstellen, d. h. sich
selbst hinstellen. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, welche
60Bedeutung der Fehler hat, den man mit der Identificirung von
Sprechen und Denken, und folglich von Grammatik und Logik,
begangen hat. Der logische Grammatiker ist mit seiner Darlegung
gar nicht bei der Sprache; er spricht bloß von Dingen,
die nur in näherer oder fernerer Beziehung zu ihr stellen; er
ist beim Gedanken, und also, am es kurz auszudrücken, Logiker.
Die logische Grammatik ist Logik; denn sie ist die Wissenschaft
des Gedankens.

Man behauptet also mit der Identität von Sprechen und
Denken, von Grammatik und Logik etwas, was man gar nicht
will. Denn man behauptet, es gebe, abgesehen von der Lautlehre,
nur Logik, während man doch neben der Logik eine
Grammatik schaffen will, wie ja doch auch tatsächlich seit zwei
Jahrtausenden Grammatik neben Logik bestanden hat und immer
noch besteht.

Man wollte die Grammatik aus der Logik ableiten, auf sie
zurückführen. Wenn man nun aber behauptet, in der Sprache
seien die Denkgesetze selbst schlechthin zu erkennen, so hat
man ja gar kein Mittel der Ableitung mehr. Man kann doch
etwas aus etwas nur ableiten, wenn zu dem, woraus abgeleitet
werden soll, irgend etwas specifisch Differentes hinzugenommen
wird. Also muss doch zur logischen Kategorie, wenn eine
grammatische daraus werden soll, irgend etwas nicht Logisches
hinzutreten. Von diesem differenzirenden Elemente war im
Drange der Identificirung nirgends die Rede.

Nun bleibe zunächst dahingestellt, ob es auch nur eine
einzige Kategorie oder Form in der Grammatik gibt, die schlechthin
logisch wäre; aber offenbar gibt es in der Grammatik wenigstens
Vieles, was völlig unlogisch ist.

Es wird z. B. zugestanden, dass die Sprache ursprünglich
nur für die sinnliche Anschauung Formen geschaffen hat; für
die eigentlichen Denkgesetze als solche aber habe sie keinen
besonderen Ausdruck, sondern diese werden unter die Anschauungsformen
gestellt Nun fragen wir aber: wie ist es denn
möglich, wenn anders die Sprache die organische Verleiblichung
des Gedankens ist, dass die Anschauung zwar als Anschauung,
aber nicht auch der Begriff und die Formen des Denkens als
Begriff und als Denkformen geäußert werden? Woher kommt
es, dass das Organ des Gedankens nicht das Concrete als solches
61und das Abstracte als solches verleiblicht, sondern dieses
durch jenes ersetzt und Uebergänge von Formen in einander
gestattet? Erst die Wissenschaft hat der Sprache die Abstractionen
geschaffen, und hat ihr also wesentliche Elemente
hinzugefügt. Hat etwa eben so das Auge mit seiner vollendeten
Bildung so lange warten müssen, bis die Optik es hätte als
einen vollkommenen Seh-Apparat construiren können?

Wenn andrerseits die Sprache unterscheidet, was zu unterscheiden
die Logik gar keine Veranlassung hat, wie Geschlechter
der leblosen Dinge, so sucht man sich wohl damit abzufinden,
dass man auf die Poesie hinweist, welche in der Sprachbildung
hersche. Die Sprache gehe von einer Vorstellungsweise aus,
welche jedem Wesen eine Seele gibt. Aber wie ist das möglich?
Wenn die Sprache die verkörperte Logik ist, wie kann
die Poesie so störend eingreifen? Nenne man es immerhin
nicht störend, sondern fördernd, die Frage bleibt immer: wie
ist solcher Eingriff oder solche Mithülfe der Phantasie in die
logische Sprach-Geburt möglich?

Das alles ist nur möglich und begreiflich, wenn wir erkennen,
dass die Sprache unabhängig von der Logik
ihre Formen in vollster Autonomie schafft. Und nur
dann ist auch die Verschiedenheit der Sprachen nach der äußeren
und auch nach der inneren Seite hin möglich.

Es liegt ja schon im Wesen der Darstellung überhaupt,
dass sie ganz und lediglich nach eigenen Gesetzen verfährt,
welche aus der Natur ihres Mittels und ihres Zieles folgen, aber
nicht von dem darzustellenden Gegenstande dictirt werden.
Denn jede Darstellung ist ihrem Gegenstande wesentlich inadäquat.
Der Körper, der nach drei Richtungen hin ausgedehnt
ist, wird vom Maler auf der Fläche, also bloß mit Hülfe zweier
Richtungen, dargestellt. Die Sprache, die sogar nur in einer
Richtung, zeitlich, abläuft, stellt ihn auch dar. Sie, die sich
durchaus im Flusse der Zeit befindet, schildert Gleichzeitiges,
ein Nebeneinander im Raume. Sie, die linienartig, d. h. punctuell
in einer Richtung abfließt, stellt sogar die wunderbar mannichfachen
Verbindungen und Verhältnisse der in unendlich vielen
Richtungen sich entwickelnden Gedanken dar. Wie vermöchte
sie das, wenn sie nicht autonom wäre! Wie könnte die Logik,
die sich wohl um die Verhältnisse der Gedanken, aber nicht
62um ihre Darstellung kümmert, die Sprache belehren oder ihr
vorschreiben, wie sie darstellen solle.

Die jetzt unter allen namhaften Sprachforschern herschende
Ansicht behauptet auch in der Tat die Identität von Grammatik
und Logik nicht mehr. Immer aber glaubt man doch noch die
Grammatik auf Logik und Metaphysik zurückführen, sie mit
diesen vermitteln zu können und zu müssen. Diese sollen für
die letzte Begründung der sprachlichen Erscheinungen den Ausgangspunkt
bilden. Der vorzüglichste Vertreter dieser Ansicht
ist Wilhelm von Humboldt. Nur muss ich sogleich hinzufügen,
dass nicht auch umgekehrt diese Vermittlung die vorzüglichste
Seite Humboldt's ist, wie sie denn auch nur in seiner ersten
Abhandlung über das vergleichende Sprachstudium ausgesprochen
ist, in der Einleitung in die Kawi-Sprache aber sehr zurücktritt.
Doch läßt sich auch andererseits durchaus nicht sagen, dass
Humboldt dieselbe jemals aufgegeben habe. Sie scheint mir
nun folgende zu sein.

Die Kategorien der Sprache sind dem größten Teile nach
logischen Wesens, allgemeine Denk- und Anschauungsformen,
die ein abgeschlossenes System bilden. Dieses System aber der
grammatischen oder grammatisch-logischen Formen gehört, eben
weil es ein logisches ist, gar nicht der Sprachwissenschaft an,
wenigstens noch nicht eigentlich und streng genommen; sondern
es bildet ihren allgemeinen Hintergrund. Es enthält die Lehnsätze
aus der Logik, welche der Sprachwissenschaft unerlässlich
sind. Das ist es nun, was man philosophische oder allgemeine
Grammatik nennen mag, was aber noch gar nicht Grammatik
ist, sondern nur eine Zusammenstellung der logischen Kategorien,
welche für die Grammatik in Betracht kommen. Andererseits
aber ist dieses Kategorien-System doch auch nicht mehr
rein logisch; denn es enthält nicht bloß reine Lehnsätze aus
der Logik, sondern die Kategorien sind schon in ein bestimmtes,
nicht durch die Logik gegebenes Verhältniss zu
einander gebracht, und in bestimmter, nicht von der Logik vorgezeichneter
Weise modificirt worden. Das Leitende dieser
Verhältnisse und Modificationen aber ist die Rücksicht auf die
Grammatik, auf die Bedürfnisse der Sprache. Diese logische
Grammatik, welche weder Grammatik noch Logik ist, bildet das
vermittelnde Glied zwischen beiden und spricht, wenn man einerseits
63von der Logik ausgeht, die Forderungen der Logik an die
Sprache, wenn man andererseits von der Grammatik ausgeht,
das Bedürfniss der Sprache nach ihrer logischen Seite aus.

Zu dieser logischen, idealen Grammatik, welche die wirklichen
Sprachen noch nicht berührt, käme nun erst die wirkliche
Grammatik, welche nicht bloß zu sehen hätte, welche Lautformen
in jeder Sprache für die Kategorien der idealen Grammatik
existiren, sondern auch, ob das ideale Kategorien-System in
einer Sprache vollständig und ohne Lücke, rein nach der idealen
Bedeutung oder im Gegenteil nur mit getrübter Bedeutung,
ausschließlich oder mit fremdartigen Elementen vermischt, enthalten
ist. Denn nach allen diesen Beziehungen weichen die
wirklichen Sprachen von der idealen Grammatik ab. Sie besitzen
teils das ideale Schema nicht vollständig, teils haben sie
die Bedeutung einzelner Kategorien getrübt, teils haben sie
ganz eigentümliche, weder der Logik angehörige, noch dem
Wesen der Sprache notwendige Kategorien geschaffen und nicht
nur mit letzteren den Mangel des Schemas ersetzt, sondern sogar
dieselben in wuchernder Üppigkeit entwickelt. Die Phantasie,
Poesie ist die Macht, welche sich dem logischen Bedürfniss
beigesellt, die Formenbildung fördert, aber bald die Strenge der
Logik abstumpft, bald über ihre Forderungen hinaus Gebilde
schafft, je nach der Individualität des Volkes. Diese wirkliche
Grammatik zerfiele in eine besondere und eine allgemeine. Die
besondere hätte die eben bestimmte Aufgabe für die besondere
Sprache zu erfüllen; die allgemeine hätte zu zeigen, welche Kategorien
wohl überhaupt in der Sprache der Menschheit auftreten
und in welchem Grade und in welchem Umfang jene idealen Kategorien
der logischen Grammatik in den wirklichen Grammatiken
umgestaltet worden sind, und welche Größe und Bedeutung der
Abstand der einzelnen Sprachen von einander erreicht hat. Für
diese allgemeine Grammatik würde die ideale gewissermaßen
das Knochengerüste bilden. Die ideale würde aber auch erst
durch die allgemeine mit sprachlichem Fleisch und Blut bekleidet
werden und erst durch sie etwas anderes sein als ein
todtes, trockenes Gerippe — lebendiger Leib; denn selbst die
durchaus selbständigen Schöpfungen der Sprache, die Kategorien,
in denen sie ihre Autonomie zeigt, eben so wie jene Kategorien,
die ihrer Bedeutung nach nur durch die individualisirende
64Richtung mehr oder weniger umgestaltet sind, müssten sich als
Unter- und Abarten der idealen Kategorien an sie anschließen.

Diese Ansicht, ohne dass sie meines Wissens in dieser Bestimmtheit
und Vollständigkeit irgendwo ausgesprochen wäre,
ist, wie gesagt, unter den bedeutenden Sprachforschern verbreitet
und von Humboldt häufig und vielfach angedeutet. Auch
hat sie, wie nicht zu verkennen ist, als vermittelnde viel Empfehlendes.
Dennoch kann ich mich ihr nicht anschließen, weil
ich es für unmöglich halte, aus der Logik Forderungen abzuleiten,
die sich an die Grammatik stellen ließen.

Ich befinde mich aber hier in der übeln Lage, vom Wesen
und Inhalt der Logik eine feste Ansicht voraussetzen zu müssen,
während hierüber noch Streit obwaltet. Indessen wird sich
hoffentlich zeigen, dass, wie verschieden auch die Ansichten sein
mögen, doch nach jeder derselben die folgende Darlegung ihre
Richtigkeit behält.

Zuerst berufe ich mich auf die Tatsache, dass, seitdem
die logische Grammatik als besondre Disciplin besteht, seit dem
Werke der Männer von Port-Royal, meines Wissens nie mehr
ein Logiker sich auf die Ableitung der Sprachformen aus der
Logik eingelassen hat, obwohl das bei Aristoteles und in der
Stoa der Fall war. Die Bildung einer speciellen Disciplin der
philosophischen Grammatik hatte gerade die Ausscheidung grammatischer
Punkte aus der Logik zur Folge; sie hat in der Tat
das Verdienst, die Logik von einem störenden Ballast befreit
zu haben. Nur E. Reinhold (Lehrbuch der philosophisch-propädeutischen
Psychologie und der formalen Logik. 2. Aufl. 1839,
S. 327 ff.) meinte, „der Logik gebühre die Begründung und
Nachweisung der für die grammatische Vermittlung des Denkens
schlechterdings erforderlichen Sprachformen.” Der Leser
möge von Reinhold's Befähigung zu logischen Untersuchungen
denken, wie er wolle: er wird sie nicht für geringer erachten,
als die irgend eines Verfassers einer philosophischen Grammatik.
— Und zu welchem Ergebniss gelangt er? „Durch die logische
Natur des bewusstvollen Vorstellens werden mit Unerlässlichkeit
erfordert das ursprüngliche Substantiv, das ursprüngliche
Adjectiv und das aus dem ursprünglichen Adjectiv abgeleitete
Substantiv, endlich das Zahlwort” — dies und nicht mehr.
Verbum also, Adverbium, Artikel, Pronomen, Präposition,
65ebenso Flexion, nominale wie verbiale, die Wortbildung eingeschlossen,
sind „in logischer Hinsicht außerwesentliche Formen”,
und auch von der Wortstellung „gilt, dass sie in keinem
Zusammenhange unserer Vorstellungen mit Notwendigkeit durch
das Denken bestimmt wird.” Also alles, was den wesentlichsten
Inhalt der Grammatik ausmacht, fällt aus der Logik heraus,
stammt aus dem „Bedürfniss eines leichtern und bequemem
Ausdrucks”.

Wer aber meint, die philosophischen Grammatiker hätten
es doch wohl besser verstanden, die grammatischen Kategorien
und Formen logisch abzuleiten, der wird sich bald überzeugen,
dass es ihnen nicht besser ergangen ist, und dass auch sie das
Allermeiste aus der Bequemlichkeit und Schönheit des Ausdrucks
ableiten, die Männer des Port-Royal, Condillac und alle
Andern.

Wenn es nun aber scheint, so sei doch immerhin etwas
Logisches in der Grammatik, wenn auch noch so wenig, so
wird auch das Wenige wieder zurückgenommen, da eingestanden
wird: „Was hier durch die logische Natur unseres Denkens
zunächst schlechthin erfordert wird, ist nur das Vorhandensein
jener Wortarten als der grammatischen Vorstellungsmittel der
Bestandteile des Urteils. Dass jene Arten sich auch durch ihre
grammatischen Formen von einander unterscheiden, ist zwar sehr
zweckdienlich und wird in diesem Sinne durch die Logik von
der Sprache verlangt; aber es ist nicht unumgänglich erforderlich,
wird nicht mit strenger Notwendigkeit erheischt.” *)10

Somit begibt sich die Logik in Wahrheit aller Forderungen
an die Sprache. Diese schafft ihre Formen in eigenem Drange,
nach eigenen Gesetzen.

Zweitens aber zeigt auch folgende Überlegung, wie wenig
eine Vermittlung zwischen Logik und Grammatik statthaben
kann. Es sind nur zwei Fälle möglich: entweder die Logik
übt volle Herrschaft über die Sprache, weil sie selbst der in
66der Sprache schöpferische Trieb, die in ihr sich verkörpernde
Idee ist; oder die Sprache ist der Logik gegenüber eine eigentümliche,
d. h. besondere Kräfte verwendende, Schöpfung. Im
erstem Falle kann die Sprache um kein Haar breit von der
Logik abweichen; es darf keine Grammatik geben, nur Logik.
Wie kann die Sprache der Logik gegenüber eine Autonomie
haben? denn wie kann sie ihr gegenüber etwas sein? sie,
die an sich selbst nichts ist als verleiblichte Logik. Auch
die Verschiedenheit der Sprache in Rücksicht auf die Kategorien
ist unmöglich; woher soll irgend welche Umgestaltung
kommen? Die allgemeinen logischen Gesetze des Denkens sind
so fest, so starr, dass sie nicht die geringste Nüancirung erdulden,
nicht in mir, nicht in dir, nicht im Chinesen, nicht im
Buschmann; also müssten auch alle Sprachen gleich sein.

Andererseits aber, herscht in der Sprache Autonomie,
kann sie teils selbständig schaffen, teils sogar das, was ihr die
Logik durch die logische Grammatik bietet, umgestalten, wenn
sie es annimmt, aber auch liegen lassen: so ist sie überhaupt
und überall selbstherrschend, und keine Logik hat das Recht,
Forderungen an sie zu stellen, welche von der Sprache so
wenig angehört werden, als sie selbst ein Bedürfniss nach Logik
kund gibt. Wo wäre denn je in der Natur ein solches
Verhältniss, dass berechtigte Forderungen unerfüllt blieben?
ein Bedürfniss die dargebotene Befriedigung zurückwiese? Vielmehr
überall in ihr, wo wir etwas vermissen, haben wir kein
Recht zu fordern oder ein Bedürfniss zu erdichten. Wir können
uns freilich auf einen ästhetischen, idealen Standpunkt stellen
und die Dinge rücksichtlich ihrer Vollkommenheit messen; wir
können die Natur kritisiren. War es zweckmässig, schön von
ihr, die Dinge so einzurichten, wie sie sind? Ist das Auge ein
guter optischer, das Ohr ein guter akustischer Apparat ? Fügen
sich die Muskeln so an die Knochen, dass die grösste Kraft der
Bewegung erreicht wird? und wenn nicht, geschah es vielleicht
im Dienste eines höheren Zweckes ? u. s. w. Man braucht
oder darf sogar sich von solchen Untersuchungen nicht dadurch
abhalten lassen, dass man leicht Gefahr läuft, subjective Bedürfnisse
zum Maßstabe zu nehmen; aber man muss auch diese
Gefahr wirklich überwinden, indem man die Untersuchung
gänzlich auf die objective Erkenntniss des Dinges an und für
67sich gründet. Die Forderung, die dem Dinge gestellt wird,
muss von ihm selbst ausgesprochen sein. Das Auge will sehen,
das Ohr hören; davon können wir nicht absehen; und so lässt
sich fragen, ob sie dergestalt organisirt sind, dass sie sich selbst
genügen? Wodurch bekundet nun aber wohl die Sprache, dass
sie der Logik genügen, logisch sein wolle? sie, die der Logik
spottet? sie „nüancirt”, d. h. verhöhnt? Was gibt uns ein
Recht, ihre Vortrefflichkeit an der Logik zu messen? Wenn
die Logik immer der Sprache fremd ist, bleiben wir dann nicht
mit diesem logischen Maßstabe außerhalb der Sprache? durchaus
subjectiv? Ist die Sprache autonom, so liegt ihre Vortrefflichkeit
auch nur darin, diese Autonomie recht kräftig walten
zu lassen; die Kraft ihrer Autonomie ist der objective Maßstab
für die Vortrefflichkeit der Sprache. Und selbst wenn die
Sprache die Entwicklung der Erkenntniss, des logischen, verständigen
Denkens fördert, so kann sie es nur durch ihre Autonomie,
nicht durch Unterwerfung unter die ihr fremde Logik;
sie kann nur kräftig wirken vermittelst und gemäß ihrer eigentümlichen
Natur, nicht durch ihre Unnatur. Ihre Autonomie
aber wäre ihre Natur, die Logik ihre Unnatur.

Also entweder die Logik verschlingt die Grammatik, oder
die Grammatik macht sich völlig frei von der Logik.

Becker sagt (Organism, S. XV): Will man „läugnen, dass
die allgemeinen formalen Denkgesetze sich in der Sprache wieder
finden, so läugnet man nicht allein die organische Natur der
Sprache, sondern auch die organische Natur des Denkens”. —
Keins von beiden; man trennt nur beides, die organische Natur
der Sprache von der des Denkens.

Und so hoffen wir, man werde uns nicht den absurden Einwand
machen: wenn die Sprache nicht logisch ist, so sei sie
unlogisch, unvernünftig, was doch der Sinn der eben citirten
Bemerkung Becker's war. In diesem Einwande liegt ein ganz
gemeiner Fehler gegen die formale Logik: man schiebt einem
contradictorischen Verhältnisse den Wert des conträren Gegensatzes
unter.

Wir können dasselbe, was wir soeben sagten, auch so ausdrücken:
man beachte nicht die Doppelbedeutung des Wortes
logisch. Dieses Adjectivum bedeutet eben sowohl, was zur
68Wissenschaft der Logik gehört, z. B. eine logische Frage, ein
logisches Gesetz, als auch was den Gesetzen der Logik gemäß,
überhaupt vernünftig eingerichtet ist. Nur nach dem ersten
Sinne wird behauptet, die Sprache sei nicht logisch; nicht nach
dem zweiten.

Um sich an diesen Unterschied zu gewöhnen, um ihn fest
halten zu lernen, wende man den Blick einmal auf andere
Wissenschaften. Die Physik, Chemie, Mathematik u. s. w. sind
nicht logisch, die Natur ist nicht logisch, d. h. es sind in ihnen
keine logischen Tatsachen, Kategorien und Lehrsätze gegeben;
aber sie sind darum doch sehr logisch, indem ihre Entwicklungen
nach den Gesetzen der Logik durchgeführt sind. Dasselbe
gilt von der Geschichte, und wenn man meint, und wenn
Hegel selbst gemeint hat, aus seinem Satze: „Alles, auch die
Geschichte sei logisch, vernünftig” müsse gefolgert werden, in
der Geschichte seien logische Kategorien darzustellen, und die
Völker und die Ereignisse und Zustände seien als die geschichtlichen
Verwirklichungen der logischen Kategorien aufzufassen:
so scheint mir dies gerade derselbe Fehler, wie der, welchen wir
hier rücksichtlich der Sprache tadeln.

Der Gegenstand der einzelnen Wissenschaften ist ihnen
eigentümlich, nicht bloß der Stoff, sondern auch die an ihm
hervortretenden allgemeinen Verhältnisse, die man eben Kategorien
nennt, wie die Kenntnis der chemischen Stoffe und die
Verhältnisse, nach denen sie sich mit einander verbinden, wie
Kreis, Peripherie, Durchmesser und die Verhältnisse, in denen
sie zu einander stehen. Indem sich aber unsere Tätigkeit des
verständigen Denkens über diese Gegenstände und diese Verhältnisse
erstreckt, so verfährt sie hierbei in einer Weise, in
welcher die Formen der Logik sichtbar werden; denn die Logik
ist eben die Analyse des Denkens, d. h. der Denktätigkeit, abgesehen
von dem Gegenstande, auf den sie angewandt wird.
Noch mehr: die Natur erzeugt Gegenstände, und verfahrt dabei
durch Mittel und in einer Weise, welche die specielle Naturwissenschaft
als ihren besondern Gegenstand darzustellen hat.
Indem wir diese Verfahrungsweise im Denken reproduciren und
den realen Gang des Werdens der Sache in einem subjectiven,
begrifflichen Abbilde darstellen, bemerken wir im Denken nicht
bloß, sondern in der wirklichen Natur selbst logische Verhältnisse,
69die ihr inne wohnen, logische Gesetze, die sie unverbrüchlich
befolgt.

Ganz eben so wie die Natur und die Naturwissenschaften,
ist auch die Sprache und die Sprachwissenschaft logisch und
nicht logisch: nämlich ihr Gegenstand mit seinen Verhältnissen
ist ihnen eigentümlich; aber indem man diesen Gegenstand und
diese Verhältnisse denkt, bemerkt der Logiker, dass sowohl der
Sprachforscher nach logischen Gesetzen handelt, als auch, dass
bei dem Verfahren der Sprache, ihre Elemente zu bilden und
nach eigentümlichen Gesetzen zusammenzufügen, logische Rücksichten
und Gesetze unbewusst gewaltet haben. Diese logischen
Gesetze, welche die Sprache und der Sprachforscher, der Chemiker
und Physiker und die Natur befolgen, sind die gemeinen
logischen Gesetze, deren Darlegung der Sprach- und Naturforscher
voraussetzt, die er nicht erforscht, die nicht sein besonderer
Gegenstand sind.

Nach allem, was vorangegangen ist, kann die allgemeine
Scheidung der sprachlichen oder grammatischen Verhältnisse von
den Verhältnissen des Denkens und der Logik nicht mehr ungewiss,
noch auch schwierig.sein. Wir geben aber doch noch
ein neues Beispiel. Es tritt Jemand an eine runde Tafel und
spricht: diese runde Tafel ist viereckig: so schweigt der Grammatiker
vollständig befriedigt; der Logiker aber ruft: Unsinn!
Jener spricht: dieser Tafel sind rund, oder hic tabulam sunt rotundum:
der Logiker an sich versteht weder Deutsch, noch Latein
und schweigt, der Grammatiker tadelt. Gibt man aber dem
Logiker zu seinem allgemeinen logischen Maßstabe noch das
besondere grammatische Gesetz der Congruenz, so würde auch
er tadeln. Ein solcher Logiker, der zu den logischen Gesetzen
noch ein grammatisches hinzubringt, ist eben der Grammatiker.
Denn dieser ist, außerdem dass er Grammatiker ist,
noch überdies Logiker, d. h. nach logischen Gesetzen denkend
und beurteilend; aber der Logiker ist nicht auch Grammatiker.
Würde nun der obige Satz corrigirt: hoc tabulum est rotundum,
so wäre der Logiker selbst mit Kenntniss der Congruenzregel
befriedigt. Der Grammatiker aber hat eine fernere Kenntniss
der Sprache und verbessert: tabula. Dies genügt dem Logiker,
um das Übrige zu corrigiren; d. h. nun ist der Grammatiker
gezwungen, eine logische Anwendung der Regel der Congruenz
70zu machen. Also die Congruenz-Regel und das bestimmte
Genus des Wortes tabula sind Verhältnisse, die ausschließlich
der Grammatik gehören; und sie mit ihresgleichen machen den
Gegenstand der Grammatik, die Sprache aus. In dem formalen
Verfahren aber, in der Anwendung der sprachlichen Gesetze
auf sprachliche Stoffe, tritt notwendig die Logik ein.

Von einem Knaben wird das perfectum indicat. activi von
laudare verlangt; er wird diese Form durch eine Reflexion,
durch einen logischen Schluss finden, vorausgesetzt, dass er
die lateinische Conjugation versteht. Die logische Operation ist
sogar ziemlich lang, so schnell der Knabe sie auch macht. Er
operirt mit sprachlichem Stoffe in logischer Form.
Was aber hier in Beziehung auf die logische Denkform sprachlicher
Stoff heißt, das sind nicht bloß die Wurzel Wörter, sondern
auch die grammatischen Formen und Verhältnisse, überhaupt
Alles, was die Sprache ausmacht.

Wie es also chemische Kategorien gibt (z. B. Sauerstoff,
Atom, Wahlverwandtschaft), physikalische und physiologische
(z. B. Wärme, Elektricität, Atmen, Verdauen): so gibt es
grammatische, z. B. Substantivum, Verbum, Attribut; wie die
Natur und der Naturforscher mit ihren Kategorien logisch
operiren: so auch die Sprache und der Sprachforscher; wie
aber hierdurch die Naturwissenschaft und die Natur nicht logisch
werden: so auch nicht Sprachwissenschaft und Grammatiker;
sondern hier wie dort bleiben die Kategorien jeder Wissenschaft
eigentümlich, von denen die Logik nichts weiß, um deren Gehalt,
Berechtigung, Herkunft sie sich nicht kümmert, zufrieden
damit, dass jene Kategorien sowohl jede an sich, als auch die
Beziehung mehrerer zu einander, denkbar, d. h. logisch richtig
gedacht seien.

Das formalste Element der Sprache, ihre formalste Tätigkeit,
ist immer noch Stoff, ein ganz besonderer Stoff, ein Beispiel
für die Logik, und kann eintreten in die Logik, wie tausend
andere Beispiele; aber weder ist die Sprache Herr in der Logik,
dass sie dort in irgend einem Abschnitte gebietend auftreten
könnte, noch kann sie sich das Einreden der Logik gefallen
lassen, sobald es sich um ihre Elemente als solche, um den
Inhalt derselben handelt.

Die Sprache ist also gerade darum nicht unlogisch (dieses
71Wort als conträren Gegensatz zu logisch genommen, also im
Sinne von: die Logik verletzend, gegen sie verstoßend), weil
sie nicht logisch ist (d. h. keine logischen Kategorien und Gesetze
aufstellt, sondern ganz eigentümliche). Die sprachlichen
und logischen Kategorien sind also disparate Begriffe, die ruhig
neben einander bestehen, wie Kreis und rot; und es beweist
schon ein Missverstehen des wahren Verhältnisses, wenn man
die Sprache an der Logik messen will, sei es um ihre Übereinstimmung
mit dieser, sei es, um ihren Widerstreit gegen dieselbe
zu erweisen.

Die Stoiker behaupteten, die Sprache sei anomal, d. h.
nämlich, indem sie die Sprache nach dem Maßstabe der Logik
beurteilten, fanden sie, dass die Sprache bei solcher Messung
nicht Stich hielt. Sie waren im Irrtum, ihr ganzes Verfahren
war ungerecht. Wenn sich z. B. Chrysippos darüber aufhielt,
dass man die ewigen Götter unsterblich nenne, was völlig gegen
die Logik sei, so wäre ihm zu erwidern gewesen, dass es gerade
eben so unlogisch ist, die Sprache anomal zu nennen, sie, die
sich um den νόμος der Logik nicht kümmert.

Es ist echt logisch und organisch, dass die Sprache nicht
logisch ist.

V.
Die Frage um den Ursprung der Sprache.

Wir kommen endlich zur genauem Feststellung der uns
in diesem Buche beschäftigenden Aufgabe. Wir haben aus den
vorstehenden Betrachtungen ersehen, dass, wie die Function des
Sehens weder Gegenstand der Physik noch der Geometrie ist,
so auch die Grammatik nicht Sache der Logik sein kann, sondern
eine ganz eigentümliche Physiologie der Sprache bilde.
Die sprachlichen Dartellungsmittel füllen einen Kreis eigentümlicher
Stoffe und Formen.72

Wie dürfte man aber hoffen, das Princip der Grammatik
zu finden, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannichfachen
Beziehungen zu den geistigen Tätigkeiten, ihre Function in der
geistigen Ökonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwicklung des
Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben? Diese
Untersuchungen aber sind von der Erforschung des Ursprungs
der Sprache unzertrennlich. Selbst ohne Hoffnung, diesen
geheimnissvollen Punkt jemals in deutlicher Breite zu enthüllen,
können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige klare Blicke,
einige helle Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn
es bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der
Sprache wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden,
weder eins zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren
beziehungsweisen Wert für dieses Leben der Sprache richtig
zu bestimmen, als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend
durch die Entwicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten.
Nur wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres
Wachsen erkannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes
Wesen erfasst zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo
ihr Springpunkt liegt, welches Wesens er ist, und was alles
allmählich zu ihm hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei
seiner Ausdehnung von innen heraus, was er beim Bauen seines
Organismus sich assimilirend verwendet, und was so endlich
das Wesen der Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.

Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig
gemachten Bemerkung, dass gehaltreiche Dinge sich nicht einfach
definiren lassen, dass ihre Definition entweder nicht ihr
volles Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,
indem man die Worte äusserlich an Menge und innerlich an
Bedeutung anschwellen lässt, unverständlich wird. Könnte man
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.

Noch eine andere Betrachtung kann ebenfalls die Ungehörigkeit
einer Definition der Sprache erweisen. Eine Definition
kann, wie ein Gemälde, nur etwas Ruhendes oder nur einen
Augenblick darstellen. Wie soll sie etwas bestimmen, das nicht
bloß in sich mannichfaltig ist, sondern das sich auch durch
mehrere Stufen hindurch entwickelt und auf jeder Stufe ein
73verschiedenes, reicheres, gebildeteres Wesen zeigt und in andere
Verhältnisse nach innen und außen tritt? Und so verhält es
sich mit der Sprache. Wenn man fragt, wie sie ist, so lautet
die richtige Antwort: sie ist, was sie wird; d. h. ihre Definition
liegt in ihrer Entwicklung.

Es ist aber bei jeder Untersuchung von größter Wichtigkeit,
klar darüber zu sein, was man sucht. Über falsch gestellte,
unklar gedachte Fragen kann man Jahrhunderte streiten, ohne
dass man sich der Sache in Wahrheit nähert; man geht vorwärts,
aber ins Blaue. Die richtige Stellung der Frage schließt
oft die Lösung gewissermaßen schon in sich und ist in jedem
Falle der erste Schritt zu ihr, und wär' es auch nur, dass sie
durch sich selbst lehrte: nur die Frage gebührt dem Menschen;
es gehört ihm nicht die Antwort.

Gehen wir also an die Untersuchung des Ursprungs der
Sprache nicht, ohne vorher gesehen zu haben, welche Forderung
diese Frage in sich schließt, welche Bedeutung sie nur haben
kann.

Es war namentlich im vorigen Jahrhundert, dass die Frage
um den Ursprung der Sprache lebhaft verhandelt wurde. Die
Vorstellung, welche man durchgängig hatte, war folgende. Der
Mensch ist ein wunderbar erfindungsreiches Wesen; die Not
und dagegen seine Neigung zur Bequemlichkeit geben unaufhörlich
die stärksten Antriebe, um auf Erfindungen zu sinnen,
welche dem drängenden Bedürfnisse abhelfen und die Behaglichkeit
fördern. Nun ist der Mensch auf die Hülfe seiner
Mitmenschen angewiesen; also muss er diesen mitteilen können,
was er wünscht. So hat er denn auch lautliche Zeichen erfunden,
mit denen er seine Gedanken äußern kann. Er, der
vielerfinderische Mensch, hat sich unter vielen andern ausgezeichneten
Werken auch die Sprache erfunden. Wenn nun
Einige meinten, die Sprache sei doch ein so schönes Gebäude,
sie zeige im Grundriss wie in der Ausführung so viel Weisheit
und Überlegung, wie man unmöglich den rohen und ungesitteten
Menschen zutrauen könne, welche doch zuerst die Sprache
haben erfinden müssen: so sagten Andere dagegen, man solle
nur nicht glauben, dass die Sprachen schon ursprünglich so
vollkommen gewesen seien, wie die Sprache eines Plato, Horaz,
Klopstock. Wie sich vor Jahrtausenden zuerst einmal ein
74Wilder bang und zagend in einem hohlen Baumstämme den
Wogen des Meeres anvertraute, und wie allmählich aus diesem
elenden Fahrzeuge ein Schiff mit hundert Kanonen entstand:
so war auch die Sprache der rohen Urmenschen noch höchst
unvollkommen und ist erst allmählich immer mehr verbessert
worden, bis sie zu der Stufe unsrer klassischen Sprachen gelangte.
— Die Gegner der menschlichen Erfindung verwiesen
nun aber auf die Sprachen der amerikanischen Indianer und der
Neger, die so weislich geordnete Werke seien, dass ihre Verfertigung
ein Nachdenken erfordert haben müsse, zu dem jene
Wilden die Fähigkeit nicht haben konnten. Sie erinnerten
ferner ganz allgemein daran, dass zur Erfindung der Sprache
Vernunft gehöre, dass wir aber ohne Sprache, also vor deren
Besitz, keine Vernunft haben können. Konnte also der Mensch
vor dem Besitze der Sprache nicht vernünftig sein, so konnte
er die Sprache nicht erfinden. Also verdankt er sie Gott. Die
Sprache ist keine menschliche Erfindung, sondern göttliche Gabe.

Die Verteidiger der menschlichen Erfindung der Sprache
vor Herder zeigen eine widerwärtige Trivialität und Rohheit der
Anschauungsweise *)11. Tiefer blickten, das ist richtig, die Kämpfer
für den göttlichen Ursprung. Doch können wir heute uns
auch ihnen nicht anschließen, aus einem allgemeinen Grunde
und aus zwei besondern Gründen.

Von Gott hat die Religions-Philosophie, gestützt auf die
Metaphysik, zu reden. Sie hat zu bestimmen, inwieweit wir
zur Erkenntniss jedes Wesens und jedes Vorgangs, zur vollen
und wahren Auffassung aller Wirklichkeit den Gedanken Gottes
hinzuzudenken haben. Alle übrigen Wissenschaften sind nicht
befugt, Gott als Erklärungsgrund herbeizuziehen. Die Religionsphilosophie
lehrt πάντα ϑει̃α, die Special-Wissenschaften lehren
φυσιϰά oder άνϑϱώπινα πάντα, und beide dürfen einander nicht
widersprechen. Dies ganz allgemein.

Insbesondere aber bemerken wir gegen den göttlichen Ursprung
der Sprache in aller Kürze dies. Die Sprache könnte
bei dieser Annahme dem Menschen von Gott entweder anerschaffen
oder gelehrt sein. Letzteres aber ist nicht möglich.
Der Mensch kann sich vieles durch Sprache lehren lassen, nur
75nicht die Sprache selbst. Denn sie ist das einzige Mittel des
geistigen Lehrens und könnte doch selbst nie anders als geistig,
niemals durch sinnliches Zeigen und Vormachen gelehrt werden.
Sprache kann nur durch Sprache gelehrt werden; also setzt
Lehren des Sprechens schon Sprechen voraus. Hieran kann
Gott, als unendlicher Sprachlehrer gedacht, nichts ändern —
oder Gott tritt eben nicht als Lehrer auf, und das führt zum
andern Falle. Die Sprache zeigt sich aber durchaus als nicht
anerschaffen; sondern es ist sicher und klar, dass das Kind
sich die Sprache der Gesellschaft aneignet, in welcher es aufwächst.
Es müsste also Gott nur dem ersten Menschen-Paare
die Sprache anerschaffen haben, worauf dann die folgenden Geschlechter
jedes von seinen Eltern sprechen lernte. Doch auch
diese Annahme ist unmöglich. Denn was der Mensch lernen
kann, das kann er auch ursprünglich aus sich und ohne Unterricht
hervorbringen; denn alles Lernen ist nur erleichtertes,
unterstütztes, eben darum beschränktes Schaffen. Womit aber
ein Mensch ausnahmsweise von Gott begabt wäre, das könnte
kein andrer Mensch von ihm lernen. Wäre also die Sprache
den Urmenschen anerschaffen gewesen, so hätten ihre Kinder
sie sich nicht aneignen können. Konnte dies geschehen, so
konnte die Sprache der Urmenschen keine ihnen eigentümliche
Begabung sein und die Kinder derselben mussten sie sich auch
selbständig schaffen können. Muss also der Mensch, wenn er
Sprache besitzen sollte, durchaus die Kraft haben, sie zu schaffen,
der erste wie alle folgenden in gleicher Weise, warum sollte
sie auch nur in einem einzigen Falle ihm von Gott anerschaffen
sein?

Versuchen wir aber allgemeiner, die so höchst dürftigen
und trivialen Voraussetzungen, von denen aus sowohl die Kämpfer
für den göttlichen als auch die für den menschlichen Ursprung
ausgingen, zu durchbrechen. Denn es ist keine andre
Widerlegung jener alten Ansichten mit Gründlichkeit möglich,
als indem wir uns des vollen Umschwungs erinnern, den die
ganze Anschauungsweise in Betreff des Menschen und aller
menschlichen Dinge in den letzten Jahrzehenden des vorigen
Jahrhunderts genommen haben. Das Gefühl und das Bewusstsein
der menschlichen Würde erlangte in der genannten Zeit
eine früher ungekannte Erhöhung, womit der Blick zugleich
76sowohl die das ganze Menschengeschlecht umspannende Weite,
als auch eine ahnungsvolle Vertiefung in dessen Wesen gewann.

Welch ein kleines, kleinliches Wesen ist der Mensch nach
der Vorstellung des vorigen Jahrhunderts! Im Schlamme geboren,
immer an der Erde kriechend; der Not preisgegeben,
der er sich fort und fort zu entziehen sinnt. Klug wie die
Schlange, staubfressend wie sie. Begierig, den Bedürfnissen
abzuhelfen, macht er sich jede Entdeckung in der Natur zu
Nutze. So wird er von einer Erfindung zur andern, von einer
Verbesserung des zuerst ganz rohen Werkes zur andern von
der Not gehetzt. Da gibt es nichts Weises und nichts Großes
in der Entwicklung der Menschheit, ja überhaupt keine Entwicklung
von innen heraus. Das vorige Jahrhundert begriff
nicht, wie es Goethe ausdrückt (an Schiller, IV. S. 127), „dass
etwas im Menschen sei, wenn es nicht von außen in ihn hineingekommen
ist.” Von den Urmächten des menschlichen Gemüts,
denen die Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens entsprossen
sind, und aus denen sie fortdauernd Lebenssäfte saugen,
wusste man nichts; unbekannt war die Schöpferkraft, aus welcher
religiöse und sittliche Ideen zu eigenem Genügen des
menschlichen Wesens ungesucht hervorquellen.

Das eben Gesagte jedoch bezeichnet nur ein Moment der
völlig verschiedenen Stellung, die wir im Gegensatze zum vorigen
Jahrhundert in Bezug auf die Frage um den Ursprung der
Sprache einnehmen. Wir würden damit nicht weiter gelangen,
als das Wunder der Sprache, der Poesie u. s. w. anzustaunen,
welche aus den unergründlichen Tiefen des menschlichen Wesens
stammen sollen; wir würden uns damit begnügen müssen, im
menschlichen Wesen einen Quellpunkt für diese Erscheinungen
zu hypostasiren, für den wir das Wort Instinct setzen können.
Damit würde nun nicht bloß nichts erklärt werden, sondern wir
würden uns folgerecht noch weiter dahin verirren, auch für die
besondern Gestaltungen der Sprache, Religionen, Gesetze u. s. w.
bei den verschiedenen Völkern wiederum auf die Verschiedenheit
der Instincte dieser Völker zu verweisen. Wir würden, wie
man getan hat, den Monotheismus der Israeliten und Araber
nur auf den monotheistischen Instinct der semitischen Race zurückführen
können, im Gegensatze zu dem polytheistischen Instinct
der indogermanischen Race, und ebenso die Eigentümlichkeiten
77der semitischen Sprachen im Gegensatze zu dem indogermanischen
von dem Gegensatz der beiderseitigen Sprach-Instincte
ableiten; wir würden — mit Worten spielen.

Was uns eine bessere Stellung gibt, als das vorige Jahrhundert
einnahm, ist nicht bloß, die Anerkennung der Schöpferkraft
des Menschen, sondern auch dass wir daneben die Aufgabe
und Grundgedanken einer rationalen Psychologie haben,
deren Streben darauf gerichtet ist, in den seelischen Erscheinungen,
den Bewegungen des Bewusstseins einen Mechanismus
zu erkennen, gegenüber dem Mechanismus der Natur-Erscheinungen
— eine Wissenschaft, welche Gesetze des geistigen
Lebens erforscht, wie die Physik und Chemie Gesetze des natürlichen
Lebens. Die Bewegung der Vorstellungen im Bewusstsein
wird nicht minder gesetzmässig sein, als der Lauf
der Gestirne durch den Weltraum; die Combination der Vorstellungen
wird auf Verwandtschaften und Gegensätzen beruhen,
wie die Mischung der Elemente der Naturkörper — kurz, alle
Schöpfungen der Menschen werden nicht minder einer vernünftigen
Gesetzmäßigkeit folgen, als die Erzeugnisse der Natur.
So wenig der Naturforscher von einer Pflanzen-, Tier-, Menschen-erzeugenden
Kraft der Natur spricht, so wenig werden
wir von einer Sprach-, Religions-, Poesie-Kraft oder -Instinct
reden; sondern wir werden, ähnlich wie jener, Elemente, Verhältnisse,
Bedingungen aufsuchen, aus und unter denen geistige
Erzeugnisse entstehen und wachsen.

Sehen wir nun, wie auf solchem Standpunkte der Sinn
der Aufgabe, die durch die Frage um den Ursprung der Sprache
gestellt ist, sich heute in Vergleich zum vorigen Jahrhundert
völlig umgestalten muss.

Man macht einen Unterschied zwischen der Anfertigung
eines Dinges und der Erfindung desselben, und nur letztere
scheint das eigentlich Große und Bemerkenswerte. Die erste
Räder-Uhr, die erste Dampfmaschine, die man construirt hat,
zieht die Neugier an, nicht die hunderttausende, die man darauf
aller Orten gebaut hat, die wie die Schatten jener ersten
erscheinen. Erfinden ist das Schwere, Nachahmen und Lernen
ist gewöhnlich. Wie die Erfindung gemacht worden ist, wie
die Sache angefangen hat, wie man auf den Einfall gekommen
ist, wie man den glücklichen Einfall verfolgt hat: das möchte
78man wissen. Gerade so hat man — bis heute, kann man
sagen — von einer Erfindung der Sprache durch die Urmenschen
geredet. Erfindung will man es nun freilich nicht mehr nennen;
man nennt es Schöpfung. Das Erlernen der Sprache durch die
Kinder sah man wie neue Anfertigungen desselben schon erfundenen
Dinges an. Die erste Schöpfung der Sprache kennen zu
lernen, darauf gingen die Untersuchungen über den Ursprung
der Sprache. Wie Adam und Eva im Paradiese mit einander
gekost haben, das hätte man gar zu gern wissen mögen. Was
man aber nicht wusste und gern wissen mochte, das träumte man.
Es werde nun zugestanden, dass die Erfindung der Dampfmaschine
wichtiger ist als ihre heutige Vervielfältigung; aber
dass die Geschichte der Anfertigung der ersten Maschine anziehender
sei als die Beschreibung des Verfahrens, welches
man heute beim Baue derselben anwendet, möchte ich schon
nicht mehr behaupten. Nichtsdestoweniger gibt es doch etwas
Wichtigeres und Anziehenderes sowohl als dieses, wie als
jenes, nämlich die Naturgesetze zu erforschen, welche sowohl
bei der ersten, als bei jeder heute gebauten Maschine die bezweckte
Wirkung hervorbringen. Denn während uns die Erzählung
der Erfindung und allmählichen Verbesserung eines
Dinges doch nur Zeitliches und mehr oder weniger Zufälliges
bietet: so lehren uns jene Gesetze das diesem Zeitlichen zu
Grunde liegende Ewige. Es handle sich um die Erfindung des
Schießpulvers und Feuergewehrs. Es wisse Jemand von einem
Mönche Namens Berthold Schwarz, der in seinem Laboratorium
kochend und brauend, vielleicht den Stein der Weisen suchend,
das Pulver erfand; er wisse wie man zuerst in Nürnberg Feuergewehre
verfertigte, wie man sie im 30jährigen Kriege, und wie
später die Franzosen sie verbesserten, und so fort bis auf
Dreyse und Chassepot. Ein Andrer wisse von all dem nichts;
aber er kenne die chemische Zusammensetzung des Pulvers und
die Bedingungen und die Weise seiner Zersetzung nebst den
physikalischen Erscheinungen, welche solche Zersetzung begleiten
und ihr folgen müssen. Wer von diesen beiden weiß
mehr, Besseres, Wissenswürdigeres? Jener kennt doch nur
Anekdötchen; dieser weiß, was allein Wissen zulässt, Ewiges,
für alle Zeiten Giltiges, was Geltung hatte vor jenem Mönch
und gelten wird zu allen Zeiten und für alle Weisen, in denen
79je Pulver angewendet werden wird. Und so schließen wir auch
für die Sprache, dass es wichtiger und anziehender ist, die
Gesetze zu erforschen, nach denen sie sowohl ursprünglich bestand
und lebte, als auch heute noch besteht und lebt, und dass
weniger daran liegt, die Besonderheiten zu kennen, unter denen
die erste Schöpfung von Statten gegangen sein mag.

So gestaltet sich also die Frage nach dem Ursprunge der
Sprache schon ganz anders, selbst wenn wir die rohe Anschauungsweise
gelten lassen, welche die Sprache als ein Ding ansieht,
und welche der obigen Analogie zu Grunde liegt. Und sie zunächst
noch nicht abändernd, fahren wir fort, indem wir darauf
hinweisen, dass es doch nicht gleichgültig ist, in welchem Zeitalter
diese Erfindung gemacht ist. Jede Erfindung setzt die
Anlage dazu im Geiste der Menschheit voraus, nicht bloß eine
angeborne Fähigkeit, sondern eine gewisse vorläufige Bildung
und Bekanntschaft mit andern Erfindungen. Ohne diese Vorbereitung
des erfinderischen Geistes würden ihm die günstigsten
Zufälle ungenutzt vorübergehen. Gewisse Erfindungen sind unmöglich,
wenn nicht schon gewisse andere gemacht sind, oder
wenn nicht gewisse Ansichten, Erkenntnisse und Bestrebungen
vorhanden sind; sie werden überflüssig gemacht durch spätere,
die aber unmöglich gewesen wären, wären ihnen nicht jene vorangegangen;
sie würden unbeachtet geblieben und wieder vergessen
worden sein, kämen sie nicht gewissen Bedürfnissen entgegen,
unterstützten sie nicht andre Erfindungen und Bestrebungen.
Wer da weiß, wie Gutenberg und Fust und Schöffer
die Buchdruckerei allmählich erfanden und sich dann entzweiten,
und dass sich die neue Kunst in kurzer Zeit über ganz Europa
verbreitete: der kennt Geschichten; wissenschaftliche Geschichte
weiß nur der, welcher diese Tatsachen im Zusammenhange mit
der ganzen geistigen Strömung jener Zeit erfasst. Es lassen
sich also Zustände der Zeiten begreifen, in denen eine Erfindung
fast notwendig, leicht, natürlich erscheint; denn selbst das Zufällige,
das allemal noch hinzukommen musste, konnte derartig
sein, dass es, wie es auch fiel — und fallen musste doch der
Zufall notwendig — die Erfindung oder Entdeckung fördern
musste *)12. Lehrreicher nun als zu wissen, nach welchen mancherlei
80Irrgängen und nach wie vielen missglückten Versuchen
eine Erfindung gelang, in welcher Ordnung die Stücke einzeln
erfunden wurden, welches zuerst und welches zuletzt, und wie
sie zusammengefügt wurden — lehrreicher, sage ich, als dies
ist es, jene Zustände zu erforschen, welche eben sowohl das
vielfache Misslingen als das endliche Gelingen bewirkten, sowohl
die Hindernisse, als auch die Mittel, diese zu überwinden,
darboten. Wirklich begriffen ist die Geschichte der Erfindung
auch nur dann, wenn man diese geistigen Zustände begreift
und daraus die Erfindung und ihren Gang gewissermaßen ableiten
kann. Indem man dies tut, erhebt man sich ebenfalls
über die Zeitlichkeit und das Zufällige in das Reich des Notwendigen
und allwaltender Gesetze. — So heisst uns denn auch,
den Ursprung der Sprache erforschen, nichts Anderes als die
geistige Bildung kennen lernen, welche der Spracherzeugung
unmittelbar vorangeht, einen Zustand und gewisse Verhältnisse
des Bewusstseins als Bedingungen begreifen, unter denen die
Sprache hervorbrechen muss, und dann einsehen, was der Geist
durch sie gewinnt, und wie sie sich gesetzmäßig weiter entwickelt.

Man sieht aber hier auch, wie der Unterschied der beiden
Betrachtungen, die wir soeben für jede Erfindung annahmen,
die Kenntniss der Naturgesetze, auf denen das erfundene Werk
beruht, und die der geistigen Zustände, unter denen das Werk
erfunden werden musste, — man sieht leicht, wie beides für
die Sprache nur eins ist. Der geistige Zustand und die Verhältnisse
des Bewusstseins sind hier die realen Mächte selbst,
welche die Sprache hervorbringen. Die Sprache, als Erfindung
angesehen, ist eben eine Erfindung, bei welcher nicht nur der
erfindende Geist das dazu nötige Material aus dem eigenen
Besitze oder Bestände zieht, sondern wo auch die Gesetze,
welchen dieses Material unterworfen ist, unmittelbar die Triebfedern
der Entdeckung werden. In Betreff des Pulvers und
Feuergewehrs, wie jeder andern Erfindung, lagen Materialien,
81Salpeter und Kohle, Holz und Eisen, außer uns, die uns mehr
oder weniger unbekannt waren, und die an sich einander fremd
und gleichgültig sind. In uns ferner liegen bewusste Bedürfnisse
oder können wenigstens augenblicklich in uns geweckt
werden, deren Befriedigung aber jene Stoffe in ihrem natürlichen
Dasein nichts angeht. Absichtliches Suchen oder glücklich benutzter
Zufall stellte erst zwischen den Materialien unter einander
und zwischen ihnen und dem Geiste eine Verbindung her.
Für die Sprache dagegen ist vielmehr von der Annahme auszugehen,
dass ein gewisser geistiger Bildungszustand vorhanden
sein muss, in welchem ein gewisses Material liegt, und welcher
von solchen Gesetzen gelenkt wird, dass Sprache notwendig
entstehen muss.

Das heisst also: die Sprache ist keine Erfindung, sondern
eine Entstehung oder Erzeugung im Geiste; kein durch Verstand
vermitteltes Werk, keine absichtliche Verwendung eines gesuchten
und gefundenen Mittels zur Abhülfe eines bewussten
Bedürfnisses, auch nicht eine glückliche Benutzung eines Zufalls
zur Bereicherung des geistigen Wirkens (denn auch dies
setzt Nachdenken oder Bewusstsein über die mögliche Verwendung
des sich Darbietenden voraus); sondern die Sprache ist
geworden, ohne gewollt zu sein. Die unbewusst bleibenden
und doch die Elemente des Bewusstseins beherschenden Gesetze
wirken und führen die Schöpfung aus.

Die Sprache ist also gar nicht mit den Erfindungen zusammenzustellen,
sondern, obwohl durchaus geistig, doch der
Art der Entstehung nach, wie ein Erzeugniss der Natur, ein
wachsender Organismus zu betrachten. Ein Keim, in gewisser
Weise organisirt, in bestimmte Bedingungen physikalischer oder
organischer Art gebracht, entwickelt sich, nicht weil er weiß
und will, sondern weil das ewige Gesetz der Schöpfung es so bestimmt.
So gibt es im Menschen gewissermaßen einen Keim,
der sich zur Sprache entfaltet; und damit dies nicht Phrase
bleibe, ist es die Aufgabe, die Zusammensetzung dieses Keimes
darzulegen und die Bedingungen und Gesetze zu erkennen,
unter denen er aufgeht: wie ganz analog die Botanik diese
Aufgabe für die Pflanzen, die Physiologie für das Tier zu lösen
hat. Für die Sprache ist es, wie schon bemerkt, die Psychologie,
an die wir uns zu wenden haben.82

Hiernach werden wir aber auch über den früher so scharf
vorausgesetzten Unterschied zwischen dem Sprechenlernen der
Kinder und dem ersten Werden der Sprache anders urteilen.
Der Erfinder hat eine Vermittlung zwischen einem Material und
einem Bedürfniss unseres Geistes gefunden; und was er gefunden
hat, kann er Andern zeigen und lehren, denen also Gefundenes
dargeboten wird, was sie sich bewusstvoll aneignen.
Von der Sprache ist schon bemerkt, dass sie so wenig gelehrt
und gelernt werden kann, wie Sehen und Hören. Wer hat wohl
je bemerkt, dass man Kinder sprechen gelehrt hätte? Vielleicht
aber hat mancher schon beachtet, wie vergeblich das Bemühen
ist, welches man wohl zuweilen anstellt, das Kind zu lehren. Mit
Gewissheit aber setze ich voraus, dass Jeder, wer Gelegenheit
gehabt hat, ein Kind vom zweiten bis zum vierten Lebensjahre
zu beobachten, oft genug darüber erstaunt war, wie urplötzlich
das Kind ein Wort oder eine Wortform gebraucht hat. Selten
weiss man, woher das Kind das hat. Es hat es ergriffen bei
irgend einer Gelegenheit; und ergreifen heisst hier erzeugen. — Man
sollte also gar nicht vom Lernen der Sprache bei Kindern reden.
Denn wo keine Lehre, da ist kein Lernen. Nur was der
Gärtner mit Samen tut, aus dem er Pflanzen ziehen will, nur
das tun wir mit unsern Kindern, um sie zur Sprache zu bringen:
wir bringen sie in die nötigen Bedingungen geistigen
Wachstums, nämlich in die menschliche Gesellschaft. Aber so
wenig der Gärtner wachsen macht, so wenig machen, lehren
wir das Kind sprechen; nach dem Gesetze, dort der Natur,
hier des Geistes, entsteht dort die Blume, hier die Sprache im
Bewusstsein des Kindes. *)13

Man sieht nun wohl, wie roh die Ansicht war, wonach
man die Erfindung der Sprache wie die einer Maschine betrachtete,
und das Sprechenlernen von heute wie eine neue Anfertigung
einer schon gemachten Erfindung. Gehen wir aber
auf diese Analogie ein, so bemerken wir, dass der Sprachforscher
glücklicher gestellt ist, als wer die Geschichte einer
sonstigen Erfindung erkundet, insofern die Gesetze, die heute
noch beim Erlernen der Sprache sich in jedem Kinde wirksam
zeigen, auch die treibenden Kräfte bei der Erfindung waren.
83Denn eine Erfindung, welche von den Naturkräften selbst gemacht
worden ist, bei welcher der Mensch nicht freiwillig und bewusst
handelte, zu welcher er durch den geistigen Instinct getrieben
ward, kann auch bei der wiederholten Anfertigung immer nur
wieder durch dieselben instinctiven Kräfte hervorgebracht werden;
und kennen wir letztere, so kennen wir auch die erste Erfindung.
Musste etwa der Tannenwald so lange warten, bis der
Mensch ihn anpflanzte? und ist er nicht gewachsen nach denselben
Gesetzen wie die Tannen, die wir heute anpflanzen?
Also ist auch die Sprache des Urmenschen wie des heutigen
Kindes aus gleichem Keime nach denselben Gesetzen geworden.
Und selbst wenn man nach Analogie der Frage: „aber woher
ist der Keim zur ersten Tanne, zur ersten Pflanze gekommen?”
fragen wollte, woher der erste Sprachkeim im Menschen stamme,
würden wir antworten: nur daher, woher er in jedem Kinde
stammt. — Aber, wird man sagen, die Bedingungen, in die der
Keim geriet, waren nicht dieselben; denn die Kinder späterer
Geschlechter kommen in die Gesellschaft Sprechender, der Urmensch
verkehrte zunächst unter Nicht-Sprechenden. Das ist
richtig. Doch folgt hieraus nur, dass der Urmensch unter ungünstigern
Verhältnissen sprechen lernte, als unsre Kinder ihre
Sprache schaffen; nämlich es fehlte den Bedingungen, unter
denen jener lebte, ein Umstand, die Sprache der Gesellschaft,
in der er lebte. Dieser Umstand ist aber nicht notwendig.
Unentbehrlich ist dem Menschen nur die menschliche Gesellschaft.
Hat er diese, so wird er entweder mit ihr zugleich
sprechen lernen, wenn sie noch nicht sprechen konnte; oder
er wird, wenn diese schon Sprache hat, seine eigene Sprache
notwendig ganz nach Analogie derjenigen schaffen, welche seine
Gesellschaft hat. Es kann schon hier mit Rücksicht auf das
Dargelegte gesagt werden, was später noch deutlicher werden
wird: der Mensch lernt nicht sowohl sprechen als verstehen.
Weder der Urmensch noch das Kind späterer Geschlechter
macht oder schafft die Sprache; sondern sie entsteht und wächst
im Menschen, er gebiert sie. Hat er sie geboren, so hat er
seine eigene Geburt aufzunehmen, verstehen zu lernen. Nicht
sprechen, sondern verstehen hat der Urmensch zu lernen in der
Urgesellschaft, wie das Kind in der folgenden Zeit. Dieses
lernt die entwickelte Sprache späterer Geschlechter, jener die
84eben hervorbrechende, eben in die Luft tretende Sprache verstehen;
und wie das Kind die Sprache, die es lernt, nicht geschaffen
hat, so lernt auch der Urmensch die Ursprache, die
er ebenfalls nicht geschaffen hat, die vielmehr nur von der
Seele der Urgesellschaft geboren wird.

Die Sprache ist also eine Geburt, eine Emanation aus dem
Bewusstsein, eine Entwicklungsstufe des Geistes, die mit Notwendigkeit
dann eintritt, wenn die geistige Bildung an einen
gewissen Punkt gelangt ist. Sie entspringt aber der Seele des
Menschen zu allen Zeiten in gleicher Weise, wird immer in
gleicher Weise im Bewusstsein concipirt und geboren; denn die
Seele ist in allen Geschlechtern der Menschen dieselbe, und
das Bewusstsein wird zu allen Zeiten von denselben Gesetzen
regiert. Wie jedes Embryo in seiner bestimmten Epoche seiner
Entwicklung dieses und jenes Organ bildet, so bildet die Seele
auf einem gewissen Punkte notwendig Sprache, heute wie in
der Urzeit.

Wir sind noch nicht zu Ende. Die Sprache ist kein erfundenes
Werk; ist sie nun etwa, wie wir soeben sagten, ein
geborenes Wesen? ein erzeugtes Dasein? Wo wäre denn die
Sprache? Doch nicht in der Grammatik und im Wörterbuche?
Sondern überall da und nur da, wo Menschen mit einander
reden, so lange und indem sie dies eben tun. Nicht ein ruhendes
Sein also, sondern eine verfliegende Tätigkeit ist sie. Wir
dürfen sie wesentlich nicht als ein vorhandenes Werkzeug ansehen,
dessen man sich gelegentlich bedient, das aber sein Dasein
hat; auch in der Stunde, wo es nicht angewandt wird;
sondern sie erscheint als eine Kraft oder Fähigkeit, d. h. als
bloße Möglichkeit, die unter Umständen sich äußert, ausgeübt
und dann Wirklichkeit wird, aber nur vorübergehend, so lange
die Bedingungen der Äußerung dauren. Die Sprache ist nicht
ein etwas, wie Pulver, sondern ein Ereigniss, wie die Explosion;
sie ist nicht ein Organ, wie das Auge oder Ohr, sondern eine
Fähigkeit und Tätigkeit, wie Sehen und Hören. So war und
ist sie zu allen Zeiten. Der Urmensch sah nicht anders und
sprach nicht anders als wir in dem Augenblicke, wo wir sprechen.
Wie also der Physiologe die Aufgabe hat, die Bedingungen zu
erkennen, unter denen der Mensch aller Geschlechter sah und
sieht: so ist dem Sprachforscher die Aufgabe gestellt, einen.
85Seelenzustand zu begreifen, der durch die darin wirkenden
Elemente gedrängt wird, sich im Laute zu äußern, in Lauten
auszubrechen. Wie die menschliche Natur ewig dieselbe bleibt,
so auch diese Aufgabe. Sie ist wesentlich dieselbe für den
Urmenschen, das Kind und für uns in Bezug auf jeden Act
der Rede. Ein Unterschied zwischen der Urschöpfung, dem
Sprechenlernen der Kinder und der täglich und stündlich aller
Orten, wo Menschen sind, sich wiederholenden Rede findet
wesentlich gar nicht statt.

Es fallen demnach abermals zwei Gesichtspunkte, die man
sonst aus einander zu halten pflegt, in Bezug auf die Sprache
zusammen. Sie ist eben nur Ausübung einer Fähigkeit, Aeußerung
einer Kraft. Ihr ganzes Wesen liegt in ihrem Ursprunge:
weil es ihr Wesen ist, immer neu zu entspringen. Sie hat nicht
einen einmaligen Ursprung in der Urzeit gehabt; sondern so
oft sie erscheint, nimmt sie ihren Ursprung. Wie nun ihr
Wesen sich nicht ändert, so ändert sich auch ihre Entstehungsweise
nicht, da es ihr Wesen ist, immer neu zu entstehen,
ewig sich neu erzeugende Tätigkeit zu sein. Ist also unsere
Sprache, als allgemein menschliche Tätigkeit, dieselbe wie die
der Urmenschen, dasselbe Wesen, dieselbe Kraft und Wirksamkeit,
so ist auch ihre Erzeugung in der Urzeit keine andere
als die heute in jeder Stunde sich vollziehende.

Dieses Ergebniss unserer Betrachtung mag Manchem paradox
erscheinen, und es wird die Befürchtung erwachen, es
dürfte uns hier eine Sophistik begegnet sein. Sollten wir hier
nur dadurch zu Identitäten gelangt sein, dass wir von wesentlichen
Unterschieden abgesehen haben? Man hat sich vielleicht
schon mit dem Gedanken ausgesöhnt, dass das Sprechenlernen
der Kinder, das längst jedem tiefer Suchenden dunkel erschien,
eben so dunkel sei wie die Sprachzeugung des Urmenschen.
Nun aber sollte auch unsere gewöhnliche tägliche Rede jenen
Zeugungen gleichzustellen sein? — Obwohl hier noch nicht
alles gesagt werden kann, so kann doch wohl schon auf die
Dunkelheit des Processes auch unserer täglichen Rede hingewiesen
werden. Man vergleiche nur, wie einerseits jemand, der
in einer fremden Sprache spricht, die ihm wenig geläufig ist,
die Wörter mühsam in seinem Gedächtniss zusammensucht und
überlegend unter einander verbindet; und wie uns andrerseits
86in unsrer Muttersprache das Wort von selbst zufließt eins nach
dem andern in rechter Ordnung und in der gehörigen Form
der Verbindung. Aber gerade auch die umgekehrte Erscheinung,
dass Mancher selbst in der Muttersprache das Wort nicht
findet, dass er abgebrochen und in unverbundenen oder schlecht
verbundenen Ausdrücken (asyntaktisch) spricht, zeigt, wie bewundernswert
die Redegabe ist, der das Wort von selbst entquillt.
Der Grammatiker spricht so bewusstlos wie das Kind
und der Tagelöhner, ohne Regel, und doch in voller Gesetzmässigkeit.
— Der originelle Redner aber schafft wirklich neue
Wörter und Wortverbindungen oder gibt alten Sprachmitteln
einen neuen Sinn, und wenn es in rechter, fruchtbringender
Weise geschieht, so merkt weder er noch sein Hörer oder
Leser, dass er Neues in der Sprache geschaffen hat. Hierauf
jedoch ist so großes Gewicht nicht zu legen. Bedeutsamer ist
es, dass schöpferische Denker auftreten, welche den Kreis unserer
Gedanken erweitern, erhöhen. Das mag geschehen, ohne
dass ein neues Sprachmittel geschaffen ist — ist darum ihre
Rede, welche nie Gesagtes ausspricht, etwa nicht völlig neu? Plato,
Kant, konnten sie den Bau des menschlichen Geistes so umgestalten,
ohne neue Rede zu schaffen? Oder meint man, hier
läge nichts weiter vor als eine neue Verwendung, Anordnung
alter Bau-Materialien? Nun, immerhin mag es weiter nichts sein
— ist denn der Baumeister kein Schöpfer, weil er nicht die
Steine gemacht hat? Heisst Sprache weiter nichts als ein Haufe
von Wörtern mit Regeln ihrer Verbindung? Ist Sprechen ein
Herausgreifen und Zusammenstellen einiger Wörter? Auch
meine man nicht, das seien seltene Erscheinungen. Gewiss sind
die Platone und die Kants selten. Aber ich denke, es spricht
wohl jeder sinnige Mensch so manches; was überhaupt oder
wenigstens in dieser Wendung noch niemals gesagt war. Und
selbst gewöhnliche Sätze (wenn es nur nicht conventionell erstarrte
Redensarten sind, wie „guten Morgen! wie geht es
Ihnen?”), mögen sie auch nicht das geringste Neue an sich
tragen — ist denn der Bau eines Hauses im landesüblichen
Style nicht immer etwas Neues, und gäbe es schon Tausende
ganz ähnlicher Häuser? Und wiederum frage ich: ist das
Herbeischaffen des Sprachmaterials, welches in der Rede verwendet
wird, ein mechanisches Suchen und Sammeln? Es begegnet
87wohl jedem gelegentlich, dass er nach einem Ausdrucke
seines Innern sucht, und viele Menschen sind schlechte Redner
und wissen die Worte nicht zu finden, mit denen sie sich ausdrücken
möchten. Ist solches Suchen etwa dem ähnlich, wie
es jemand begegnet, der eine fremde, ihm nicht geläufige Sprache
reden soll? Letzterer sucht mechanisch in seinem Gedächtnisse
oder im Taschen-Wörterbuche; aber wenn uns in unserer Muttersprache
das Wort fehlt, so ist das nicht eigentlich ein mühevolles
Suchen, sondern erschwerte Geburt. Beredt aber wird
Mancher, der sonst nur stammelt, wenn er in Leidenschaft
gerät. Also gerade in der Erregtheit des Gemüts, wenn die
Klarheit seines Bewusstseins abnimmt, wenn er hingerissen wird,
dann ergießt sich der Redequell am vollsten; denn, um nach
dem andern Bilde zu reden: je stärker die Wehen, desto leichter
die Geburt.

Nun soll auch gar nicht geleugnet werden, dass, trotz der
wesentlichen Gleichheit zwischen dem Sprechen des Urmenschen,
des Kindes und des Erwachsenen, auch andrerseits Bedingungen
vorhanden sind, welche diese drei Processe modificiren und
jedem einen eigentümlichen Charakter geben. Aber das Eigentümliche
lässt sich nur auf Grundlage des Gleichen begreifen.
Die Rede von heute ist darum und insofern von der des Kindes
und der des Menschen der Urzeit verschieden, weil und als
auch der Blick des Mannes ein andrer ist als der des Kindes,
und der Blick des Kenners ein anderer ist als der des Ungeübten.
Die Tat, die der Mensch vollzogen hat, die Objectivirung, die
ihm gelungen ist, so sehr sie auch gerade abgelöst vom Subject
erscheint, bleibt dennoch dem Subject nicht fremd und gleichgültig
; was wir durch unsere Kraft aus uns herausgesetzt haben,
bleibt in seinem Erfolg als Erhöhung der Kraft in uns. Hiervon
muss später ausführlich gesprochen werden.

Hier aber ist es wesentlich, dies fest hinzustellen, dass das
Sprechen ewig ein Zeugen, eine beschränkte Neuschöpfung ist.
Immer fließt sie uns aus dem verborgenen Quell in unserer Seele
zu. Unsere Erforschung des Ursprungs der Sprache bewegt
sich also nicht um ein einmaliges, mehr oder weniger von Zufälligkeiten
zusammengesetztes Ereigniss der Urzeit, sondern um
den zeitlosen, unwandelbaren Ursprung einer Kraft und Betätigung
im Bewusstsein des Menschen überhaupt oder um die
88Gesetze des Seelenlebens, nach denen Sprache wird — heute
wie in der Urzeit und zu allen Stunden.

Es wäre also der Punkt der geistigen Entwicklung zu
suchen, wo die Sprache hervorbricht. Um diesen zu finden,
müssten wir die ganze Leiter dieser Entwicklung von der untersten
Stufe an verfolgen und darauf achten, auf welcher Stufe
die Wirksamkeit und eine Leistung der Sprache sichtbar wird.
Ihr Ursprung müsste zwischen den letzten Punkt, auf welchem
sie noch ruht, und den ersten, auf welchem sich ihr Einfluss
zeigt, in die Mitte fallen. Hierbei hätten wir uns aber davor
zu hüten, die Wirksamkeit der Sprache da schon zu erkennen,
wo sie noch nicht ist; da noch nicht, wo sie schon ist; und da
immer noch, wo sie schon wieder ruht; und auch davor hat man
sich in Acht zu nehmen, dass man ihr Wirkungen zuschreibt,
die sie gar nicht haben kann.

Um dieser Gefahr zu entgehen, ist eine längere psychologische
Entwickelung notwendig oder mindestens ratsam. Um
die Leistung der Sprache sicherer zu erkennen, die doch in das
ganze Räderwerk des geistigen Mechanismus angemessen eingreifen
muss, haben wir überhaupt die Entwicklungsweise des
Geistes, den in ihr waltenden Trieb, das in ihr liegende Streben
genauer zu beobachten; wir müssen Analogien zu gewinnen
suchen zwischen den einzelnen Fortschritten des Geistes durch
Vergleichung derselben mit einander, um durch diese Analogien
das zu unterstützen, was wir bei dem Auftreten und Wirken
der Sprache zu entdecken meinen. So erkennen wir gewissermaßen
einen Ausgangs- und einen Zielpunkt des geistigen
Ganges und also eine Linie, in welcher auch der Quellpunkt
der Sprache liegen muss.

Ferner aber haben wir die untern Entwicklungsstufen der
Seele nicht sowohl überhaupt und an sich darzulegen, als vielmehr
nur zu zeigen, inwiefern in ihnen die Keime und Vorbereitungen
zur Sprache liegen. Und so zerfällt diese Untersuchung
über den Ursprung der Sprache von selbst in drei
Teile; denn wir haben zuerst die Anlage zur Sprache in dem
Zustande des Menschen, der ihr vorangeht, zweitens das Hervorbrechen
der Sprache und drittens die weitere Entwickelung
derselben zu betrachten. Vergleichen wir diese drei Teile mit
denen der Physiologie der Zeugung, so entspricht der erste der
89Betrachtung der Geschlechter, der Zeugungsorgane und des
Geschlechtslebens; der zweite Punkt gleicht der Befruchtung,
der dritte der Entwicklung des Embryo. Dieser Entwicklungsgeschichte
aber ist die rationale psychologische Mechanik vorauszuschicken.

Wenn nun aber hiermit einerseits die Notwendigkeit dargetan
ist, der Sprachwissenschaft eine weite und möglich tiefe
psychologische Grundlage zu unterbreiten, so wird andrerseits
der Verlauf unsrer Darlegung hoffentlich erweisen, dass die
Sprache nicht bloß in dem Sinne wie auch alles andre Geistige,
Geschichtliche, z. B. der Staat, eine psychologische Betrachtung
fordert, sondern dass sie geradezu eine psychologische Kategorie
bildet, wie Phantasie, Wille, weil sie nicht eigentlich ein Product,
sondern vielmehr eine Function bei der geistigen Production
ist (S. 42). Die allgemeine Betrachtung des Wesens
der Sprache bildet also, wie sich hoffentlich ergeben wird,
einen wesentlichen Gegenstand der Psychologie selbst. Und
so wird sich der diesem Buche gegebene Titel rechtfertigen.90

Erster Teil.
Psychische Mechanik.

I.
Der psychische Tatbestand.

a) Allgemeine Übersicht.

1. Wir finden in uns eine innere, geistige Welt, welche
uns gewissermaßen als ein Abbild der äußern Welt und unser
selbst und unserer Beziehung zur Außenwelt gilt. Wir haben
Bewusstsein von uns selbst und von solchem, was sich um uns
befindet. Außerdem dass wir begrenzte Leiber sind, wissen
wir auch, dass wir dies sind, und dass wir unter vielen andern
Leibern und Dingen leben, und wie wir und die Dinge beschaffen
sind. Dadurch erhält alles, man möchte sagen, eine
doppelte Form des Daseins: ein Sein in der Wirklichkeit und
ein Sein durch das Gewusstwerden, also im Bewusstsein. Der
Stein und der Mensch sind wirklich und werden zugleich auch
gewusst; aber bloß vom Menschen gilt, dass er einerseits ist und
gewusst wird, und dass andrerseits er selbst eben das Wissen von
sich und dem Steine hat; und er weiß auch, dass er eben so
wohl sich und andres weiss, als er von anderen gewusst wird.
Insofern der Mensch nun etwas weiß, trägt er es in sich; insofern
er um die Welt weiß, trägt er sie in sich, hat Bewusstsein
von ihr, hat also eine bewusste Welt oder eine Welt des
Bewusstseins in sich. Diese innere Welt ist also das Wissen
um Wirklichkeit und um Bewusstsein; und jeder Mensch hat
eine solche innere Welt mit oder, wie man meint, in dem Leibe.91

2. Sie ist aber nicht ein überflüssiger Schmuck, noch eine
hemmende Bürde unseres Leibes; sondern das Leben desselben
ist ganz und gar abhängig von ihr, gerade weil und insofern
es durch die Außenwelt unterhalten wird. Freilich kann der
menschliche Leib, da er aus materiellen Elementen zusammengesetzt
ist, den Wirkungen der materiellen Kräfte nicht für
einen Augenblick entzogen werden; er besteht nur im Wechsel
der Stoffe und Kräfte, gibt beide an die Außenwelt ab und
nimmt aus ihr in sich auf. Und kein Bewusstsein kann unmittelbar
aus sich diesen Wechsel als reinen Natur-Process
hemmen oder fördern, kann lediglich aus sich weder ein Fehlendes
ersetzen, noch ein Überflüssiges wegschaffen, noch überhaupt
an dem Austausch zwischen Leib und Natur etwas ändern.
Indessen wir gewinnen doch die uns nötige Nahrung
nicht durch den rein mechanischen Bestand unseres Leibes,
wie die Pflanzen tun, noch auch durch zufällige und von außen
her veranlasste Herbeiführung, wie bei den niedrigsten Tieren
der Fall ist; — sondern wir haben uns die Nahrung zu suchen
und zu holen durch unsre eigene Bewegung und Tätigkeit,
welche durch unser Bewusstsein angeregt und geleitet wird.
Wir bedürfen also des Wissens von der Welt der Dinge und
von unserm Selbst und von dem Zusammenhange der Dinge
unter einander und mit uns, um leben zu können. Das Bewusstsein
übernimmt eine dem Leben notwendige Arbeit, welche
für die Pflanze der allgemeine Mechanismus in Verbindung mit
der Organisation der Pflanze ausführt. Es übernimmt aber auch
noch eine andre Arbeit: wenigstens bei den höheren Tieren,
besonders aber beim Menschen ist es das Bewusstsein, welches
die Befruchtung einleitet, indem es mit der Begattung die notwendige
Berührung herbeiführt. Eine dritte Arbeit ferner,
welche ebenfalls die Pflanze gar nicht übt, so dass sie, wenn
sie derselben bedarf, zu Grunde geht, ist die Schaffung des
Schutzes vor Unwetter.

Das Wissen ist also ein dem Haushalt der Natur unentbehrlicher
Factor. Es tritt zu den physikalischen und chemischen
Wirkungen hinzu, um den Bestand des Menschengeschlechts
und des Tierreiches (abgesehen von dessen niedrigsten Formen)
zu ermöglichen; es führt die materiellen Bedingungen herbei,
deren das Leben bedarf.92

3. Dieses Bewusstsein offenbart sich in Erkenntnissen, in
Gefühlen und in Begehrungen; und diese drei Hauptarten der
Wirksamkeit des Bewusstseins setzen den Leib oder Glieder
desselben in Bewegung: noch ganz abgesehen von den Bewegungen,
auf denen sein organischer Bestand beruht (wie Verdauung,
Atmung u. s. w.), nämlich in solche, welche die Lage
der Glieder oder den Ort des ganzen Leibes ändert, wie beim
Gehen, Bücken u. s. w. So sind wir befähigt und geführt zur
Arbeit an den Dingen und zum Genusse derselben. Was wir
bedürfen, begehren wir, schaffen es uns herbei, bringen es in
die Form, in welcher wir es genießen mögen, indem es dem
Bedürfnisse genügt. Und auch solche Arbeit und ihre Ergebnisse
mit dem Genusse bilden sich, so zu sagen, ab in unserer
innern Welt, verlaufen mit Bewusstsein.

4. Im Vorstehenden war ich bemüht, einen Tatbestand,
wie ihn die gemeine Erfahrung darbietet, einerseits mit so viel
Genauigkeit und Schärfe auszudrücken, als die Wissenschaft
selbst in rein anfänglichen, bloß anknüpfenden Betrachtungen
nicht entbehren kann, ohne jedoch andrerseits theoretische Annahmen
einzuflechten, die erst zu beweisen sind. Nachdrücklich
möchte ich sogleich hier hervorheben, dass ich auch in allen
folgenden psychologischen Darlegungen bemüht sein werde,
mich ausschließlich in einem Kreise von Tatsachen der Erfahrung
zu bewegen, ohne etwas über das Real-Prinzip der betreffenden
Erscheinungen zu behaupten. Im Bisherigen wird
nicht mehr gegeben sein als eine Verbal-Definition des Wortes
Bewusstsein, wie es im gemeinen Sprachgebrauche vorkommt;
und ich meine, dass die gegebene Bestimmung ausreiche, um
einen Kreis anerkannter Tatsachen hinlänglich klar abgegrenzt zu
haben, der mit den in ihm herrschenden Zusammenhängen und
gesetzmäßigen Bewegungen Gegenstand einer Disciplin sein
kann. Ich habe bisher nur von Bewusstsein gesprochen, und
kann also noch nicht von Seelen-Leben, psychischen Tatsachen,
psychologischen Gesetzen reden. Es wird sich aber im Verlaufe
unserer Betrachtung bald ergeben, dass wir mit dem Terminus
Bewusstsein die erkannten Tatsachen nicht erschöpfend
bezeichnen, und wir werden dann den Terminus Seele einführen,
aber immer nur, um einen Tatbestand zusammenfassend zu benennen,
nicht um über das Princip desselben etwas auszusagen.
93Wird also bald von Seele die Rede sein, so gestatte ich mir
auch jetzt schon diesen bequemern nicht nur, sondern auch
richtigem Ausdruck, natürlich zunächst nur als gleichbedeutend
mit Bewusstsein. Eine Erweiterung des Sinnes muss erst begründet
werden. Wie man tausendfach chemische und physikalische
Untersuchungen angestellt hat und zu den wichtigsten
Ergebnissen gelangt ist, ohne zu fragen: was ist Materie? was
Wärme? was Elektricität? chemischer Process? so muss es uns
gestattet sein, die seelischen Erscheinungen bezüglich der Gesetzmäßigkeit
ihres Auftretens zu prüfen, ohne Rücksicht darauf, was
Seele oder Bewusstsein im letzten Grunde sein mag. Die Sätze,
zu denen die Psychologie gelangt,, müssen einstweilen so geartet
sein, dass sie sich Anerkennung erzwingen, mag man eine immaterielle
oder eine materielle Seele (Central-Organ) annehmen.
Schließlich müssen die Tatsachen die Prinzipienfrage entscheiden *)14

5. Es kann aber fraglich scheinen, ob es wissenschaftlich
zulässig sei, einen Kreis von Tatsachen so aus dem ganzen Umfange
der tatsächlichen Wirklichkeit zu einer besondern Disciplin
auszusondern, wie wir hier mit den seelischen Erscheinungen
tun, indem wir uns dabei nur auf die gemeine Ansicht stützen,
zumal da wir es uns versagen, für diesen Kreis ein besonderes
94Princip aufzustellen. — Dagegen bemerke ich, dass es zunächst
natürlich auch dahingestellt bleibt, ob die Psychologie außerhalb
der Physiologie und neben ihr ihre Stelle findet, oder aber bloß
ein Kapitel der letzern bildet. Wir setzen hier nur etwas
voraus, was einerseits in der obigen Definition vom Bewusstsein
schon gesagt ist, und was sich andrerseits durch die ganze
weitere psychologische Darlegung von selbst ergeben muss,
nämlich die Gleichheit oder Verwantschaft und den Zusammenhang
aller seelischen Elemente unter einander und in Bezug
auf die Eigentümlichkeit ihres Verhaltens und auf die Gesetzlichkeit
ihrer Bewegungen, wie auch ihren Gegensatz in derselben
Beziehung gegen alle übrigen Tatsachen, die wir unter
dem Namen Natur zusammenfassen.

6. Wir setzen also zwei große Kreise von Tatsachen:
Natur und Seele. Dass sie in vielfachem Zusammenhange mit
einander stehn, bedarf nicht der Erinnerung. Es ist ja auch
schon erwähnt (2), wie sich das Bewusstsein als ein notwendiger
Factor im Haushalte der Natur bewährt. Dagegen mag noch
dies hervorgehoben werden: wie sehr auch die psychischen Tatsachen
von den leiblichen hervorgebracht sein mögen, so sind
doch für uns, für unser Denken und Tun nur insoweit natürliche
Tatsachen (Naturerscheinungen) vorhanden, als wir um sie
wissen; für uns gibt es also nur insoweit Natur, Materie, Leib,
als sie psychische Tatsachen sind. Für uns also sind unleugbar
die Tatsachen der Natur von den psychischen abhängig.
Und daher, man mag die seelischen Erscheinungen auf ein primäres
ideales Seelen-Princip zurückführen oder als Äußerungen
des organisirten Leibes ansehen: immer bleibt die Psychologie
von grundlegender Bedeutung für alle Wissenschaft.

Sehen wir uns nun den seelischen Tatbestand in seinen
allgemeinsten Umrissen, das gemeine Bewusstsein nach seinem
gewöhnlichen Inhalte und seinen durchweg verbreiteten Formen,
sogleich beim Eingange unserer Disciplin noch etwas näher an.
Ich will also zunächst beschreibend darstellen, was uns die
Beobachtung täglich und stündlich in jedem gesunden, vollsinnigen
Menschen bemerken lässt. So soll das Object unserer
Betrachtung uns näher geführt, umrissen werden. Sodann wollen
wir versuchen, die eigentümliche Gesetzmäßigkeit, welche in
demselben herrscht, zu erforschen.95

b) Nähere Betrachtung des psychischen Inhaltes und
seiner Formen.

7. Der theoretische Inhalt unseres Bewusstsein ist einesteils
ein solcher, welchen wir unter Wirksamkeit unserer Sinne,
d. h. durch Warnehmung gewinnen. Mit diesem Namen
bezeichnen wir nicht bloß die Tätigkeit, sondern auch das Product
derselben.

8. Da die Warnehmungen in Folge der Einwirkung der
Dinge auf unsre Sinne (unmittelbare Einwirkung beim Tasten
Schmecken und Riechen, mittelbare durch Luft und Äther beim
Hören und Sehen) geschaffen sind, so ist ihr Object oder Erkenntniss-Inhalt
nach seinem logischen Werte immer eine Einzelheit.

9. Wir haben ferner Erinnerungen von Warnehmungen.
Höchst wahrscheinlich vollzieht sich eine solche Erinnerung
wiederum mit Hülfe derselben Nerventätigkeit, durch welche
die Warnehmung ursprünglich geschaffen war; nur ist die Erregung
der Nerven ungleich schwächer. Dieser Umstand mit
manchen andern befähigt uns in gesundem Zustande, die erinnerte
Warnehmung von der wirklichen, schaffenden zuverlässig
zu unterscheiden. Der Inhalt der Erinnerung und der Warnehmung
sind gleich; diese beiden unterscheiden sich nur durch
die Productionsform.

10. Weil man sich nicht nur der Warnehmungen, sondern
auch jedes andern Inhaltes erinnert, so mag es wohl daher
kommen, dass der Name Erinnerung nicht wie Warnehmung
Tätigkeit und Erzeugniss benennt, sondern nur die Tätigkeitsform.
Während daher Warnehmung einen logischen und metaphysischen
Wert ausdrückt, bezeichnet einen solchen die Erinnerung
gar nicht. Man hat Erinnerung eben so wohl an den
Baum, unter welchem wir als Kinder gespielt haben, als an
einen mathematischen Lehrsatz und ein logisches Gesetz, und
Erinnerung bedeutet ohne Rücksicht auf den Inhalt nur die
Fähigkeit, sich denselben ins Bewusstsein zurückrufen zu können.
Man besitzt aber eine Erkenntniss auch in der Zeit, wo man
sich ihrer nicht erinnert, wenn man nur fähig ist, sich ihrer
bei Gelegenheit zu erinnern.

11. Wenn nun Warnehmung den Inhalt einer Erkenntniss
bezeichnet, insofern er eben durch die Tätigkeit der Warnehmung
96erlangt wird, und da man eine Erkenntniss besitzt auch,
in dem Augenblike, wo man sich ihrer nicht erinnert und sich
hrer zu erinnern gar keine Veranlassung hat: wie soll man
den Inhalt einer Warnehmung als bloßen Besitz bezeichnen?
Man kann wohl sagen: ich habe die Warnehmung gemacht, dass
u. s. w.
, d. h. ich habe wargenommen. Aber man kann nicht
sagen: ich habe die Warnehmung eines bestimmten Baumes oder
von einem Baume, wie man sagt: ich habe vom Baume einen
Begriff
. Man hat eine Warnehmung nur, insofern man in der
Tätigkeit des Warnehmens begriffen ist. Bevor wir aber die
eben aufgeworfene Frage beantworten, noch einige Erläuterungen.

12. Das einzelne Ergebniss der Tätigkeit eines Sinnes-Organs
ist eine Empfindung. Süß, Weiß, hart sind Empfindungen.
Es werden Qualitäten empfunden; wargenommen
werden Dinge als Träger der Qualitäten oder Qualitäten, insofern
sie zu einem Dinge gehören, das Dasein eines Dinges voraussetzen.
Man empfindet die Süße des Zuckers; aber man
nimmt Zucker war und nimmt auch war, dass dieser Zucker
nicht so süß, nicht so weiß ist wie jener. — Man empfindet
die Süße nur, indem man schmeckt, die Weiße nur, indem man
sieht. Man nimmt aber den Zucker war, selbst wenn man ihn
nur sieht oder nur schmeckt. Die Warnehmung eines Dinges
umfasst also alle Empfindungs-Erkenntnisse, die wir von diesem
Dinge haben, obwohl sie meist nur durch eine Empfindung
vermittelt ist. Gesetzt, man nehme eben den Zucker durch das
Gesicht war, so erkennt man doch zugleich auch die Süße, Härte,
Löslichkeit, obwohl diese Qualitäten nicht durch die Empfindung
gegeben sind. — Die Warnehmung geht immer auf die
Erkenntniss des Daseins eines Dinges als eines Ganzen, auf
die Substanz; die Empfindung geht auf die Beschaffenheit des
Dinges, auf die Qualität. — Wie nennen wir also die Gesammtheit
der Empfindungs-Erkenntnisse, welche mit der Warnehmung
eines Dinges gegeben sind, insofern wir sie als ruhigen Besitz,
als eine objective Erkenntniss in uns tragen?

13. Endlich noch folgenden Punkt. Alle Dinge sind veränderlich
und beweglich, und der Mensch ist ebenfalls zu verschiedenen
Zeiten verschieden gestimmt. Jedes Ding also wird
je nach der Lage und nach sonstigen Verhältnissen und je nach
97unserer Stimmung verschieden auf uns wirken. Zucker erscheint
nicht immer gleich weiß, gleich süß. Ein Pferd erscheint anders
im Sonnenschein und anders im Schatten, anders beritten
und anders vor dem Wagen, anders im Galopp und anders im
Schritt u. s. w. In jedem einzelnen dieser Fälle haben wir die
Warnehmung immer desselben Pferdes und doch immer eine
andre Warnehmung. Verschiedne Pferde aber erscheinen verschieden
nach Farbe, Größe, Gestalt, Bewegung, Kraft. Diese
verschiedenen Warnehmungen geben die Erkenntniss von der
Art Pferd; und diese Erkenntniss von einer Tier-Art ist doch
ein Warnehmungs-Inhalt. Dieser Inhalt kann sogar niemals
mit einem Warnehmungs-Acte gegeben sein; er ist vielmehr
nur die Summe vieler Warnehmungs-Acte. Wie nennen wir
diese Summe?

14. Nun antworte ich: Nach dem üblichen Sprachgebrauche,
meine ich, nennen wir erstlich die Tätigkeit, eine
Gestalt oder ein Bild durch das Gesicht auffassen, und auch
das Ergebniss dieser Tätigkeit Anschauung. Wir nennen
aber auch zweitens den Inhalt der ganzen Warnehmung eines
Dinges und selbst den Warnehmungs-Inhalt einer Art ganz
ebenso Anschauung, und zwar deswegen, weil von allen Sinnen
das Gesicht die meisten und die eigentlich objectiven Erkenntnisse
gibt oder zu geben scheint. Man sagt, jemand habe eine
Anschauung von einem Pferde, indem er das Pferd sieht, und
auch indem er sich diesen einzelnen Anblick durch Erinnerung
zurückruft, sich also das Bild, die Gestalt des früher gesehenen
einzelnen Tieres innerlich vorführt, und auch insofern er sich
des Warnehmungs-Inhaltes, den er von der Art Pferd gewonnen
hat, zu erinnern vermag, also diesen Inhalt als geistigen Erkenntniss-Besitz
in sich trägt. Ja selbst nachdem der Warnehmungs-Inhalt
schon wissenschaftliche Bearbeitung erfahren
und wissenschaftlichen Wert erlangt hat, heisst er immer noch
Anschauung. So sagt man: ich habe eine Anschauung von einer
Dampf-Maschine gewonnen
, wenn man eine solche einigermaßen
oder genau nach den Gesetzen der physischen Mechanik begreift;
und man sagt, man habe keine Anschauung von der
Sache, wenn dies nicht der Fall ist, obwohl man vielleicht in
demselben Zeitpunkte den Anblick eines Dampf-Wagens hat,
ein solcher vor Augen steht, und man insofern eine Anschauung
98yon ihm hat, nämlich eine Anschauung von seinen äußern Umrissen
und seiner Erscheinungs-Weise überhaupt.

15. Entwickelte, gebildete Anschauungen also sind keineswegs
ein einfacher Act des Bewusstseins, sondern ein Besitz
eines mannichfachen Inhaltes, dessen wir uns nur discursiv bewusst
werden, indem wir uns nach einander der Elemente dieses
Besitztums erinnern. Wir unterscheiden aber zwischen Einzel-Anschauung,
welche nur ein ruhendes Bild ist, ein Mannichfaches,
welches neben einander gleichzeitig gegeben ist, und
allgemeiner Anschauung, von deren Unterschied gegen den
Begriff sogleich (16) und später zu reden ist.

16. Wir sagen demnach, der theoretische Inhalt unseres
Bewusstseins bestehe einesteils in Anschauungen, andernteils
aber, so fahren wir nun fort, in Begriffen, welche wir durch
mannichfache theoretische Bearbeitung der Anschauungen erlangen,
welche also der Zeit nach, im Kinde wie im Menschengeschlechte,
später als die Anschauungen auftreten.

Die Einzelbilder der Warnehmung und die Anschauungen
überhaupt werden durch Analyse, Vergleichung, Abstraction und
Combination auf umfassendem Wert gehoben, werden verallgemeinert.
Über das psychologische Wesen des Begriffes werden
später Erläuterungen gegeben werden. Hier sei nur das
bemerkt: es verschwinden nicht etwa die Anschauungen vor
den Begriffen; sie werden von diesen nicht aufgezehrt, sondern
bleiben neben ihnen bestehen. Auch kann der Inhalt der entwickelten
Anschauung von dem des niedrigen Begriffs noch gar
nicht verschieden sein. Wir nennen solchen Inhalt Anschauung,
insofern er wesentlich aus sinnlicher Warnehmung gebildet ist,
und nennen denselben Begriff, wenn und insofern er in Worten
ausgedrückt wird, welche doch allemal einen abstractern Sinn
haben.

17. Weder die Anschauungen noch die Begriffe sind mit
einem Schlage fertig; sie bleiben beide fortgesetzer theoretischer
Arbeit unterworfen, welche der Mensch anfänglich instinctiv
und unbewusst, später nach erkannten Regeln der Kunst des
Denkens, mit logischer Besonnenheit ausführt. Anschauungen
und Begriffe bleiben, wie gesagt, neben einander im Bewusstsein,
und ihre Vervollkommnung geschieht durch fortwährende
Rüksicht auf einander. Mit Hinblick auf den Begriff wird die
99Anschauung, mit Hinbliek auf diese wird der Begriff immer
vollständiger und genauer. Ferner wird durch Übung die
Fähigkeit erlangt, die Processe der Warnehmung wie der Begriffsbildung
immer leichter, schneller, schlagartiger zu vollziehen.
Ein geübtes Auge überblickt einen mit mannichfachen
Formen angefüllten Raum mit Blitzes Schnelle, während das
ungeübte von Punkt zu Punkt schleicht und dabei doch wesentliche
Punkte überspringt und besonders das Erfasste mühsam
und nur undeutlich zusammenfasst. Der geübte Denker eben
so verbindet eine lange Reihe von Denkoperationen schnell zu
einem Begriffe, welche der ungeübte Kopf langsam durchschreitet
und mit Mühe zusammenhält. Bei den meisten Menschen freilich
ist die Bildung von Anschauungen und Begriffen mit der
Jugendzeit erschöpft, und der größere Theil des Lebens vollzieht
sich in der Wiederholung des ein für alle mal Gelernten. Nur
der Gebildete bereichert sein Bewusstsein durch Ineinander-Arbeiten
von Anschauung und Begriff und durch Aneignung
neuer Anschauungen und Bildung neuer Begriffe. Der gebildete
Mann denkt nicht bloß anders als der Ungebildete und das
Kind, sondern er sieht auch anders: er sieht anders, weil er
anders denkt, und denkt anders, weil er anders sieht.

18. So viel zur vorläufigen Orientirung über den theoretischen
Inhalt unseres Bewusstseins und die Erzeugung desselben.
Die allgemein verbreiteten Formen aber, in denen der
Inhalt besteht, sind für die Anschauung: Verhältnisse der Ausdehnung,
der Ruhe und Bewegung, d. h. die Formen des
Neben-einander im Raume und des Nach-einander in der Zeit;,
für den Begriff aber: das Ganze mit seinen Teilen, das Ding
mit seinen Eigenschaften; ferner Ordnung der Begriffe nach
Graden der Allgemeinheit, also Art, Gattung, Classe, endlich
die Formen der Causalität. Alle diese Formen sind einer mehr
oder weniger niedern oder höhern Auffassung fähig; sie bezeichnen
allerdings Stufen der Entwicklung, welche Anschauung
und Begriff erreicht haben, sind aber auch an sich selbst der
Entwicklung unterworfen.

19. Hier sind natürlich die Kategorien Ding und Eigenschaft,
Raum und Zeit, Kraft und Bedingung u. s. w. zunächst
nicht in ihrer metaphysischen Abstraction gemeint. Wovon
hier die Rede ist, das sind nur die Formen, in denen die mannichfaltigen
100Erkenntnisse des gemeinen Bewusstseins sich bewegen,
ohne dass dieses etwas von ihnen wüsste. So sagt
schon das Kind z. B.: Die Puppe hat Arme und Beine und
einen Kopf u. s. w., worin wir eine Anwendung der Kategorie
des Ganzen und seiner Theile sehen, wenn auch das Kind davon
nichts weiß. Wenn es ferner sagt: Der Zucker schmeckt
süß, sieht weiß aus, ist hart, liegt in der Büchse, fällt herab,
macht den Kaffe süß u. s. w. so sind wieder andre Kategorien
im Kinde wirksam. Freilich als Begriffe für sich, als bestimmte
Denk-Inhalte, finden sich die Kategorien noch nicht in dem
gemeinen Bewusstsein. Sie werden erst, nachdem der Inhalt
des Bewusstseins schon eine hohe Stufe der Bildung erreicht
hat, dadurch entwickelt, dass man aus dem reichen und schon
mannichfach gegliederten Inhalt die demselben innewohnende
Form in Gedanken absondert und zu einem eigenen Gegenstande
der Betrachtung macht. Eine Trennung der Form vom Inhalte
aber setzt doch das Dasein dieser Form voraus. Sie war also
schon im Denk-Inhalte, im Bewusstsein, als wirksame Macht
und Tatsache vorhanden und wird mit dem Erwachen der metaphysischen
Erkenntniss auch Gegenstand des Bewusstseins,
während sie vorher zwar im Bewusstsein bestand und Wirklichkeit
hatte, aber noch nicht gewusst war. Wie der Luftdruck,
Elektricität u. s. w. bestand, bevor dies erkannt war:
so gab es auch im Bewusstsein vielerlei, ohne dass man davon
wusste. Und so ist auch heute noch im Bewusstsein der Kinder
und Ungebildeten gar vieles, wovon diese selbst nichts wissen,
und was nur Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntniss ist.
Endlich wenn wir voraussetzen, dass der Inhalt des Bewusstseins
nach Gesetzen entstehe und nach Gesetzen sich bewege,
so leuchtet doch sogleich ein, dass diese Gesetze, wiewohl sie
das Bewusstsein beherschen, dennoch nicht gewusst sind.

20. Da nun klar ist, dass sich die Psychologie auch und
vorzugsweise mit dem beschäftigt, was im Bewusstsein ist, ohne
anders als wissenschaftlich gewusst oder bewusst zu sein: so
ist schon ersichtlich, warum wir als Gegenstand der Psychologie
nicht dass Bewusstsein bezeichnen können, sondern lieber die
Seele, welche sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste
umfasst. Von diesem Unbewussten in der Seele wird im Laufe
der Darstellung oft, ja meist die Rede sein, und das Verhältniss
101desselben zum Bewusstsein wird an bestimmten Stellen
ausführlich dargelegt werden. Nun können wir aber auch, insofern
es irgendwie bequem erscheint, statt Natur und natürlich
im Gegensatze zu Seele und seelisch (psychisch) Materie und
materiell sagen, ohne dass damit eine principielle Verschiedenheit
zwischen Seele und Materie behauptet würde. Es könnte
immerhin sein, dass auch die Seele materiell, oder die Materie
psychisch ist, kurz dass sie verschiedene Betätigungsformen
eines Principes sind.

21. Wenn man demnach behaupten darf, dass auch im
Bewusstsein oder vielmehr in der Seele eben so wohl wie in
der Natur die Elemente bestehen, und die Verhältnisse wirksam
sind, ohne dass wir sie erkennen, oder ohne dass wir sie richtig
und vollständig erkennen, überhaupt ohne Rücksicht auf unser
Wissen, durch eigenes Dasein: so liegt doch auf der Hand,
dass die Sache hier für uns verwickelter ist. Die Analogie
zwischen Seele und Natur reicht zwar auch in der angeregten
Beziehung sehr weit; doch findet sie den Punkt, wo sie abbricht.
Sie zeigt sich in folgendem Vergleich. Das Dasein derjenigen
Combination der materiellen Elemente, welche wir im
tierischen Organismus vor uns haben, ist freilich von unserm
Wissen ganz unabhängig; aber darum ist es doch nicht ewig
Mit Bestimmtheit wissen wir, dass der Erdkörper eine lange
Zeit bestanden hat, ohne dass Tierleiber auf ihm entwickelt
gewesen wären. So sind auch jene Kategorien, von denen wir
soeben sprachen, von unserer metaphysischen Erkenntniss unabhängig,
aber darum doch nicht ewig. Die Ewigkeit der Kategorien
haben diejenigen behauptet, welche meinten, die Kategorien
seien dem Menschen eingeboren, der Seele immanent
(ewig, d. h. so lange es Mensch und Seele gibt). Sie konnten
so reden, weil ihnen die Seele als eine immaterielle Substanz
galt. Wir, die wir solche Geltung nicht auszusprechen wagen,
können schon darum nicht in Versuchung geraten, von angeborenen
Ideen zu reden. Die eben vorgeführte Analogie aber
zeigt uns auch, dass zu solcher Annahme ewiger Ideen gar
keine zwingende Veranlassung vorliegt. Die Geschichte endlich
lehrt uns mit aller Besimmtheit das Gegenteil. Wie die erste
animalische Zelle, so entstand auch jede Kategorie oder Idee
zu einer bestimmten Zeit: jene Zelle in einem Zeitpunkte der
102Erd-Geschichte, diese Kategorie in einem Zeitpunkt der Menschen-Geschichte.
— Anders ist der erste Hund auf der Erde
entstanden, anders wird er heute geboren. Geboren muss er
werden, sonst stirbt die Art aus; denn die existirende Generation
stirbt. Auch die Kategorie muss in jedem Menschen geboren
werden, wenn sie nicht sterben soll, und diese ihre Geburt ist
gar nicht so verschieden von ihrer ersten Erzeugung. Aber
sowohl die erste Entstehung wie die spätere Wiedergeburt sind
nicht davon abhängig, dass sie gewusst werden, weder in Bezug
auf den Hund, noch in Bezug auf die Kategorie. — Nicht jede
Hündin muss gebären; vor einem gewissen Alter und ohne gewisse
Bedingungen kann es keine. Auch nicht jeder Mensch
entwickelt alle Kategorien, selbst als bloße unbewusste Macht
in der Seele nicht; dem Kinde fehlt noch manche, zunächst
fehlen ihm alle, und auch in dem Wilden entstehen die hohem
nicht. — Endlich noch eine Analogie. Die Dinge der Natur
enstehen und vergehen bewusstlos. Aber das Bewusstsein vermag
in den Lauf der Natur einzugreifen, ihn zu lenken. Es
verkehrt die Natur nicht und kann kein Atom und keine Kraft
vernichten; aber es lenkt den eigenen Leib und führt diesen
als Naturkraft in das Getriebe der Natur ein (2). So bringt
der Mensch zwei Körper in Berührung mit einander, die ohne
ihn sich nicht genähert haben würden, und veranlasst durch die
bewirkte Berührung Natur-Erzeugnisse, die sonst nicht an dieser
Stelle entstehen würden. So ist Ackerbau, Viehzucht, Industrie
u. s. w. möglich. In derselben Weise kann das Bewusstsein
in bewusstlose psychische Getriebe eingreifen, obwohl es weder
ein Element der Seele vernichten, noch eine Kraft unwirksam
machen kann, indem es gewisse Elemente, wie Kategorien,
Regeln u. s. w. bildet, welche, einmal entstanden, notwendig
unmittelbar in das Getriebe eintreten und hier wirken, wie es
nach den in diesem psychischen Getriebe geltenden Gesetzen
notwendig wirken muss. Hierauf beruht alle Pädagogik und
Politik. Man gibt dem Knaben z. B. eine grammatische Regel,
d. h. man veranlasst ihn, mit Bewusstsein gewisse Elemente
seines Bewusstseins so zu verbinden, dass daraus der Inhalt der
Regel entsteht. Dieser Inhalt tritt in der Seele, in der er sich
ja schon befindet, in diejenigen Verhältnisse zu gewissen andern
psychischen Elementen, in welche er nach den Gesetzen des
103psychischen Mechanismus notwendig treten muss; und so spricht
der Knabe nach der erlernten Regel. Das Wesen, der Zweck
der Regel ist aber, dass sie regelt, dass sie also eine Macht
über gewisse psychische Elemente ist. Ist dies erreicht, ist
eine Regel eine solche Kraft geworden, welche bestimmte Combinationen
herbeiführt, so kann sie aus der Reihe der bewussten
Elemente ausscheiden; und während sie zuerst als eine Macht
wirkte, deren man sich zugleich bewusst war, kann sie nun
auch unbewusst ihre Macht zur Geltung bringen. Man sagt ja
gewöhnlich, dass man Regeln erst dann inne habe, wenn man
sich ihrer nicht mehr bewusst zu werden braucht, um sie anzuwenden.

Die Behauptung, dass im gemeinen Bewusstsein Kategorien
sind oder Formen, wie Ding und Eigenschaft, von denen dieses
Bewusstsein selbst nichts weiss; hat uns zu einer vorläufigen
Betrachtung über das Unbewusste im Bewusstsein geführt. Schon
der Umstand, dass dies geschehen ist, während wir noch völlig
an der Schwelle unserer Disciplin stehen, kann lehren, wie
wichtig und weitreichend das Unbewusste im Seelen-Leben ist.
Wir kehren zu unserer Darstellung des psychischen Tatbestandes
zurück.

22. Die Kategorien nahmen wir hier als Formen des Inhalts
des gemeinen Bewusstseins. Zu genauerer Bestimmung
müssen noch einige Bemerkungen hinzugefügt werden. Wir
haben oben (16—18) Anschauungen und Begriffe unterschieden.
Die Tätigkeit, durch welche die Anschauungen gebildet werden,
nennen wir Warnehmung. Wir können aber hier leicht Warnehmung
und Empfindung unterscheiden. Denn die verschiedenen
Formen der Empfindung sind die Funktionen unserer Sinnesorgane;
die verschiedenen Formen der Warnehmung aber
sind die Formen, in welchen aus den primitivsten und einfachsten
Reizen die Bildung der Anschauungen vorgeht, und das sind
die Formen des Raumes und der Zeit. Von den Begriffen
ferner ward bemerkt, dass sie durch eine theoretische Bearbeitung
der Anschauungen entstehen. Nun ist eben so zu bemerken,
dass die Formen dieser Bearbeitung oder die Formen der Begriffsbildung
die logischen und metaphysischen Kategorien sind.
So lange und insofern die Formen und Kategorien noch unbewusst
sind, ist auch die an den Anschauungen sich vollziehende
104Arbeit nur in dem Sinne als solche zu bezeichnen, wie wir von
der Arbeit der Wärme reden; denn es fehlt dort wie hier das
Bewusstsein. Das, was geschieht, indem sich in der Seele eines
Kindes ein Begriff Pferd bildet, ist nicht eine bewusste Arbeit,
sondern ein bewusstloser Process; und genauer würden wir
sagen: Die Formen des Processes, in welchem sich
die Begriffe bilden, sind die Kategorien.

23. Hier war von den Kategorien gesprochen als von
Formen des Inhaltes, welche zugleich auch Formen des Processes
oder der Arbeit sein sollen, durch welche der Inhalt
selbst erzeugt oder gestaltet ist. Um diesen Sinn der Form
richtig zu verstehen, muss man Folgendes beachten. Der Vorgang,
durch welchen Anschauungen zu Begriffen werden, ist
nicht eine Verwandlung wie im Märchen. Die lebensvolle,
farbenreiche Anschauung streift nicht die Farbe ab und verliert
allen Saft und ist dann ein grauer, eingetrockneter Begriff. Es
beginnt vielmehr einerseits eine völlige Zersetzung der Elemente
der Anschauung, und andererseits tritt ein Agens hinzu, welches
eben zugleich diese Zersetzung und eine neue Krystallisation
bewirkt. Das innere Bild eines gegenwärtig wargenommenen
oder erinnerten Pferdes z. B. ist eine Anschauung,
welche zwar aus vielen Elementen besteht, diese alle aber in
einer Einheit liegend umfasst. Unter der Wirksamkeit der
Kategorien des Dinges und seiner Eigenschaften aber sagt man
etwa: dieses Pferd ist braun, schlank, geht durch u. s. w. Hierbei
ist nur der Inhalt der Eigenschaften des Dinges durch die Sinnesorgane
geliefert; „das Pferd” aber als Ding, als der Träger
der Eigenschaften, ist nicht durch die Warnehmungstätigkeit
dargeboten, sondern wird hinzugedacht; und dass jener von den
Sinnen gelieferte Inhalt Eigenschaften sind, das ist eine Bestimmung,
welche jenem Inhalte erst durch das Bewusstsein gegeben
wird. Sagt man etwa: dieses Pferd hat eine weisse Mähne und
einen bräunlichen Lab
, so zeigt sich zuerst das Ganze mit
seinen Teilen und dann auch in jedem der beiden Teile das
Ding mit seinen Eigenschaften. Die Einheit des Anschauungsbildes
ist zerlegt in Teile. Nach dieser Zerlegung ist aber
das Ganze nicht verschwunden; sondern es wird in Gedanken
behalten. Der wargenommene Inhalt wird also doppelt gedacht,
als Ganzes und als Teile oder als Ganzes in seinen Teilen.
105Jeder Teil aber oder ein ungeteiltes Ganze wird angesehen als
ein Ding, an welchem Eigenschaften unterschieden werden. Es
kann hier noch nicht gezeigt werden, wie sich psychologisch
diese Verwandlung durch Zerlegen und Hinzudenken vollzieht;
es sollte nur darauf hingewiesen werden, dass dergleichen
Bewegungen oder Arbeiten vorgehen, und dass der Wert der
Producte dieser Bewegungen durch die metaphysischen Kategorien
bestimmt wird. Diese Kategorien drücken den Wert
aus, welchen die einzelnen aus der Bewegung gewonnenen Momente
für die Erkenntniss haben; also z. B. das eine Moment
repräsentirt das Ganze, das andre einen Teil; das eine den
Träger, das andre eine Eigenschaft u. s. w.

24. Wir sagten, die Kategorien seien einerseits die Formen
des Inhalts unserer Erkenntnisse oder unseres Wissens und
andererseits die Formen der Bewegung, des Processes oder der
Arbeit, durch welche der Inhalt erzeugt oder gestaltet ist. Jetzt
haben wir eine dritte Bedeutung der Kategorien erkannt, durch
welche jene beiden Bedeutungen vermittelt werden. Durch
die theoretische Umarbeitung der einzelnen, einheitlichen Anschauung
in den Begriff ergeben sich mehrere Factoren, wie
Pferd, Mähne, braun u. s. w. Diese zerfallen aber nicht zu
isolirten Elementen, sondern werden als Momente zu einem Erkenntnissprocess
zusammengehalten. Die Kategorien nun sind
die allgemeinen Wertbestimmungen dieser Factoren. Die
Werte werden eben nach der Geltung bemessen, welche jedes
einzelne Product als Moment oder als Mittel zur Erkenntniss
der Wirklichkeit in sich trägt; oder der metaphysische Kategorien-Wert
eines begrifflichen Products ist die Bedeutung desselben
für die begriffliche Auffassung des Wirklichen.

25. Wenn nun die Anschauung sich in der Warnehmung
vollzieht, so besteht der Begriff in der Umarbeitung der Anschauung
; beide leben in einem Processe, einer Bewegung. Nur
in solcher Bewegung oder Arbeit existirt der Inhalt unserer
begrifflichen Erkenntniss. Also ist auch die Form dieser Bewegung
eben die Form des Inhalts. Die Erkenntniss aber ist
eine Auffassung der Wirklichkeit. Die begriffliche Erkenntniss
bezieht sich zwar unmittelbar nur auf die Anschauung. Da
aber diese unmittelbar auf die Wirklichkeit geht, so bezieht
sich der Begriff mittelbar, durch die Anschauung, auf die Wirklichkeit.
106Also drückt auch die Form der Bewegung, welche
zugleich die Form des Inhalts ist, den Wert aus, welche jedem
begrifflichen Factor in der Bewegung für die Auffassung des
Wirklichen zukommt. Diese Form- und Wertbestimmungen
sind die metaphysischen Kategorien; und als Bestimmungen der
Form der Bewegung oder Arbeit sind sie die leitende, organisirende
Macht des Vorganges, die den Inhalt eigentlich gestaltende
und in der Gestaltung schaffende Kraft. Als solche Mächte
oder Kräfte sind sie zunächst unbewusst; sie treiben sich aber
durch fortschreitende Erkenntniss schliesslich selbst zum Bewusstsein.

26. Betrachten wir unsere Erkenntniss als bezogen auf die
Wirklichkeit oder in ihrer Bestimmung, das Wirkliche begrifflich
zu erfassen, so liegen die Formbestimmungen der begrifflichen
Factoren in den metaphysischen Kategorien: Ganzes, Ding,
Eigenschaft, Ursache u. s. w. Betrachten wir aber die Erkenntniss
lediglich als eine Arbeit im Bewusstsein, so heben
wir die logische Seite hervor. Die Momente der Erkenntnissbewegung
nannten wir begriffliche Factoren, welche in ihrer
wahren Beziehung zusammengenommen die Bewegung, den Begriff,
die begriffliche Erkenntniss herstellen. In der logischen
Betrachtung nennt man gewöhnlich diese Factoren schon jeden
einzeln genommen einen Begriff, was er an sich auch ist; und
die logische Frage lautet: wie werden in einer Erkenntniss, die
sich immer aus mehreren Begriffen, wenigstens aus zweien, zusammensetzt,
diese mit einander verbunden ? Die erste Antwort
lautet bekanntlich: Die Begriffe werden zusammengefasst in der
Form des Urteils als Subject und Prädicat. Z. B. der Zucker ist
süß. Hier ist eine Erkenntniss, ein Wissen. Zuerst ist es eine
bloße Warnehmungs-Erkenntniss, die sich unmittelbar durch die
materielle Berührung des Zuckers mit unserm Geschmacksorgan
und durch die hierdurch in letzterm hervorgebrachte Veränderung
herstellt. Sprechen wir aber: „Der Zucker ist süß”, so ist
dies Ausdruck einer begrifflichen Erkenntniss. Diese ist eine
psychische Arbeit, die sich um zwei Factoren oder Momente
bewegt. Metaphysisch genommen, haben wir zwei begriffliche
Factoren, deren einer unter die Kategorie des Dinges, der
andere unter die der Eigenschaft fällt. Danach ist ihr Wert
als Mittel zur Auffassung der Wirklichkeit ausgedrückt. Nach
107logischer Betrachtung aber ist der Begriff „süß” als Prädicat
mit dem andern Begriff als Subject zum Urteil verbunden,
womit ohne Rücksicht auf ihre metaphysische Geltung, auf die
Wirklichkeit, deren Erkenntniss sie enthalten sollen, nur die
Rolle bestimmt wird, welche jeder der beiden Begriffe in einer
Arbeit des Bewusstseins spielt; es wird der Wert bestimmt,
den ein Begriff als Moment einer Bewegung im Bewusstsein
für diese Gegeneinander-Bewegung zweier Begriffe hat.

27. Die Erkenntnissbewegung als logische angesehen nennt
man Denken; es bildet einen Gegensatz zum sinnlichen Warnehmen.
Ursprünglich sind die Formen des Denkens, die logischen
Kategorien, wie Urteil, Schluss u. s. w., eben so wohl
wie die metaphysischen ganz unbewusst. Erst mit der Bildung
der Logik als Wissenschaft treten sie ins Bewusstsein. Längst
zuvor aber haben sich die metaphysischen und die logischen
Formen einen sinnlichen Ausdruck geschaffen in den grammatischen
Formen. Menschlicher Geist war aufgetreten, als
sich die Begriffe, die Inhalte des Denkens, in Worten äußerten.
So war das Denken zuerst als Sprechen dem gemeinen Bewusstsein
bekannt geworden. In jedem sprachlich ausgedrückten
Gedanken haben wir eine Erkenntniss in begrifflicher Form.
Denn wenn auch der Inhalt des Satzes nur eine so dürftige
Warnehmung ist, wie: der Schnee ist weiß; so liegt doch hier
schon eine Analyse eines Anschauungs-Inhaltes nach Kategorien
des Begriffes vor.

28. Nach dem Gesagten ist ein gewisser Parallelismus der
grammatischen, der logischen und der metaphysischen Kategorien
leicht begreifflich. Nominativ, Subject, Ding (Substanz);
Verbum (Adjectivum), Prädicat, Eigenschaft (Accidens) u. s. w.
laufen neben einander her. Dem gemeinen Bewusstsein fallen
die drei Reihen zusammen. Ja noch mehr: das Denken bleibt
immer auf das Sein, die Wirklichkeit bezogen. Nach dem gemeinen
(leider auch vielfach nach dem philosophischen) Bewusstsein
entspricht jedem metaphysischen Elemente auch ein Element
der Wirklichkeit und jeder logischen Bewegung eine wirkliche,
und d. h. jedem Worte entspricht eine wirkliche Substanz
oder Qualität u. s. w.108

29. Im Vorstehenden ist das theoretische Leben umgrenzt.
Um nun den ganzen psychischen Tatbestand zu erschöpfen, ist
noch hinzuzufügen, dass die Dinge der Wirklichkeit, indem sie
die theoretische Tätigkeit erregen (zunächst die sinnliche Warnehmung
veranlassen), zugleich auch ein Gefühl geben, angenehm
oder unangenehm erscheinen und danach auch das Begehren
(mit Einschluss von Abscheu) erwecken. Dieses geht
unmittelbar in Handlung, in leibliche Arbeit über, um sich das
Begehrte zu schaffen und zu sichern, das Verabscheute dagegen
abzuwehren und fern zu halten. Es ist auch klar, dass einerseits
Gefühl und Begehren nicht ohne theoretisches Auffassen
des Wirklichen möglich sind, und dass andrerseits dieses durch
jene beiden fortwährend zur Action getrieben wird.

30. Es muss aber noch die Tatsache bemerkt werden, dass
im Gegensatze zum vegetativen und animalischen Leben, das
(abgesehen von der Befruchtung) ganz innerhalb des Individuums
verläuft, Denken, Fühlen und Handeln, also das ganze psychische
Leben, nur im geselligen Verkehr der Menschen zur
Wirklichkeit gelangt. Sobald vom menschlichen Seelenleben
die Rede ist, darf keinen Augenblick vergessen werden, dass
es erfahrungsmäßig nur in einer menschlichen Gemeinde zu
Stande kommt. Die Psychologie also erforscht nicht zuerst das
seelische Individuum und fragt in einem zweiten Teile, wie
solche so gewordene Individuen sich darauf zu Gemeinsamkeiten
zusammentun; sondern sie beginnt umgekehrt mit der menschlichen
Gesellschaft und fragt dann, wie sich innerhalb derselben
Individualitäten entwickeln. Sie hätte, wenn es sich consequent
durchführen ließe, mit der vorgeschichtlichen Menschen-Gemeinde
zu beginnen und dann in die geschichtliche Zeit vorzuschreiten,
wo sich erst innerhalb der Gemeinden und ohne
aus diesen herauszutreten, Individualitäten entwickeln.

31. Nach den drei Hauptformen der seelischen Bewegung,
Denken, Handeln, Fühlen, gliedert sich das wirklich gestaltete
Seelenleben des Menschen in der Gemeinde oder Gesellschaft nach
drei Hauptrichtungen: Erkenntniss, Arbeit und Genuss. Da Handeln
und Fühlen nicht ohne Denken auftreten, so auch nicht Arbeit
und Genuss ohne Erkenntniss, und sie fördern und begleiten diese.

32. Die Arbeit ist das praktische Leben. In entwickelterer
Form tritt es uns entgegen im Staats- und Familien - Leben.109

33. Nach der Arbeit ist die Ruhe ein Genuss. Dieser
entwickelt aber auch seine eigene Tätigkeit, deren Ziel nur er
selbst, der Genuss ist. Er entwickelt sich in Religion, Kunst,
Spiel. Diese drei Formen des Genusses liegen ursprünglich
zusammen und trennen sich im Fortgange der Entwickelung.

II.
Elementare psychische Processe.

a) Die Vorstellung und ihre Grund-Eigenschaften.

34. Nachdem wir den psychischen Tatbestand, wie er im
gemeinen Bewusstsein gegeben ist, ungefähr umschrieben haben,
gelangen wir zu der Aufgabe, denselben auf die einfachsten
ihn bildenden Grundelemente und deren Bewegungen zurückzuführen,
und dadurch nachzuweisen, wie er geworden ist. Wir
haben einen psychischen Mechanismus zu erforschen, wie die
rationale Naturlehre einen natürlichen Mechanismus kennen
lehrt, und haben zu begreifen, wie sich auf Grundlage desselben
die Welt des Geistes erbaut. Hierzu haben wir zunächst die
Elemente, die wir bisher als solche gelten ließen, Anschauungen
und Begriffe, weiter zu analysiren und auf ihre einfachem Bestandteile
zu untersuchen, und haben die Frage aufzuwerfen:
wie sind diese letztern, als die eigentlichen Elemente, mit einander
verbunden ? Wir müssen versuchen, ob wir zu einer wirklichen
geistigen Atomen-Lehre gelangen können.

35. Es ist aber zunächst zu bemerken, dass wir mit der
Sonderung von Anschauung und Begriff einen Unterschied innerhalb
des psychischen Tatbestandes noch gar nicht in psychologischer,
sondern in logischer Rücksicht gemacht haben. Anschauung,
oder sagen wir die Warnehmung des einzelnen Dinges,
ist nur ein Begriff geringster Subsumtionsfähigkeit, geringsten
Umfanges. Das psychologische Wesen beider ist zwar wirklich
verschieden, aber hiermit noch nicht ausgesprochen. Ja, wir
können vielmehr hier schon die Üeberlegung anstellen, wie die
110Psychologie unmittelbar jenen Unterschied gar nicht berühren
kann. Denn wir haben oben (12—15) schon bemerkt, dass
eine Anschauung gar kein einheitliches Factum, sondern gewissermaßen
ein Collectivum ist. Eben so geht wohl aus allem,
was wir über den Begriff gesagt haben, hervor (25), dass er, genau
genommen, eine Form der Erkenntniss bezeichnet, die sich nicht
in einem einheitlichen Factor des Bewusstseins, sondern in einer
Bewegung mehrer oder weniger Factoren vollzieht; darum heisst
er discursiv. Ein Begriff ist also wiederum kein einheitliches
Product, noch weniger als die Anschauung es ist, sondern die
Zusammenfassung einer mehr oder weniger verwickelten Tätigkeit.
Gerade darum bedienten wir uns lieber des Ausdrucks
„begriffliche Erkenntniss” als „Begriff”. Wenn aber Anschauung
und Begriff nur den Wert eines durch Warnehmung und begriffliche
Operationen gewonnenen Inhalts ausdrücken, so sind
sie auch keine psychologischen Termini; und wir müssen ausdrücklich
den Schein abwehren, als wäre ein Begriff ein einheitlicher
Act des Bewusstseins.

Wie nicht Anschauungen, sondern Warnehmungen, so sind
auch nicht Begriffe, sondern Vorstellungen der unmittelbare
Gegenstand der Psychologie. Was sind Vorstellungen?

36. Anschauung und Begriff bezeichnen einen Erkenntniss-Inhalt,
der eine geistige Auffassung eines Wirklichen in sich
schließt. Die metaphysischen Kategorien bezeichnen den
Wert des Begriffs mit Rücksicht auf das Wirkliche, deren
geistiges Aequivalent er ist; die logischen Kategorien bezeichnen
die Formen desselben begrifflichen Inhalts, in welchen das
Denken die begrifflichen Factoren in Gemäßheit ihres metaphysischen
Wertes sich gegen einander bewegen lässt. Die
Vorstellung dagegen ist die eigentümliche psychologische
Kategorie; sie bewirkt eine bloße Darstellung des Inhalts des
Begriffs und der Anschauung für das Bewusstsein. Sie ist
wesentlich Sprache im weitesten Sinne. An diesem Orte können
wir nur folgende Nominal-Definition aufstellen: Eine Vorstellung
heiße jeder begriffliche Factor, insofern er
Gegenstand der psychologischen Untersuchung ist.
Oben (26) sagten wir, in der Logik werde jeder begriffliche
Factor auch für sich schon ein Begriff genannt. Wir werden,
da wir hier Psychologie treiben, diesem Gebrauche nicht folgen.
111Wir nennen Begriff nur die gesammte Erkenntnissbewegung,
welche den Begriff eines wirklichen Gegenstandes in sich schließt.
Wenn die Logik jeden Factor solcher Bewegung Begriff nennt,
so tut sie es in der Voraussetzung, dass jeder Factor selbst
schon in sich eine begriffliche Bewegung mehrer Factoren enthält
und als einheitlicher Inhalt wieder als Factor in einen Erkenntnissprocess
treten kann. Wir nennen in der Psychologie
umgekehrt jeden Begriff, mag er auch in sich selbst eine große,
umfassende Bewegung vieler Factoren enthalten, eine Vorstellung,
als einen einheitlichen psychischen Factor in einer psychischen
Bewegung, insofern dieser einer psychologischen Betrachtung
unterworfen wird. Die Vorstellung ist uns also nicht
ein Mittleres in der Entwicklung der Erkenntniss zwischen
Warnehmung (Anschauung) und Begriff; sondern wir setzen
mit diesem Terminus nur voraus, dass wir eine Entwicklungsstufe
psychologisch betrachten, wo die Anschauung schon nach
den Kategorien des Dinges mit seinen Eigenschaften und sich
daran anschließenden Formen auf die Stufe des Begriffs gehoben
ist. Dann ist jeder Begriff und jeder begriffliche Factor, wie
Zucker, Pferd, süß, braun, wiehern, laufen u. s. w., insofern er
psychologisch betrachtet wird, eine Vorstellung.

37. Das genetische Wesen der Vorstellung kann erst später
dargelegt werden. Für jetzt hebe ich nur die Bequemlichkeit
hervor, deren Ursache weiter unten klar werden wird, dass wir
jeden psychischen Factor, den wir mit einem Worte bezeichnen,
als Vorstellung haben. Zugleich lässt sich ahnen, wie wir hiermit
wirklich in das psychische Getriebe eintreten. Denn die
unmittelbare Warnehmung mit der Sinnestätigkeit ist für den
erwachsenen und vollsinnigen Menschen nur praktisch wichtig;
theoretisch ist sie nur für die eigentliche Beobachtung und das
Experiment wirksam, deren Ergebniss aber sogleich in Begriffsform,
also als Vorstellung erfasst wird. Wir können also von
einer Vorstellung Wasser und einer Vorstellung warm reden
und können dabei den Unterschied, ob diese Vorstellung die
gemeine Anschauung von Wasser und die gemeine Empfindung
warm bedeuten, oder ob sie einen chemischen und physikalischen
Begriff enthalten, ganz unbeachtet lassen. Denn insofern jene
Inhalte als Vorstellungen in psychologischem Verhältniss betrachtet
werden, kommt dieser Unterschied nicht in Betracht.
112Gewiss hängt der sich schließlich ergebende Inhalt einer Erkenntniss-Bewegung
von dem Inhalte der in diese Bewegung
getretenen psychischen Factoren ab; aber die Psychologie
beachtet ausschließlich die Formen der Bewegung dieser Inhalte.
Wasser beruht ebenso auf den Elementen, aus denen es zusammengesetzt
ist, d. h. auf dem materiellen Inhalt der es constituirenden
Factoren; aber die Chemie untersucht nur das Verhältniss
und die Bewegung dieser Factoren bei der Bildung von
Wasser. — Auch schließen wir uns mit dieser Anwendung des
Terminus Vorstellung dem üblichen Sprachgebrauche der Psychologen
an, der im Vorstehenden seine Rechtfertigung findet
und später in höherm Grade finden wird.

38. Endlich aber lässt sich wohl voraussetzen, was übrigens
durch genauere Untersuchung schon bestätigt ist, dass
dieselben Bewegungen oder Verhältnisse, welche wir zwischen
den Vorstellungen beobachten, sich auch unter den Empfindungen
in der Warnehmung nachweisen lassen. Ja, wenn sich zeigen
wird, dass wie die Vorstellungen, so auch was wir Empfindungen
nennen, nichts Einfaches sind, keine psychischen Atome,
sondern etwa psychische Molecule, so werden sich auch an
jenen psychischen Atomen dieselben Gesetze bewähren. Denn
wie in der Naturwissenschaft die unmessbaren Verhältnisse der
Molecule und Atome nach Analogie der messbaren beurteilt
werden: so wird auch der Psychologe, was er an den klaren
Vorstellungen bemerkt hat, auf die unklaren Empfindungs-Vorgänge
übertragen dürfen, wenn auch mit besonderer Vorsicht
und eigentümlicher Modification. Dies berechtigt uns denn auch
gelegentlich nach Bequemlichkeit unter dem Terminus Vorstellung
auch die Empfindungen, Gefühle und Begehrungen zu befassen.

39. Wie uns die Natur nicht eine Körper-Welt in ruhendem
Sein zeigt, sondern alles in unaufhörlicher Bewegung, in Wandel
und Wechsel, nichts in sich beharrend, sondern jedes mit dem
andern in Wechselwirkung: so ist auch die Seele eine Welt
von Vorstellungen, die nicht jede für sich isolirt bleiben, sondern
unter einander in mannichfaltigem Verkehr stehen. In
diesem ewigen materiellen und psychischen Wechsel ist nichts
weiter fest als das Gesetz, welches die Bewegungen leitet,
und (wenn auch nur in bedingtem Maße) die Gestalt (Idee), zu
113der sich die Elemente, so oft sie auch aus einander gehen,
immer wieder vereinigen. Unter Gestalt würden wir hier in
psychologischer Beziehung die Formen des geistigen Lebens
verstehen, wie Sprache, Religion, Kunst, Staat, Ehe u. s. w.,
die man ja auch oft Ideen nennt. Da aber die Gestalt selbst
unter dem Gesetze steht, so können wir das Gesetz als das
einzig Feste im All erklären.

40. Gesetz aber ist nichts anderes als bestimmtes und
festes Verhältniss der Bewegungen. Nicht seinem Wesen
nach, aber der vollen Klarheit wegen verlangt es einen
Ausdruck in Zahlen.

41. Wenn wir nun das Verhältniss des Wechselverkehrs
als ein festes zu denken haben, so schließt diese Forderung
auch dies ein, jeden Factor des Verhältnisses, insofern er an
sich gedacht wird, als ein bestimmtes Etwas, als ein Dieses und
kein Andres zu denken. Dies spricht sich für die Natur durch
das Gesetz der Undurchdringlichkeit aus, d. h. durch die Eigenschaft,
vermöge welcher kein Körper gleichzeitig den Raum
eines andern einnehmen kann. Logisch wird dasselbe durch
den Satz der Identität ausgesprochen: A = A. Psychologisch
aber bedeutet dies: Jeder psychische Factor, jede Vorstellung,
hat einen bestimmten Inhalt, diesen und keinen andern. Jedoch
ist hier noch Folgendes zu beachten, wodurch sich die Seele
von der Materie unterscheidet.

42. Alles was ist, ist unvertilgbar: dieser Satz gilt in der
Natur nur von den Elementen und von der Kraft, die denselben
innewohnt. Die Gestalten dagegen, in denen sich die Elemente
zu Dingen combiniren, sind der Auflösung unterworfen; umgekehrt
gehen die Elemente in die Verbindungen ein. Sind sie
isolirt, so sind sie nicht verbunden; sind sie verbunden, so sind
sie nicht isolirt. In der Seele aber bleibt alles bestehen, was je in
ihr bestanden hat. Wird eine Combination aufgelöst, so bestehen
nun die Elemente neben der Combination, z. B. der Begriff
neben der Anschauung. Wird umgekehrt eine Vorstellung in eine
Combination gezogen, so hört sie nicht auf, auch für sich zu
sein. Man hat z. B. die Vorstellung der sinkenden Sonne.
Hinterher zeigt sich, dass nicht die Sonne sinkt, sondern die
Erde sich um ihre Achse dreht. Die neue Vorstellung aber der
sich drehenden Erde vernichtet nicht die frühere. Habe ich
114Wasser zersetzt in seine Elemente, so habe ich nicht mehr
Wasser, sondern die Elemente. Aber die Anschauung Wasser
bleibt, auch wenn sie begrifflich zersetzt ist.

43. Wir sagen also:

Was die materiellen Dinge erfahren, erfahren nicht auch
die ihnen entsprechenden psychischen Factoren; sondern was
jene erfahren, veranlasst zu den schon vorhandenen Vorstellungen
die Entstehung neuer Vorstellungen. Wenn sich Wasser
zersetzt, so wird dadurch nicht auch unsere Vorstellung Wasser
zersetzt; sondern diese bleibt, und die Zersetzungsproducte
(Wasser- und Sauerstoff) und der Zersetzungsprocess oder die
Zersetzungsursache erzeugen neue Vorstellungen zu der vorher
vorhandenen hinzu. Eine blaue Flüssigkeit mit einer gelben
gemischt, ergibt eine grüne Färbung. Die Vorstellungen blau
und gelb aber werden nicht gemischt, sondern beharren, und
neben ihnen entsteht durch die Mischung der Körper und deren
Erfolg in der Wirklichkeit die Vorstellung einer neuen Farbe:
grün.

Das Gesetz der Beharrlichkeit hat also in der Psychologie
eine ganz andre Bedeutung als in der Natur. Vom
Grunde dieses Unterschiedes wird weiter unten (59) geredet.

44. Beruht die eine Seite des Wechselverkehrs im All
auf der Undurchdringlichkeit und Beharrlichkeit, der Identität
mit sich selbst, so liegt die andre Seite als notwendige Ergänzung
in der Eigenschaft der Attraction: d. i. in allgemeinster
Bezeichnung das Streben der materiellen Dinge wie der psychischen
Factoren, mit einander in Verhältniss und Verbindung
zu treten; also das Streben, indem sie in ihrem Sein beharren,
sich doch an einander zu schließen zur Bildung umfassenderer
Gestalten.

45. Zur Bedeutung der Attraction in der Seele sei Folgendes
bemerkt (wir kehren aber hier zu dem, wovon wir oben
ausgingen, 35—37, zurück): Nicht nur die Anschauung oder
eine Warnehmung eines Dinges, sondern schon jede Empfindungs-Erkenntniss
ist nichts Einfaches; sie ist vielmehr aus
verschiedenen Nerven-Erzeugnissen zusammengesetzt, welche
sich gegenseitig anzogen, mit einander z. B. zu einer Gesichtswarnehmung
verbanden. Letztere, etwa die Warnehmung eines
blauen Fleckes, einer blauen Fläche, ist weit mehr als der bloße
115Lichteffect, der durch Einwirkung des Äthers auf den Sehnerv
hervorgebracht wird. Es müssen vielmehr mit dieser Wirkung
auch noch Bewegungen im Gesichtsorgan und (durch jenen
Effect und diese Bewegung bewirkte) Gefühle sich verbinden.
Dies weist die Physiologie mit großer Bestimmtheit nach.

Unsre Warnehmungen und Anschauungen von Dingen sind
allemal Verbände von Empfindungs - Erkenntnissen mannichfacher
Art; denn solche Erkenntnisse, selbst schon aus einer
Verbindung einfachster psychischer Factoren, gewissermaßen
psychischer Atome, bestehend, treten in neue, umfassendere Verbindungen,
um ein Ding darzustellen. Die Erkenntnisse z. B.,
welche das Kind vom Zucker einzeln und nacheinander durch
das Gesicht und den Tastsinn erhält, verbinden sich nach dem
allgemeinen psychischen Attractionsgesetze unter einander und
mit der Erkenntniss, die ihm durch den Geschmack gewährt
ist (denn in solcher Reihenfolge wird wohl die Erkenntniss vorschreiten:
durch Geschmack, Tasten, Sehen); und die einzelnen
Erkenntnisse, die es vom Kopfe der Puppe gewonnen hat, verbinden
sich mit denen, die es von den übrigen Teilen der Puppe
(der Menschen-Gestalt) gewinnt. So entsteht eine Anschauung
vom Zucker oder von der menschlichen Gestalt, als ein Verband
von Empfindungserkenntnissen. Diese psychische
Attraction wirkt also nicht wie die materielle Cohäsionskraft,
welche die Molecule (überhaupt Teile) eines Körpers zu einer
continuirlichen Größe zusammenhält, noch auch wie die Attraction,
welche eine große Masse, wie die Erde, auf eine kleine,
wie einen Stein, ausübt, wodurch immer nur Masse der Masse
genähert wird; sondern sie wirkt eine Verbindung in bestimmter
Lagerung der verbundenen Teile, also wie eine organisirende,
gestaltende Kraft. Die psychischen Factoren verhalten sich
niemals wie Massen und Massenteilchen (Molecule), sondern
eher etwa wie Atome, die in eine chemische Verbindung treten,
oder die sich zur Bildung einer organischen Zelle vereinen. Die
Momente einer Erkenntniss sind wesentlich wie Organe, von
denen jedes eine Function zur Hervorbringung eines organischen
Gesammtwesens übt. Wenn ein Lichteffect und Tasteffect und
ein Bewegungsgefühl zusammentreten, so vereinen sich ja hier
qualitativ differente Momente, also nicht wie bei Cohäsion und
Massen-Anziehung, wo Gleichartiges auf Gleichartiges wirkt,
116sondern wie bei der chemischen Verbindung, wo qualitativ
differente Elemente, oder beim Organismus, wo morphologisch
verschiedene Gebilde sich vereinen.

46. Die Empfindungen also, welche zusammengenommen
die Anschauung bilden, liegen hierbei nicht als bloße Summe,
als ein Haufe gleichwertiger Elemente vor; sondern, was wir
durch den Terminus Verband schon angedeutet haben, es findet
eine bestimmte Beziehung zwischen ihnen statt, sie sind in bestimmtem
Sinne verbunden; und wenn darauf bei der begrifflichen
Bearbeitung die Anschauung analytisch in begriffliche
Factoren zersetzt wird nach der Kategorie des Dinges mit
seinen Eigenschaften, des Raumes mit seinen Dimensionen (lang,
breit, dick), wenn also nun die Empfindungen als Vorstellungen
der Eigenschaften prädicirt werden, so bleibt ihnen auch dann
jener Sinn ihrer Verbindung ungeschwächt. Man sagt freilich:
„der Zucker ist süß, ist weiß, ist fest” in gleicher sprachlicher
Form; aber diese Ausdrucksweise ist schwerlich ursprünglich,
und selbst, wo sie üblich geworden ist, bleibt ihr Sinn doch
der nämliche wie bei dem gewiss ursprünglichem Ausdruck:
„der Zucker schmeckt süß, sieht weiß aus” u. s. w. Hier zeigt
sich klar, dass die Eigenschaft weiß vom Zucker nach ganz
andrer Beziehung geltend gemacht wird als die Eigenschaft süß.

47. Das Verhältniss des Ganzen und seiner Teile macht
sich schon innerhalb der Anschauung selbst geltend. Die Teile
bilden wie die Empfindungen einen psychologischen Verband.
Aber der Zusammenhang der Theile mit einander ist doch ganz
verschieden von dem der Eigenschaften, und auch jeder Teil
hängt mit allen andern oder dem Ganzen in eigner Weise zusammen.
Wenn man auch sagt: „der Mensch hat einen Kopf,
hat Arme, hat eine Brust”, immer desselben „hat” sich bedienend,
so liegt doch in jedem dieser wiederholten „hat” ein
besonderer Sinn.

48. Wie also hier von dem Sinne der Verbindung der
Teile und Eigenschaften oder der Elemente der Anschauung
geredet wird, so betrifft er zwar den Wert, welchen diese Verbindungen
in Bezug auf die von ihnen umfasste und dargestellte
Wirklichkeit in sich tragen, betrifft die Bedeutung der Verbindungen
als geistige Aequivalente der realen Verhältnisse. Dennoch
aber wäre es ein Irrtum, zu meinen, die Empfindungen,
117aus denen eine Anschauung bestellt, als psychische Elemente,
bildeten im Bewusstsein oder in der Seele behufs Herstellung
der Anschauung gerade solch einen Verband in gerade solchen
Verbindungsweisen, wie die durch unsre Empfindungen erfassten
Eigenschaften oder realen Verhältnisse an den Dingen. Wir
haben uns vielmehr die Verbindung psychischer Elemente ganz
anders zu denken als die realen Verbindungen, obwohl jene
den Wert der letztern geistig darstellen. Wie das Spiegelbild
ganz andrer Natur ist als das abgespiegelte Ding: so ist auch
das geistige Bild ganz andern Wesens als die in ihm erfasste
Wirklichkeit. Dass die Vorstellungen von einem Dinge (bei der
begrifflichen Erkenntniss desselben) nicht einen unmittelbaren
Abklatsch der Dinge gewähren, ergibt sich schon daraus, dass
Vorstellungen zu den Ergebnissen der Sinnestätigkeit hinzugedacht
werden (23). Die Warnehmung aber ist bloß der
unbewusst, aber mit unmittelbarer Sinnestätigkeit vollzogene
Begriff. Sie ist nicht minder discursiv als dieser, nur schneller
in der Bewegung.

49. Dass jede Vorstellung zur Herstellung des Begriffes
eines Dinges sich mit andern in bestimmtem Sinne verbindet,
drücken wir so aus, dass wir sagen, bei der Bildung derselben
durch die begriffliche Analyse der Warnehmung oder Anschauung,
also bei ihrer Entstehung erhielt sie ein unverwischliches,
ihrem Wesen innewohnendes Verbindungsmerkmal.
Die Vorstellung süß z. B. enthält dies in sich, dass es eine
Qualität bezeichnet, welche durch die Einwirkung auf das Geschmacksorgan
hervortritt; hoch schließt eine bestimmte Dimensionsrichtung
und Vergleichung in sich; Fuß, Kopf eine
bestimmte Lage und Tätigkeit eines Gliedes u. s. w. Das Verbindungsmerkmal
enthält auch die individuelle Modification des
immer allgemeinern Vorstellungsinhaltes. Weiß ist freilich immer
weiß; aber anders ist es mit Milch, anders mit Schnee,
mit Zucker, Pferd u. s. w. verbunden, und je nach der Verbindung
hat es ein andres Verbindungsmerkmal in sich. So
hat jede Vorstellung so viele Verbindungsmerkmale, aus wie
vielen Anschauungen sie ausgelöst ist; und so oft der Begriff
mit seinen Vorstellungen, welche immer abstract sind, in eine
concrete Anschauung rückgebildet wird, macht sich das Verbindungsmerkmal
geltend, um den Inhalt der Vorstellung in die
118richtige Verbindung zu bringen und ihm die richtige individuelle
Modifikation zu verleihen. Sie sind das Treibende und Leitende
in der Verbindung der Vorstellung; sie treiben diese zum Verbande,
weil jede Vorstellung durch sie auf etwas außer ihr bezogen
ist; und da sie den Sinn dieser Beziehung in sich schließen,
so lenken sie die Weise der Verbindung.

50. Man darf das Verbindungsmerkmal nicht substantiell
fassen. Es ist in Wahrheit nur der Ausdruck für die Tendenz
des abgesonderten Gliedes eines Ganzen (wie die Vorstellung
ja immer Glied entweder eines Begriffes oder einer Warnehmung
ist), zu dem Ganzen, dessen Glied es ist, zurückzukehren;
und diese Tendenz ist nur Ausfluss des psychischen Beharrungs-Gesetzes
(42. 43). Da die Vorstellung immer unter eine der Kategorien
Substanz und Accidens (oder Ding und Eigenschaft)
fällt, diese Kategorien aber in der Wirklichkeit immer bei einander
sind, so ist sie in sich einseitig und unfähig, eine Existenz
aufzufassen. Darauf aber geht die psychische Bewegung gerade
hinaus, das Dasein zu erfassen. Daher strebt jede Vorstellung
nach der Verbindung mit andern, weil sie sowohl das Dasein
darszustellen strebt, als sie auch aus einem Producte (der Warnehmung)
ausgesondert ist, durch welches ein Daseiendes erfasst
war.

51. Was ist denn aber ein Ganzes ? Das hängt ganz von
subjectiver Bestimmung ab. Was wir eine Anschauung oder
Warnehmung nennen, das ist immer ein Teil einer weitern umfassendem
Warnehmung. Man hat niemals die Warnehmung
eines Baumes; sondern diese ist immer Teil einer Warnehmung
des Baumes mit dem Boden, in dem er wurzelt, mit der Luft,
in die er hineinragt, mit dem Hintergrunde (etwa dem Hause),
vor dem er steht u. s. w.; kurz, jede volle Warnehmung umfasst
einen Horizont. Man sieht auch nie einen Tisch als Ganzes;
sondern er steht in einem bestimmten Raume in Zusammenhang
mit andern Einrichtungen und Geräten, und diese mit Personen,
die sich ihrer bedienen. Die Vorstellungen aller dieser Dinge
streben also nach Verbindung zur Herstellung der vollen, ganzen
Warnehmung.

52. Alle Empfindungen, also die Elemente unserer Erkenntniss,
sind eigentlich und an sich nur psychische, subjective
Elemente; es sind Vorgänge in der Seele. Wie sie aber von
119außen her veranlasst sind, so werden sie auch vom Bewusstsein
als Wirkungen der Außen-Dinge auf die Seele gedeutet; es
wird demgemäß jeder Warnehmung gegenüber ein Äußeres gesetzt,
von welchem der Seele die Warnehmung zukommt. Es
gilt also jede Warnehmung dafür, die Vorstellung eines Objects
zu sein. Das heißt: sie wird projicirt. Die Empfindung der
Süße, welche bei der Berührung unseres Geschmacksorgans mit
Zucker in unserer Seele entsteht, wird umgedeutet zu einer
realen Eigenschaft des äußern Objects Zucker.

53. Die Verbindungsmerkmale der Vorstellungen sind ursprünglich
und an sich eben so subjectiv wie der eigentliche
Inhalt der Vorstellungen, werden aber eben so sehr wie dieser
objectiv gedeutet, projicirt; sie werden nämlich als die Grenzen
und als die Bestimmtheit der Objecte im Verhältniss zu andern
Objecten gedeutet, indem sie an sich die Beziehungen, so zu
sagen, die Bestimmtheiten und Begrenzungen der Vorstellungen,
zunächst der Empfindungen, sind. Oder: indem die realen Verhältnisse
in uns Empfindungen und Vorstellungen erzeugen, so
entstehen an denselben zugleich in diesem Erzeugungsacte durch
die psychischen, rein subjectiven Bewegungen die Verbindungsmerkmale;
und indem die Vorstellungen projicirt werden, werden
es auch ihre Verbindungsmerkmale, die zwar an sich subjectiv
sind, nun aber objectiv verwertet werden. Sie machen
eben den Inhalt der Beziehung aus, welche die Seele zwischen
den Empfindungen oder Vorstellungen stiftet; oder sie sind, wie
wir oben sagten, der Erfolg jener Beharrlichkeit der psychischen
Producte und jener Attraction, die zwischen allen Regungen
der Seele besteht. Und wie es nun zum Wesen selbst jedes
chemischen Elementes gehört, solche und solche Verbindungen
mit andern Elementen einzugehen: eben so gehören die Verbindungsmerkmale
mit zum Inhalte der Vorstellungen, und erst
durch sie wird es möglich, das Object als ein begrenztes und
bestimmtes, als ein concretes zu erfassen. Die Vorstellung
Weiß ist ein bestimmter, isolirter psychologischer Inhalt. Dieser
Inhalt existirt aber in der Seele so viele Male, und zwar so
vielfach modificirt, als er mit verschiedenen Verbindungsmerkmalen
versehen ist. Und so ist das Weiß in dem Verband von
Milch und in dem von Schnee und in dem eines Streifens Papiers
u. s. w. immer ein verschiedenes Weiß (49); Kopf bleibt zwar
120immer Kopf, wird aber dennoch verschieden in dem Verbande
der Glieder einer Person X und einer Person Y u. s. w.; und
die Person X ist immer X und doch verschieden, je nachdem
sie in dem Verbande der Räumlichkeit S oder N gedacht wird.
Alle Vorstellungen an sich sind abstract; der Inhalt einer jeden
ist nicht aus einer, sondern aus vielen Anschauungen von wirklichen
Dingen ausgelöst; jede bezeichnet also eine Möglichkeit,
welche aber in vielfacher Weise wirklich sein kann. Weiß
z. B. kann im Schnee, im Salz u. s. w. wirklich sein. In ihren
Verbindungsmerkmalen nun besitzt jede Vorstellung die Fähigkeit
zur Concretion, den Trieb zur Rückkehr in eine bestimmte
Anschauung einer einzelnen Wirklichkeit; und alle Teil-Anschauungen,
wie Kopf, Fuß u. s. w. streben zur Rückkehr in
die volle Gesammt-Anschauung (vergl. 61. 62).

54. Hieraus geht zugleich hervor, nicht nur dass die Verbindungsmerkmale
wesentlich überhaupt für den Inhalt der Vorstellung
sind, sondern auch wie sie es mehr oder weniger sind,
je nachdem in Wirklichkeit der Verband ein solcher ist, dass
die Elemente desselben zu ihrem wirklichen Bestande einander
bedürfen oder nicht; d. h. je nach dem Inhalte, der in den
Verbindungsmerkmalen ausgedrückt ist. Die Person X bedarf
nicht gerade des Ortes S, noch dieser Ort jener Person; aber
der Kopf bedarf eines Leibes, dessen Kopf er ist, und der Leib
bedarf eben so sehr eines Kopfes zu seinem Bestande; folglich
ist das Verbindungsmerkmal, welches X auf S oder umgekehrt
bezieht, nicht so wesentlich für beide als dasjenige, welches
Leib und Kopf auf einander bezieht: das letztere hat eine wesenhaftere
Bedeutung.

55. Die Verbindungsmerkmale sind gewissermaßen Fugen,
aber energische, also besser der chemischen Wahlverwantschaft
gegenübergestellt; und sie sind um so energischer, je unselbständiger
das durch die Vorstellung vertretene Element der
Anschauung in der Wirklichkeit ist. Die Vorstellung Tür drängt
also kräftiger zur Verbindung mit Haus oder Stube als diese
zu jener; weiß aber zu Zucker, Milch u. s. w. in noch höherm
Grade; denn für sich ist es undenkbar.

56. Die Verbindungsmerkmale, als die energischen Fugen
zwischen den Erkenntnissmomenten unserer Seele, stellen nicht
nur in der Gesammtheit der seelischen Momente den Zusammenhang
121her; sondern sie sind es auch, welche die Projection der
seelischen Ergebnisse veranlassen und die an sich rein subjectiven
Gebilde als Abbilder einer Außenwelt geltend machen.
Auf ihnen beruht die Schöpfung einer objectiven Wirklichkeit
gegenüber unserer Subjectivität. Denn solches Setzen eines
Außen hat ursprünglich keine andere Bedeutung, als dass wir
gewisse Empfindungen nur mit gewissen Bewegungen unseres
Leibes oder unserer Arme und Hände und Augen erlangen.
Das Auftreten gewisser Empfindungen von Licht und Schatten
und gewisser Tasteindrücke ist nur zusammen mit gewissen
Bewegungen und Stellungen des Auges und der Hand. So
verbinden sich diese mit jenen; und dass das Gesehene nicht
in uns ist, sondern außer uns, heißt nur, dass wir Leib und
Hand bewegen müssen, um zum Gesichtseindruck auch den damit
verbundenen Tasteindruck zu erlangen, und dass mit Abänderung
der Bewegung sich auch der psychische Eindruck des
Gegenstandes ändert. Gerade aber das Verhältniss dieser veränderten
Beziehungen zwischen Seele und Object ist der Inhalt
dieser Verbindungsmerkmale.

57. Zeigt sich so die Bedeutsamkeit der Verbindungsmerkmale
für die Erkenntniss, so offenbart sich auch zugleich
ihre Macht über das Gemüt. Denn das Verbindungsmerkmal
drängt zu einer Verbindung, und wird diese nicht vollzogen,
wird sie verhindert, so entsteht ein Schmerz oder Furcht und
Grauen. Woher stammt denn der Schmerz der Trennung von
unsern Geliebten? Nur daher, dass unser Denken an sie verbunden
ist mit den Sinneseindrücken, die ihre körperliche Nähe
gewährt, namentlich den Gesichtswarnehmungen. Dass unser
Gedanke diese Verbindung nicht mehr eingehen kann, fühlen
wir als eine Verkürzung unseres eigenen Selbst. Das Kind,
das eine Puppe mit zerbrochenem oder abgerissenem Kopfe
sieht, wendet sich erregt, entsetzt davon ab. Denn die Warnehmung,
die es macht, drängt mit ihren Verbindungsmerkmalen
zur Vollendung der Anschauung;, diese Vollendung tritt aber
nicht ein. Die Vorstellung, dass ein zerbrochener Kopf Schmerzen
macht, kann das Kind nicht betrüben, davon weiss es nichts;
nur dass die Verbindung, zu der die Warnehmung treibt, unvollzogen
bleibt, bedrängt die kindliche Seele.122

b) Verschmelzung der Vorstellungen.

58. Beharrung oder Isolation und Bezogenheit als Grundeigenschaften
jedes seelischen Elementes sind einander so entgegengesetzt,
dass keine ohne die andre möglich ist. Sie sind
nur eine Eigenschaft oder Erzeugnisse einer Tätigkeit, von
doppelter Seite angesehen. Wie könnte man auf einander beziehen,
ohne das zu Beziehende zu isoliren? und wie isoliren,
ohne zu beziehen? Daher kommt eben jedem seelischen Element
jene Attraction oder jenes Streben zu Verbindungen mit andern
Elementen zu.

59. Wir sagten oben (41), die Isolation der Vorstellung
entspreche der physikalischen Undurchdringlichkeit und dem
logischen Satze A = A. Indessen tritt doch hier zwischen
Natur und Seele ein wesentlicher Unterschied hervor. Wenn
nämlich z. B. ein Stoß einen Stein trifft, so wird der Stein
erwärmt, und wenn der Stein die Wärme abgegeben hat, so
kann der gleiche Stoß die gleiche Wärme erzeugen, und das
kann sich immer fort wiederholen. Wir können Wasser in
seine chemischen Bestandteile zersetzen und diese dann wieder
zu Wasser verbinden, dieses von neuem auflösen und abermals
verbinden u. s. f. Es kann sich also derselbe Process unter
gleichen Bedingungen in gleicher Weise unzählige mal wiederholen,
und niemals ergibt sich ein dauernder Erfolg. Wenn
dagegen die geeigneten Reize auf ein Getraidekorn wirken,
so dass es keimt, so ist dieser Process an dem einzelnen
Keime nur ein mal möglich, weil er einen dauernden,
einen Bildungs-Erfolg hat. Dies ist nicht etwa ein Unterschied
zwischen organischer und unorganischer Wirkung. Denn
auch wenn ein Stein infolge eines Stoßes gespalten ist, so
lässt sich die Spaltung an demselben Stein nicht noch einmal
vollziehen, weil auch dies ein Bildungs-Erfolg ist; und umgekehrt
lassen sich an einem Nerven etwa dieselben Elektricitäts-Erscheinungen
wiederholt erzeugen. — Wie aber verhält es
sich in dieser Beziehung mit der Seele? Einerseits erzeugen
die auf sie geübten Reize bestimmte dauernde psychische Bildungen,
z. B. eine Warnehmung; dennoch aber kann andrerseits
die Wirkung dieses Reizes sich mit demselben Erfolge wiederholen,
also dieselbe Warnehmung erzeugen. Nun aber gibt es
123in der seelischen Welt gemäß ihrer immateriellen, idealen Natur
wohl Verschiedenheit, aber kein Außereinander; denn Verschiedenheit
hängt nur vom Inhalt ab, das Außereinander aber
yon den Bedingungen des Daseins. Es gibt nun zwar in der
Seele verschiedene Inhalte, wie „Wärme, Wasser”; während
aber in der Natur die gleiche Wärme und das gleiche Wasser
hier und dort sein kann, gibt es in der Seele jeden Inhalt wie
Wärme, Wasser, nur ein mal und kein Hier und Dort; und so
gibt es in ihr überhaupt keine Bedingungen für ein vielfaches
Dasein desselben Inhaltes. Wie gleicht sich also der Widerspruch
aus, dass einerseits Reizungen der Seele einen dauernden,
plastischen Erfolg haben, und andrerseits dennoch der gleiche
Reiz auf dieselbe Seele wiederholt wirken, also mehrere ganz
gleiche Bildungen, z. B. gleiche Warnehmungen erzeugen kann,
während die Seele für das vielfache Dasein des gleichen Inhaltes
keinen Raum hat? Die Antwort ist: die ganz gleichen Erfolge
gleicher Reize verschmelzen mit einander, werden Eins, weil
sie nur ein Inhalt sind. Das heisst: das Gleiche in der
Seele wird zum Einen und Selben, weil und insofern
es gleich ist. Das heisst: der Satz A = A bedeutet A+A
+A …= A. In der Natur kann es A+A+A … geben;
in der Seele bewirken alle A nur ein A; in ihr gibt es nichts
neben einander bestehendes Gleiches, sondern nur mit sich
Gleiches oder Identisches, Einmaliges.

Umgekehrt, da in der Seele nur der Inhalt der Wirklichkeit
ohne die Daseinsform desselben besteht, so können in der
Seele zwei Inhalte sich finden, obwohl der eine nur dadurch
Wirklichkeit haben kann, dass die Wirklichkeit des andern
aufgehört hat. Wenn der Topf zerbrochen ist, so gibt es
Scherben; wenn die Scherben da sind, hat der Topf aufgehört
zu sein. In der Seele aber besteht der Inhalt Topf als Vorstellung,
auch wenn die Vorstellung des in Scherben zerschlagenen
Topfes gebildet ist (vergl. oben 43 und weiter unten 78).

60. Hiergegen wird man nicht einwenden, dass die Seele
dann unfähig sein müsste, mathematische Gleichungen aufzufassen,
da ja die gleichen Factoren, die zu beiden Seiten des
Gleichheitszeichens stehen, zur Identität zusammenrücken müssten.
Denn den Satz 1+1 = 2 versteht die Seele darum gar
wohl, weil die Gleichheit der beiden Factoren nur relativ ist,
124wie sie auch nur als relative für die Mathematik selbst gilt.
Die Seele erfasst also die Factoren als verschiedene, aber relativ
als gleich und insofern dann als identisch; und gerade so tut
es die Mathematik. So relativ ist die mathematische Gleichheit,
dass sie oft geradezu falsch ist. Es ist nicht wahr, dass 3—3
= 0 ist; denn eine Kraft z. B. im Werte von +3, der eine
andre gleichwertige —3 entgegenwirkt, wird weder zu Null,
noch machen sie sich gegenseitig zu Null; es tritt gar keine
Vernichtung ein, wie die mathematische Gleichung es darstellt,
sondern ein ganz positiver Erfolg. Dennoch ist die Gleichung
richtig, nämlich relativ. In dieser Relativität wird sie von der
Seele erfasst. Und dies ist überhaupt der Begriff des Gleichen:
das relativ Identische bei relativer Verschiedenheit. *)15

61. Das Gesetz der Verschmelzung sagt also aus:
Die Erzeugnisse gleicher Seelenregungen, wie viele es auch
seien, wenn und insofern ihre relative Verschiedenheit sich nicht
geltend macht, verschmelzen zu einem Erzeugnisse. Die vielmaligen
Warnehmungen, die wir von unserer Wohnstube gehabt
haben, wie auch von unsern Gerätschaften, unserm Arbeitstisch,
unserm Hand-Wörterbuch u. s. w. verschmelzen für
je eins dieser angeschauten Dinge zu einer Anschauung. Der
vielmal wiederholte Anblick eines Kunstwerkes (Bildsäule, Gemälde,
Bauwerk), das wiederholte Anhören einer Melodie, das
wiederholte Denken desselben Gedankens 3x3 = 9, der wiederholte
Gebrauch desselben Wortes u. s. w. u. s. w. ergibt für
unsere Seele immer nur je ein zusammengeschmolzenes Ergebniss,
ein Bild, einen Gedanken u. s. w. Ja noch mehr, das
halbe Dutzend gleicher Stühle in unserer Stube, die Rückseiten
sämmtlicher Karten eines Spieles u. s. w. geben ebenfalls nur
eine Anschauung in unserer Seele, nur einen in sich identischen
Inhalt. Die Verschmelzung wird aber verhindert, ja, wenn sie
schon stattgefunden hat, wieder aufgelöst werden, sobald und
125insofern auch nur die verschiedenen Verbindungsmerkmale einer
Vorstellung sich geltend machen. Wenn wir zwei Blätter eines
Baumes sehen, die an Farbe und Form einander so gleich sind,
dass wir ihre Verschiedenheit nicht erkennen, so würden wir
unfähig sein, mit unsern Augen diese Blätter als zwei verschiedene
zu sehen; denn da sie den völlig gleichen Inhalt für
uns haben, würden sie zu einem Blatte verschmelzen. Dass
wir wirklich zwei Blätter neben einander, auch wenn sie absolut
gleich wären, als zwei verschiedene warnehmen können, dass
wir von einem halben Dutzend gleicher Stühle wissen, obwohl
sie nur eine Anschauung bilden: das beruht auf den Verbindungsmerkmalen,
welche bei der Projicirung sich derartig energisch
erweisen, jeden der an sich ganz gleichen Inhalte an einen
verschiedenen Ort zu knüpfen. Umgekehrt wirken beim Betrachten
stereoskopischer Bilder die Verbindungsmerkmale dahin,
dass zwei an verschiedenen Orten gelegene Bilder für
unsere Anschauung an einen Ort geworfen werden. Es ist
uns ferner möglich, den wiederholten Anblick desselben Dinges
als wiederholte, und also als verschiedene Warnehmungen aus
einander zu halten und, obwohl der Erfolg des Anblicks in
der Seele immer genau derselbe war, diese Erfolge nicht verschmelzen
zu lassen, insofern es uns nämlich gelingt, Verbindungsmerkmale
an denselben zu schaffen, durch welche sie mit
verschiedenen Zeitpunkten in Verbindung gebracht werden. Der
völlig gleiche Inhalt kann also vor der Identificirung geschützt
und als mehrmals daseiend gesetzt werden, insofern die verschiedenen
Bedingungen dieses mehrmaligen Daseins (verschiedener
Raum, Zeit) als Verbindungsmerkmale jenes Inhaltes
wirksam sind und ihm so, gewissermaßen von außen her, eine
Differenzirung verleihen, zu welcher er in sich selbst die Möglichkeit
nicht trägt. Es ist also wohl möglich, denselben Inhalt
vielmals als seiend, d. h. als vielmals seiend, zu setzen. Denn
die Setzung als Seiendes ist überhaupt etwas, was mit dem Inhalt
noch nicht gegeben ist, erst zu ihm hinzutritt; sie beruht
also auf einer besondern psychischen Action, der sogenannten
Projicirung, die von den Verbindungsmerkmalen bedingt wird.

62. Wo aber solche trennende Verbindungsmerkmale nicht
wirksam sind, da verschmelzen nicht nur die Anschauungen
wirklich gleicher Dinge, sondern auch die Anschauungen verschiedener
126Dinge, deren Verschiedenheit leicht aufgefasst werden
könnte, aber aus Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit nicht
erfasst wird, weil an ihrer Auffassung nichts liegt. Von allen
Würmern, Fliegen u. s. w., die wir je gesehen haben, tragen
wir nur eine Vorstellung in uns, die das Erzeugniss der Verschmelzung
aller frühern Warnehmungen ist. Wir sind durch
den Wald gegangen und haben viele, viele Bäume gesehen;
aber alle diese Warnehmungen sind verschmolzen zu dem einen
Inhalt der Vorstellung Baum oder mit diesem Inhalte, den wir
schon vorher hatten. So haben wir auch von dem oftmals gesehenen
Freunde, Vater u. s. w. nur eine Vorstellung, in deren
Inhalt die Erfolge des oftmaligen Anblickes verschmolzen liegen,
wenn nicht ein besonderer Umstand sich bei irgend einem Anblicke
als besonderes Verbindungsmerkmal geltend gemacht hat,
wodurch derselbe mit seinem Erfolge an einen bestimmten Ort,
eine bestimmte Zeit und Gelegenheit geknüpft und so vor der
Verschmelzung bewart und als besonderer Inhalt gerettet wird.
So sagen wir von einem Verstorbenen: wir erinnern uns noch,
wie er dies und jenes dort oder da gesagt, getan hat — wenige
Warnehmungen aus den unzähligen, die wir von ihm gehabt
haben, und die mit einander verschmolzen sind (vergl. 53).

63. Wir bemerkten, (60) dass die Gleichheit zweier Factoren
nur eine relative sei, und dass es, wenn sie absolut wäre,
unmöglich sein würde, die Gleichung anzusetzen, weil wir dann
gar nicht mehr zwei Factoren haben könnten, sondern nur einen.
Selbst die Formel A = A ist nur so möglich, dass sie eine
Negation der Negation ist. Es wird zuerst das Eine-und
-Selbe als nicht solches Eine, sondern als zwei durch nichts unterschiedene
Gleiche gesetzt, dann aber diese Sonderung, diese
Negation der Einundselbigkeit, wieder aufgehoben und als falsche,
als unmögliche gesetzt; also die Negation der Identität wird
negirt. Oder: es wird der logisch identische Inhalt A zwei
mal psychologisch gesetzt, wonach sich als Ergebniss doch nur
ein Inhalt ergibt. — Wenn wir nun oben weiter folgerten:
weil A = A, so ist A+A … = A, so ist dies wiederum in
der Tat nicht ganz richtig. In demjenigen A, welches = A
+A …, steckt doch mehr als in demjenigen A, welches nur
A ist. Die wiederholte Erzeugung desselben Inhaltes
ist zwar in Bezug auf die Summe des gesetzten Inhaltes
127nicht verschieden von der einmaligen Erzeugung
desselben. Aber für die psychische Tätigkeit
dieser Erzeugung ist die Wiederholung nicht gleichgültig
(81).

64. Nach dieser nähern Bestimmung, d. h. Beschränkung
des Gesetzes der Verschmelzung des Gleichen in der Seele
zum Einen-und-Selbigen wird leicht begreiflich: erstlich, dass,;
wenn wir jetzt ein Pferd sehen, wir wissen können, dass wir
diesen Inhalt jetzt erzeugen und früher schon oft erzeugt haben,
was unmöglich wäre, wenn die Verschmelzung absolut wirkte.
Es würde dann jede Unterscheidung von Baum und Zeit, also
jede Auffassung des Wirklichen unmöglich sein; wir würden
uns dann mit platonischen Ideen herumtragen, die in uns einen
raum- und zeitlosen Inhalt ausmachten, den wir in Berührung
mit der Welt erzeugt hätten, während wir der Welt immer
fremd blieben, nichts von Wirklichkeit wüssten, also auch gar
nicht leben könnten. Indem nun aber die Verbindungsmerkmale
eine Verbindung zwischen den mehrfachen Empfindungsinhalten
und Bewegungen herstellen und dadurch eine Projicirung des
Inhaltes in einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit ermöglichen,
werden wir mitten in die Wirklichkeit gesetzt und
lernen, verschiedenes Gleiche nicht zu identificiren, sondern in
verschiedenen Raum und in verschiedene Zeit zu setzen, ein
Hiesiges und Dortiges, ein Jetziges und Einstiges zu bilden.
Selbst das Gesetz der Identität A = A wäre unaussprechbar,
wenn nicht ein und dasselbe A durch zwei Verbindungsmerkmale
an zwei verschiedene Orte und zwei verschiedene Zeiten
durch zweimalige Action gesetzt würde. — Zweitens aber, wenn
wir auch jetzt beim Anblicke des Pferdes nur einen Inhalt bilden,
der als Inhalt mit vielen früher erzeugten Inhalten verschmilzt
und nur durch das Verbindungsmerkmal als dasiger
und jetziger so lange eine gesonderte Selbständigkeit hat, als
die Verbindung mit dem bestimmten Da und Jetzt wirksam ist,
sobald aber diese aufhört, in der Tat mit dem frühern gleichen
Inhalt zusammenfällt und als besonderer gar nicht mehr existirt:
so ist die Weise der Erzeugung dieses Inhaltes der gegenwärtigen
Warnehmung eines Pferdes verschieden von der erstmaligen
Erzeugung desselben Inhaltes in der ersten Warnehmung.
Ich erinnere hier im Allgemeinen nur kurz an den Erfolg,
128welchen Wiederholung für jede Tätigkeit hat, leibliche
und geistige. Die wiederholte Warnehmung wird nicht bloß,
indem sie an das Jetzt geknüpft wird, als eine besondere von
allen früheren gesondert, sondern sie wird auch mit größerer
Macht, Leichtigkeit und Genauigkeit bewusst; also durch Wiederholung
wird die Macht der Bewusstheit gesteigert. Hieran
knüpft sich aber unmittelbar noch etwas anderes. Die Warnehmung
in ihrer Wiederholung wird auch als eine solche gewusst,
deren Inhalt schon bekannt ist, also als eine wiederholte
Erzeugung eines schon längst gewonnenen Inhaltes. Indem das
Wargenommene als bekanntes wargenommen wird, wird die
Gegenwart von der Vergangenheit unterschieden. Wenn und
sobald aber an dieser Beziehung des Wargenommenen auf die
Zeit, in welcher es wargenommen ist, nichts mehr liegt, so entgeht
auch dasselbe dem Schicksal der Verschmelzung nicht.
Wir sehen also jetzt ein Pferd als etwas Bekanntes, aber als
etwas Gegenwärtiges, das jedoch, sobald wir zu andern Warnehmungen
übergehen, mit der schon gebildeten Anschauung
vom Pferde verschmilzt, wenn nicht aus besonderer Ursache
die gegenwärtige Warnehmung isolirt bleibt. Wegen dieses
Wertes der Wiederholung wollen wir nicht A+A = A ansetzen,
sondern als A2 und A+A … = An.

Wir haben aber hier schon eine Kategorie angewandt, von
der im Vorstehenden noch keine Rede war: Bewusstheit. Wir
wollen diese sogleich etwas näher betrachten. Zuvor nur noch
eine Bemerkung über den Wert der Verschmelzung für unsere
Erkenntniss.

65. Es leuchtet wohl bald ein, dass unsere Erkenntniss
durch Verschmelzung der Elemente nur in dem Falle etwas
verliert, wo dem Bewusstsein als gleich gilt, was in Wahrheit
nicht gleich ist. Wenn demselben A und B als A und A, also als
A2 oder schlechthin als A erscheint, so entgeht ihm ein Inhalt
B, und es ist in der Erkenntniss mangelhaft. Wenn jemand
zehn Schattirungen von Rot unterscheidet, so hat er mehr Inhalt,
als wer nur fünf unterscheidet und die andern fünf je
eine mit einer andern verschmelzen lässt. Verschmelzen heisst:
nicht unterschieden werden im Bewusstsein. Auf Unterscheidung
aber beruht der Reichtum unserer Erkenntniss. Es kommt
also darauf an, dass in uns verschmelze, was nicht unterschieden
129werden kann, das Identische, oder was nicht unterschieden zu.
werden verdient, das gleichgültig Verschiedene; aber es muss
gesondert werden, dessen Verschiedenheit von Wert ist und
insofern es von Wert ist. Der Zoologe wird die Vorstellung
von dem Pferde, das er selbst besitzt, aussondern von den Vorstellungen
aller übrigen Pferde; und wenn ihm diese alle zusammen
nur einen verschmolzenen Inhalt Ax geben, so ist
ihm jenes ein besonderer Inhalt N; insofern er aber Zoologe
ist, verschmilzt ihm auch dieses N mit Ax. Denn nur insofern
er Eigentümer dieses Pferdes ist, hat das Verbindungsmerkmal,
das der Vorstellung von diesem Pferde anhaftet, einen Wert,.
und hat es die Macht, diese Vorstellung isolirt zu erhalten und
vor der Verschmelzung zu schützen. Es wird dagegen völlig
wertlos für den Zoologen, insofern er Naturforscher ist. Man
sieht auch in diesem Falle, wie gelegentlich das Verbindungsmerkmal
den ganzen Inhalt einer Vorstellung umgestaltet, weil
das reale Verhältniss, dem jenes Merkmal entstammt, für die
Wirklichkeit sehr wichtig ist. Der Inhalt der Vorstellung des
Pferdes als eines Besitztumes des Zoologen und des Pferdes
als eines wissenschaftlichen Gegenstandes sind völlig verschieden.
Jene enthält eine individuelle Anschauung mit Gedanken von
Genuss, welche dieses Tier bereitet, und Arbeit, welche es für
seine Erhaltung fordert. Damit hat der zoologische Begriff
Pferd wenig zu schaffen.

66. Verschmelzung bereitet die logische Tätigkeit der Abstraction
vor, und Abstraktion fördert die Verschmelzung. Das
einheitliche Bild, das wir von dem vielmaligen Anblick eines
Gegenstandes gewinnen, ist gewissermaßen eine Abstraction,
eine ungewollte; und wenn aus vielen Vorstellungen, wie Pferd,
Hund u. s. w., die allgemeinere Tier gebildet wird, indem von
gewissen Merkmalen des Pferdes, Hundes u. s. w. abstrahirt
wird, so heisst das psychologisch: nachdem die besondern Merkmale
des Pferdes, Hundes u. s. w., welche die Verschmelzung
dieser Vorstellungen verhinderten, weggedacht sind oder nicht
gedacht werden: bleibt von diesen Vorstellungen ein Rest von
Inhalt, der in jeder dieser Vorstellungen der gleiche ist, und
der nun unvermeidlich zu einem Inhalte zusammengeht. Indessen
soll hiermit noch keineswegs die Entstehung der allgemeinen
Vorstellungen oder Begriffe erklärt sein.130

67. Im Gegenteil werden die Verschmelzungen durch
Determination aufgelöst; eine neue Erkenntniss, die Warnehmung
einer vorher übersehenen eigentümlichen Qualität eines
Dinges, sondert dasselbe aus der Masse verschmolzener Elemente
aus oder bewirkt eine Sonderung innerhalb dieser Masse.
Das Kind hat tausend Pferde gesehen, wovon es tausend Warnehmungen
gewann, die alle zusammenschmolzen zum einigen
Anschauungsinhalt Pferd. Die Verschiedenheiten sind ihm zum
Teil völlig entgangen, zum Teil waren sie ihm nicht so wichtig,
um die Verschmelzung zu hemmen. Bald aber wird es doch
veranlasst, Schimmel und Rappen und Füchse zu unterscheiden
und später Hengste und Stuten. Diese Unterscheidungen sind
aufgehobene Verschmelzungen. Was vorher unterschiedslos
Pferd hieß, sondert sich nun in Gruppen nach Farbe, Geschlecht
u. s. w. — Wir lesen und hören von einem Abgeordneten M.
So bildet sich in uns die Vorstellung einer Person, die einen
einigen Inhalt für unser Bewusstsein ausmacht. Dieses Verhältniss
kann längere Zeit dauern, bis ein Zufall uns darauf
aufmerksam macht, dass es zwei Abgeordnete Namens M. gibt.
Damit zerreißt eine Verschmelzung. — Jetzt aber können wir
nicht mehr zögern, von dem Bewusstsein zu reden.

c) Wesen der Bewusstheit.

68. Die Seele schafft sich in Folge äußerer Reize eine
Welt seelischer Objecte, welche ihren Bestand in der Seele hat,
wie die Körperwelt ihren Bestand in der Materie hat. Also
nicht wie das Spiegelbild, welches, sobald der Gegenstand aus
dem Verhältnisse zum Spiegel tritt, in Nichts verschwindet,
verschwindet auch das Erzeugniss der Seele; sondern dieses
bleibt und behält Bestand, auch nachdem die Einwirkung des
Objects auf die Seele aufgehört hat. Die Seele ist schöpferisch,
d. h. es findet nicht ein bloßer Wechsel der Kraft statt, wie
in der Natur, wo Bewegung Wärme erzeugt und Wärme Bewegung
verursacht; sondern die Kraft, mit welcher die Seele
gegen den von außen andringenden Reiz reagirt, wird zu einem
bleibenden seelischen Gebilde (vergl. 59).

69. Unter diesen Gebilden der Seele herscht eine gewisse
Mechanik. Wir haben als solche mechanische Verhältnisse
und Processe die Isolation, Verbindung und Verschmelzung
131kennen gelernt. Dabei sind wir jedoch gelegentlich schon
auf das Bewusstsein gestoßen. Man ist gewohnt, Bewusstheit
als Grundcharakter des Seelenlebens und Urqualität der
seelischen Objecte anzusehen, und wir hatten unsere Betrachtung
in dieser Voraussetzung begonnen, haben aber auch schon
Veranlassung genug gefunden, dieselbe aufzugeben. In der
Tat, sie ist ungenau. Eine unbewusste Vorstellung ist nicht
etwa ein Widerspruch in sich wie eine immaterielle oder raumlose
Materie. Vorstellungen können auch unbewusst sein, und
den Processen, die wir bisher betrachtet haben, unterliegen sie
ohne Rücksicht auf Bewusstheit. Diese ist ein Zustand, in
welchen sie geraten können, in welchem sie aber nicht immer
sind; sie ist eine Qualität, welche die Vorstellungen unter Umständen,
aber nur für kurze Dauer, erst erlangen, welche aber
nicht ihrem Inhalt und Wesen an sich zukommt. Sie bedeutet
also nicht den Grundunterschied zwischen den psychischen und
materiellen Tatsachen; sie unterscheidet diese beiden nur insofern,
als sie letztern niemals, erstem aber bei bestimmter Veranlassung
zukommt.

70. Hiermit soll aber der hohe Wert des Bewusstseins
für das seelische Leben nicht geleugnet werden. Ohne Bewusstsein
kein Wissen. Wir können uns zwar den Gedanken
bilden von einer Seele, welche Empfindungen und Bewegungen
erzeugte und diese in Verbindung treten ließe. Wie sich Quecksilber
in der Nähe eines verbrennenden Körpers ausdehnt, so
könnte die Seele in derselben Lage die Empfindung der Wärme
erzeugen, die sich mit dem Lichteffect, der von dem verbrennenden
Stoffe auf das Auge übergeht, verbinden könnte. So
würde denn eine solche Seele auch einen Reflex der Außenwelt
gewähren und mit der materiellen Welt in Verkehr stehen,
sich auch Nahrung suchen können, ohne dass in ihr ein Wissen
wäre, so wenig wie in der materiellen Welt. Es gäbe dann in
beiden Welten nur ein bewusstloses Geschehen. Vielleicht
leben die niedrigen Tiere in solcher Bewusstlosigkeit.

71. Bewusstsein ist also eine zur Vorstellungstätigkeit
der Seele oder zu den gebildeten Vorstellungen hinzutretende
Energie der Seele. Sie tritt nicht ohne besondre Veranlassung
hervor, und so ist die Mechanik, welche hierdurch veranlasst
wird, d. h. die Angabe der Bedingungen, unter denen zu einer
132Vorstellung auch die Energie der Bewussheit tritt, ein besonders
wichtiger Gegenstand der Psychologie.

72. Es dürfte unmöglich sein, von den psychischen Erscheinungen
zu reden, ohne dabei Gleichnisse aus dem Reiche
der materiellen Erscheinungen anzuwenden. Nicht nur, dass
unsre Sprache bloß Ausdrücke für sinnliche Bewegungen und
Verhältnisse bietet; auch unser Geist überhaupt kann sich das
seelische Leben nicht anders als in mehr oder weniger unangemessenen
Bildern denken. So ist schon der Ausdruck „im
Bewusstsein haben”, „in das Bewusstsein kommen” ein Gleichniss.
Wenn wir von Verbindung, Trennung, Beziehung der
Vorstellungen reden, so sind wir sehr geneigt, die Vorstellungen,
und wären sie noch so abstract, als Punkte in den Raum zu
verlegen und sie in räumliche Bewegung zu versetzen. Das
kann alles ohne Schaden geschehen, wenn wir nur nicht vergessen,
dass wir dabei in Bildern reden und denken, und wenn
wir nur nicht Verhältnisse, die bloß dem Bilde angehören, mit
der Sache verwirren.— So könnten wir denn auch das übliche
Bild gelten lassen, wonach sich unser Schatz von Vorstellungen,
wenn dieselben nicht bewusst sind, gewissermaßen in einem
untern, dunklen Raume befindet, aus welchem immer eine nach
der andern in den engen, vom Bewusstsein erhellten Raum hinauf
gelangt. Wir hätten demnach die Bedingungen anzugeben,
unter denen eine Vorstellung in das Bewusstsein steigt. Warum
sollten wir nicht gelegentlich uns dieses Ausdruckes bedienen
dürfen?

Metaphysisch richtig ist freilich dieser Ausdruck nicht.
Wir haben schon erklärt, dass nach unserer Ansicht das Bewusstsein
eine Energie der Seele ist, welche sich an ihren Erzeugnissen
geltend macht. Diese Energie lassen wir ihrem
Wesen nach, wie alle Reactionen und Actionen der Seele, unbestimmt;
von ihrem Erfolge aber werden wir später (im Kapitel
über die Apperception) noch Einiges bemerken. Schon hier
indessen müssen wir sagen, dass nach unserer Ansicht der
eigentliche Sinn der Mechanik des Bewusstseins der ist: wenn
die Vorstellungen Zustände der Seele selbst sind,
unter welchen Bedingungen erlangen diese Zustände
solche Energie oder Lebhaftigkeit und Erregtheit,
welche sich als Bewusstsein kund gibt?133

73. Wie fruchtbar und exact diese Ansicht ist, wird sich
später ergeben. Hier kann sie schon dazu dienen, eine höchst
wichtige Tatsache zu erklären, nämlich die der großen Enge
des Bewusstseins. Zunächst werde diese Tatsache selbst
dargelegt. Sie besteht darin, dass wir in jedem Augenblicke
unseres Daseins immer nur eine Vorstellung bewusst haben
können. Während wir z. B. einer Rede mit voller Aufmerksamkeit
lauschen, ein Buch lesen, ist in jedem Zeitteilchen immer
nur das eine Wort, die eine Sylbe in unserm Bewusstsein,
das soeben aus dem Munde des Redners in unser Ohr dringt
oder mit dem Auge aufgefasst wird; eben so, wenn wir selbst
reden oder schreiben, ist in jedem Augenblicke immer nur das
Wort in unserm Bewusstsein, der Laut, der Strich, den wir
eben ertönen lassen oder sichtbar machen; wenn wir stillschweigend
denken, ist auf einmal immer nur ein Subject, ein
Prädicat wirklich bewusst. Von dem ganzen sonstigen Wortschatze
unserer Muttersprache dagegen, von allen fremden
Sprachen, die uns bekannt sind, von allen Kenntnissen, die wir
sonst noch besitzen, von allen Gefühlen, die uns sonst wohl
beseelen, von allen Grundsätzen, die uns im Urteilen und Handeln
leiten, kurz von allem, was zu unserm geistigen Besitze
gehört, ist uns in jenem Augenblicke nichts weiter gegenwärtig.

74. Dass unser Bewusstsein sehr eng ist, wird jeder unbedingt
zugeben und muss als unleugbare Tatsache anerkannt
werden. Indessen scheint die Ansicht übertrieben, welche behauptet,
diese Enge sei so groß, dass durchaus immer nur eine
einzige Regung der Seele auf einmal bewusst sein könne. Von
den Vorstellungen im engern Sinne im Gegensatze zu den
Warnehmungen freilich möchte ich es durchaus gelten lassen;
niemals können zwei Vorstellungen zugleich bewusst sein. Wenn
jemand die Fähigkeit hat, während er etwas sagt, an etwas
anderes zu denken, und also zwei kürzere oder längere Vorstellungsreihen
gleichzeitig im Bewusstsein ablaufen zu lassen:
so geschieht dies gewiss so, dass beide Reihen nicht, wie es
den Schein hat, neben einander, sondern durch einander gehen.
Es sei die eine Reihe ABC…, die andre m n o …, so ist
ihr wahrer Ablauf der: A m B n C o... Die Schwierigkeit
liegt darin, dass keine Reihe durch die zwischen ihre Glieder
geschobenen Glieder der andern Reihe zerrissen werde, was
134bekanntlich sehr leicht geschieht. Wer beim Sprechen an die
Sprachregeln denkt, spricht stockend.

75. Halten wir nun aber die Enge des Bewusstseins für
die eigentlichen Vorstellungen, welche immer mehr oder weniger
abstract sind und nicht von der Sinnestätigkeit unterstützt
werden, durchaus derartig fest, dass auch nicht zwei gleichzeitig
bewusst sein können: so gestaltet sich doch die Sache
für die Empfindungen, die Warnehmungen ganz anders. Bewiesen
freilich durch Beobachtung und Experiment scheint es,
dass es nicht möglich ist, einen Gesichts- und einen Gehörseindruck
gleichzeitig zu Bewusstsein zu bringen. Der Physiologe
Wundt (Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, S. 38 f.)
hat eine Vorrichtung hergestellt, die einem Uhrwerk mit einem
Zifferblatt und einem Weiser ganz ähnlich ist. Es ist die Einrichtung
getroffen, dass der Weiser, wenn er an einer bestimmten
Ziffer vorübergeht, an dieser oder jener, je nachdem das
Werk gestellt ist, einen Schall erzeugen muss. Ist nun der
Weiser in Bewegung, so müsste man ja sehen können, dass
er, indem der Ton erschallt, an 8 oder an 12 vorüberstreicht.
Die Tatsache aber ist, dass, wenn der Weiser sich einigermaßen
schnell bewegt, niemand diese Ziffer erfasst; bald gibt
man eine frühere, bald eine spätere an. Träfe man bei großer
Schnelligkeit der Bewegung des Weisers die richtige Ziffer, so
hätte man einen Gesichtseindruck und einen Gehörseindruck
gleichzeitig erfasst; gibt man aber eine falsche Ziffer an, die
vor oder hinter der richtigen liegt, so bedeutet dies, dass man
entweder erst gehört und dann gesehen, oder erst gesehen und
dann gehört hat. Glaubt man, der Schall sei erfolgt, während
der Weiser an 12 vorübergegangen sei, während er z. B. bei
8 erfolgte, so wird mit der Zeit, die der Weiser brauchte, um
von 8 zu 12 zu gelangen, die Zeit gemessen, die das Bewusstsein
brauchte, um den Gesichtseindruck aufzufassen, nachdem
es den Schall schon erfasst hatte. Eben so wenig lässt sich,
wie die Astronomen erfahren haben, selbst bei der angestrengtesten
Aufmerksamkeit eine absichtliche Bewegung, etwa ein
Druck mit einem Finger, gleichzeitig mit einer Sinneswarnehmung
vollziehen.

76. Indessen wie geistvoll und belehrend auch solche Versuche
sind, sie scheinen mir nicht zu beweisen, dass wir nicht
135überhaupt zwei Empfindungen gleichzeitig bewusst haben
könnten. Denn sie beweisen nur dies, dass wir nicht gleichzeitig
zwei Empfindungen erzeugen, bewusst machen können.
Auch die Einschränkung tritt noch hinzu, dass es nicht zwei
Empfindungen verschiedener Sinne sein können, oder eine Empfindung
und eine Bewegung. Dagegen scheint es wohl möglich,
erstlich zwei Empfindungen, wenn sie nach einander aufgenommen
sind, nun neben einander im Bewusstsein zu tragen,
wenn nämlich die reizende Einwirkung von außen für beide
Empfindungen andauert. Es scheint ferner möglich, zwei Empfindungen
desselben Sinnes sogar gleichzeitig in das Bewusstsein
zu fassen, z. B. mit dem Auge zwei oder mehrere nicht
zu weit von einander entfernte Punkte. Sollten wir nicht auch
die beiden Spitzen eines Zirkels gleichzeitig mit der Fingerspitze
bewusst erfassen können? Und wenn wir ein Orchester,
ein Trio spielen hören, nehmen wir da nicht gleichzeitig mehrere
Töne der verschiedenen Instrumente war?

77. Wie vielen Täuschungen wir auch ausgesetzt sein
mögen, wenn wir glauben, gleichzeitig Verschiedenes warnehmen
zu können, immerhin scheint mir doch, dass es sich in Bezug
auf die Enge des Bewusstseins mit den sinnlichen Empfindungen
anders verhalte, und zwar günstiger, als mit den Vorstellungen.
— Übrigens hat die Psychologie an dieser Frage, wie eng das
Bewusstsein anzunehmen ist, nur ein vereinzeltes Interesse; es
gilt, eine beschränkte Tatsache herzustellen, welche auf die gesammte
Theorie keinen Einfluss üben kann. Denn, wenn die
Schwierigkeit vorliegt, wie ist bei der Enge des Bewusstseins
wissenschaftliches Denken möglich, welches immer große Massen
von Vorstellungen gleichzeitig im Bewusstsein zu bewegen
scheint: so wird die Schwierigkeit dann nicht geringer, wenn
wir gelten lassen, es sei der Seele möglich, zwei oder drei Empfindungen
gleichzeitig bewusst zu halten, und wird auch wohl
nicht größer, wenn wir dies leugnen.

78. Diese Enge des Bewusstseins nun wird nach unserer
Ansicht leicht erklärt. Denn da die Bewusstheit nicht die allgemeine
Qualität seelischer Erzeugnisse ist, auch nicht eine
anhaltende Beleuchtung, in welche die Vorstellungen träten,
während sie diesen an sich äußerlich bliebe; sondern da sie
eine ausgezeichnete Erregtheit ist, welche jenen mitgeteilt wird,
136so scheint es begreiflich, dass solcher Vorzug sich nur auf
wenige Empfindungen und nur auf eine Vorstellung erstrecken
kann und schnell vorübergehend ist. Dieser Umstand,
den wir im Obigen noch nicht erwähnt haben, ist die nicht
minder wichtige andere Hälfte der hier besprochenen Tatsache:
nämlich die schnelle Abnahme der Empfänglichkeit der
Vorstellungen für die Bewusstheit oder die leichte Leitung
der Bewusstheit durch die Vorstellungen. Wenn das Bewusstsein
nicht durch die sinnliche Erregung oder durch besondere
Anstrengung unterstützt wird, so verliert die Vorstellung die
Gunst der Bewusstheit sehr bald wieder. Die Vorstellungen
ziehen also, wie man sich auszudrücken pflegt, mehr oder
weniger schnell, aber immer reihenweise, linear, durch das enge
Bewusstsein, jede von der nachfolgenden daraus verdrängt;
oder, wie wir sagen würden: von den verschiedenen Vorstellungen,
die unsere Seele besitzt, kann immer nur einer nach
der andern und jeder nur auf kurze Dauer die bevorzugte Erregtheit
zu Teil werden; nach kurzer Anspannung erschlafft sie,
indem sie die Bewusstheit an eine andre abgibt. Wir werden
also nicht sowohl das Bild von einem Zuge der Vorstellungen
durch das enge Bewusstsein gebrauchen, als vielmehr das Bild
der bewegten Vorstellungen, welche Bewusstheit ausstrahlen,
indem sie ihre Bewegung eine an die andere abgeben, wie während
eines Schalles Luftteile in Bewegung sind, indem immer
ein Teil dem andern die Bewegung abgibt.

Demnach wäre die oben (72) ausgesprochene Aufgabe der
Mechanik des Bewusstseins naher zu bestimmen als Erkenntniss
der Verhältnisse, unter denen die Bewusstheit den Vorstellungen
mitgeteilt und von ihnen geleitet wird.

Indem wir nun an diese Aufgabe gehen, sei zuvor noch
kurz bemenkt, dass wir hier im Allgemeinen und vorzugsweise
den entwickelten, wachen Menschen, der auch nicht durch besondre
Ursachen nach irgend einer Seite hin übermäßig erregt
ist, in's Auge fassen. Denn um die Erklärung der gemeinsten
Tatsachen unseres psychischen Lebens ist es uns zu tun, um
das täglich Vorkommende.137

d) Production und Reproduction. Association.

79. Wir dürfen wohl zuerst folgenden Satz hinstellen:

Die Erregung eines sensibeln Nervs durch einen adä-
quaten Reiz in hinlänglicher Stärke erzeugt Bewusstsein,
nämlich eine Empfindung. Was hier adäquat und was hinlänglich
heisst, hat die physische Psychologie (oder psychische Physiologie)
zu zeigen. Hier genügt, was jeder weiß, dass der
Schall dem Ohr, die Farbe dem Auge u. s. w. adäquat ist. In
dem angegebenen Falle haben wir primäre Production der
Bewusstheit. Wird der Nervenreiz nicht bewusst, so geht er
für das psychische Leben verloren, und er bleibt bloße körperliche
Bewegung. Dieser Satz gilt aber für Warnehmungen
durch die Sinnesorgane überhaupt. Indessen Ausführlicheres
hierüber gehört hier nicht zu unserm Zwecke.

80. Diese Erzeugung der Bewusstheit durch den sinnlichen
Reiz ist die ursprüngliche. Die so erweckte Bewusstheit aber
kann weiter geleitet werden auf schon früher gebildete seelische
Factoren, wie die aufgewühlte Welle sich fortbewegt. Zunächst
ergreift sie den Inhalt, der dem gegenwärtig erzeugten gleich ist:

Die Warnehmung eines bestimmten Dinges teilt ihre Be-
wusstheit dem schon in Folge einer frühern Warnehmung
desselben Dinges in der Seele liegenden Inhalte
mit, d. h. reproducirt ihn, bringt ihn in Erinnerung.

Wenn und insofern nun der producirte Inhalt mit dem reproducirten
gleich ist, verschmilzt er mit ihm; und bei jeder wiederholten
Production verschmilzt er mit der reproducirten, immer
mehr anwachsenden verschmolzenen Masse.

81. Die Verschmelzung wird im Laufe des gewöhnlichen
Lebens so unmittelbar und augenblicklich vor sich gehen, dass
der Übergang der Bewusstheit von dem Producirten auf das
Reproducirte kaum oder gar nicht merkbar ist, so dass also
das Reproducirte für sich nicht auch noch neben dem Producirten
bewusst wird; sondern dass es die Bewusstheit erst
erhält, wenn die Verschmelzung schon vollzogen ist, so dass
sich nur der Erfolg der Verschmelzung am Producirten durch
verstärkte Bewusstheit kund gibt. Die Bewusstheit kommt dem
Producirten zu Gute, weil dieses unmittelbar und ursprünglich
von der Bewusstheit getroffen wird, das Reproducirte aber nur
138von ihm mittelbar gehoben wird; also wird durch die Verschmelzung
beider des Producirten eigene Kraft vermehrt. Es
erscheint als das Bekannte, Gewohnte (64). Es wird nicht vom
Reproducirten in die Vergangenheit gerissen, sondern bleibt als
Gegenwärtiges vermöge seiner Verbindung mit Gegenwärtigem
(dem gegenwärtigen Reize) und zieht nur Kraft aus dem Frühern.
So sehen wir auf der Straße Pferde, Hunde, Häuser u. s. w.
als bekannte Gegenstände, an denen wir vorübergehen. Die
Gleichgültigkeit, mit der wir sie warnehmen, und dabei doch
die Sicherheit, mit der wir sie erkennen, ist der Erfolg der
Verschmelzung dieser Warnehmungen mit den entsprechenden
Massen verschmolzener Anschauungen, die wir in uns tragen,
und deren wir uns nicht bewusst werden. Daher sagten wir
schon oben (63. 64): A+A…= An.

82. Es sei aber a' eine in uns liegende Gesammtanschauung,
deren Inhalt ein einfacher oder vielfach verschmolzener sein
mag; b' sei ein Teil derselben. Jetzt werde uns der Inhalt
dieser Teilanschauung in einer besondern Warnehmung b geboten.
So wird b nicht nur das ihm gleiche b' reproduciren;
sondern, weil b' mit a' verbunden ist, wird sich die Bewusstheit,
die von b ausgeht und auf b' überstrahlt, auch dem mit
b' verbundenen a' mitteilen, und auch dieses wird reproducirt;
oder genauer: der von a' nach Abzug des b' übrig bleibende
Teil c' wird neben b' reproducirt, und so durch b'+c' das
ganze a' hergestellt, und dies um so sicherer, als etwa c' den
wichtigern Teil von a' ausmacht. Es sei also a' = b'+c', z. B.
die Gesammtanschauung (a') einer Stube (b') mit einer Person
(c'), die wir oft in jener gesehen haben: so wird uns der Anblick
dieser Stube b (oder auch nur einer sehr ähnlichen) nicht
nur an b', d. h. an unsere frühere Anwesenheit in derselben,
sondern auch an c', an jene Person, die wir darin zu sehen
gewohnt waren, also an das ganze Bild, c' in b', d. h. a', erinnern.
Es erhält dann das Erinnerte, Reproducirte, neben dem
gegenwärtig Producirten, obwohl von diesem her, seine eigene
Bewusstheit; die Vergangenheit wird in die Gegenwart gehoben.

83. Oder man sehe irgend etwas Seltenes, Merkwürdiges,
Hochgeschätztes (a) zum zweiten Male, unter andern Umständen
(b) als das erste Mal, so wird man sich nicht nur des ersten
Anblickes a', sondern auch aller besondern von jetzt abweichenden
139Umstände b' (des Ortes, der Zeit, der damals zugleich
gegenwärtigen Personen) mit erinnern, und die Bewusstheit wird
sich über a b und a' b' fast gleich verteilen oder herüber- und
hinübergleiten; z. B. wenn wir eine berühmte Person nach längererer
Zeit einmal wiedersehen.

84. Solches Bewusstwerden seelischer Elemente, welches
weder unmittelbar durch den sinnlichen Reiz (a) oder auch nur
durch den ganz gleichen Inhalt (d. h. durch Wiederkehr der
Bedingungen, unter denen sie ursprünglich erzeugt waren) verursacht
wird (a' durch a), sondern welches nur durch die Verbindung
der Vorstellungen (c') mit solchen Elementen (b'),
welche durch den sinnlich gegebenen gleichen Inhalt (b) bewusst
worden sind, mit veranlasst wird (82. 83) —solche eigentliche
Übertragung oder Leitung, Fortbewegung der Bewusstheit,
versteht man unter dem Gesetze der Association der Vorstellungen.
Im entwickelten geistigen Leben ist diese Leitung
der Bewusstheit ungleich häufiger als die ursprüngliche Erzeugung.
Diese bietet einen Anfang, lässt eine Vorstellung bewusst
werden, von welcher durch Association eine andere, und
durch diese wieder eine andere u. s. f. in das Bewusstsein gerufen
wird, während die rufende selbst sehr bald nach Eintritt
der von ihr gerufenen aus dem Bewusstsein schwindet. Die
Vorstellungen bilden also durch Association Reihen, in denen
jede das Glied einer Kette ausmacht. Nur ein Glied wird unmittelbar
bewusst, so folgen die andern Glieder der Kette, jedes
das folgende in das Bewusstsein hebend, und jedes das vorangegangene
aus dem Bewusstsein stoßend, oder genauer: jede
den Vorzug der Bewusstheit an die andere abgebend. Ein bestimmter
Ort z. B. erinnert an eine Person, die wir früher einmal
hier gesehen haben; diese Person an eine andre, diese andre
an einen Gegenstand der Unterhaltung, die wir mit ihr hatten,
dieser Gegenstand an einen andern, etwa Homer an Herrmann
und Dorothea u. s. w.

85. Association, wie wir sie hier betrachten, und Verbindung,
wie wir sie oben kennen gelert haben, sind also keinesweges
dasselbe, obwohl jene auf dieser beruht. Association
bedeutet nur ein Verhältniss des Bewusstwerdens, Leitung der
Bewusstheit, nämlich die durch eine andere, bewusste Vorstellung
vermittelte Erhebung einer Vorstellung zur Höhe des
140Bewusstseins. Sie bewirkt Gedächtniss und Erinnerung.
Dagegen bezeichnet der Verband (Complexion) der Vorstellungen
ein inhaltliches Verhältniss derselben und ist von realem, metaphysischen
und logischen Wert.

86. Da nun also die Association das Steigen in das Bewusstsein
betrifft, die Enge des Bewusstseins aber nur eine abstracte
Vorstellung nach der andern auftreten lässt, also nur
eine lineare Bewegung der Vorstellungen mit Bewusstsein gestattet;
so bilden diese, insofern sie associirt sind, allemal eine
Reihe. Während sie aber nach einander, also an einander gereiht,
zu Bewusstheit kommen, sind sie dennoch in Rücksicht
auf die Projection (d. h. nach ihrer Bestimmung, Erkenntniss
der Wirklichkeit zu sein, äußere Objecte darzustellen) mit einander
in mannichfachen Formen verbunden (complicirt). So
wie sie mit einander verbunden sind, werden sie von der Seele
aufbewart; im Verbande haben sie ihre wahre Geltung; und
auch für das Bewusstsein, obwohl sie nur nach Auflösung ihres
Verbandes reihenweise in dasselbe einziehen können, behält jede
Vorstellung vermöge des ihr eingebildeten Verbindungsmerkmales
den Hinweis auf ihre Stelle im Verbande und verliert nicht
ihren Zusammenhang, den sie im Verbande hat. Daher gruppiren
sich auch für das Bewusstsein die Vorstellungen je nach
ihrer Verbindung; denn jede derselben hat ihre Geltung nicht
bloß als bestimmter Inhalt, sondern zugleich als solcher mit
seiner bestimmten Verbindung; die Verbindung ist ja ein constitutives
Moment des Inhaltes. Das Bewusstsein erfasst die
Vorstellung in ihrer Beziehung zu einem Gesammtinhalte, dessen
Glied sie ist. Der Verband also, den die Seele bewart, wird
durch die Auflösung seiner Glieder in eine Reihe während des
Durchzuges durch das Bewusstsein nicht zerstört.

87. Es ist also wohl klar, nicht nur dass die Association
auf der Verbindung beruht, in dieser ihren Grund hat, sondern
auch dass sie überhaupt nichts andres ist als die Betätigung
dieses Complexionsverhältnisses für die seelische Energie der
Bewusstmachung. Weil zwei psychische Elemente complicirt
(verbunden) sind, darum kann die Seele nicht bloß dem einen
die Bewusstheit schenken, sondern nachdem sie das getan hat,
muss sie auch das andre Element bewusst machen. Oder, wie
wir uns wohl nicht minder exact ausdrücken: wenn von zwei
141verbundenen Vorstellungen die eine durch irgend welchen Reiz
oder Anstoß in Bewegung gesetzt ist, so giebt sie diese Erregtheit
der mit ihr verbundenen Vorstellung ab und kommt dadurch
zur Ruhe.

88. Die Association bezeichnet bloß die Bedingung zur
Reproduction für das Bewusstsein, also ein bloß subjectives
Verhältniss. Sie ist eine Form der Bewusstheits-Mechanik und
berührt also nicht den Inhalt des Bewussten. Wegen der Enge
des Bewusstseins aber hat sie nur eine Form der Bewegung:
die lineare Reihenform. Der Verband dagegen bezeichnet ein
objectives inhaltliches Verhältniss und hat nicht nur so viele
Formen, als die sinnliche concrete Anschauung bietet, sondern
auch noch die metaphysischen Kategorien und die logischen
Formen. Da aber dem Bewusstsein trotz seines linearen Ablaufs
die Formen der Verbindung der Vorstellungen durchaus
nicht entgehen, so ist durch die Association nur dann auch für
das Bewusstsein bloß eine Reihe vorhanden, wenn eben der
Sinn des Verbandes selbst kein anderer war als Bildung einer
Reihe. So sind z. B. die Sylben eines Wortes, die Wörter
eines auswendig gelernten Verses u. s. w. derartig associirt,
dass der eine Factor den andern reproducirt, in das Bewusstsein
hebt und eine Reihe associirter Factoren bewusst abläuft,
weil es das Wesen, der Sinn dieser Verbindung von psychischen
Factoren ist, eine sprachliche Reihe zu bilden. Wenn dagegen
z. B. eine Anschauung in Vorstellungen zerlegt wird, etwa Pferd
in eine gewisse Farbe, Größe, Gestalt, Bewegung, Geräusch,
Benutzung, so bilden diese Bestimmungen keineswegs eine bloße
Reihe von Elementen, die, wie sie aufgezählt werden, durch
das Bewusstsein ziehen; sondern sie stehen in einer inhaltlichen
Beziehung zu einander, bilden einen Verband, in welchem jede
Bestimmung ihre wesenhafte Stelle einnimmt, und diese Stelle
(das Verbindungsmerkmal) wird mit dem Inhalte bewusst (46).
Association ist ein bloßes Plus-Zeichen, ein „Mit” oder „Nach”
in Bezug auf Bewusstheit; das Bewusstsein jedoch ist kein
toter Raum, kein Weg, durch den die Vorstellungen hinziehen,
eine der andern gleichgültig, eine hinter der andern her, wie
eine Wagen-Reihe. Selbst die Sylben eines Wortes und die
Wörter eines auswendig gelernten Gedichts, die in der Tat eine
Reihe von associirten Lautgebilden ausmachen, haben doch
142erstlich gerade diesen Zusammenhang einer fest bestimmten
Reihenfolge, die nicht abgeändert werden darf, und außerdem
bilden sie noch das Ganze des Wortes, des Gedichts, und
haben zum Ganzen jedes eine bestimmte (grammatische und
logische) Beziehung. Eben so sind die Töne einer Melodie mit
einander zu einer solchen Reihe associirt, dass sie eine bestimmte
Abfolge und ein Ganzes bilden, also in dieser Reihe
wesenhaft verbunden. Die Verbindung aber mit ihrem mannichfachen
gediegenen Inhalt macht sich für das Bewusstsein geltend.
Wenn wir in den Genus-Regeln eine Anzahl von Substantiven
in einer festen Ordnung uns einprägen, so ist bei
dieser ganz subjectiven und reflectirten Association eben die
Regel oder die Kategorie der Ausnahme von einer Regel das
umschließende Band. Weil aber in der Tat in diesem Falle
zwar die Beziehung des einzelnen zum Ganzen, aber nicht eben
so die der Einzelnen unter einander einen bestimmten Sinn hat,
so hat man auch längst mit richtigem pädagogischen Blick erkannt,
dass die Association anderer Bindemittel bedarf. Die
alphabetische Anordnung hatte wieder nur einen sehr äußerlichen
Sinn; besser bewährte sich die metrische Anordnung.
Diese stiftet wieder eine objective Verbindung, die aber allerdings
an sich wertlos bleibt und nur dazu dienen soll, die Association
herzustellen, die ohne Verbindung unmöglich ist. Hiermit
ist jedoch ein Punkt berührt, der wohl verdient, dass wir
ihn besonders ausführen.

89. Die Processe, durch welche das Kind die ersten Erkenntnisse
gewinnt, sich Bewusstheit erschafft, gehen alle unbewusst
vor sich, rein mechanisch. Auch die Verbände von
einfachsten psychischen Momenten, die sich in der kindlichen
Seele gestalten, kommen unbewusst zu Stande. Das Kind bildet
seine Anschauung nicht so, dass es die Stücke, aus denen
diese besteht, durch synthetische Tätigkeit zusammenfügte; sondern
ungewollt und ungewusst gehen die Elemente an einander
nach der Natur der Seele, so dass für später an dem gewordenen
einheitlichen Bilde eines Dinges eine Analyse zu vollziehen
bleibt. Auch diese Auflösung der Anschauung in ihre
Elemente wird wiederum unbewusst ausgeführt, obwohl man
sich ihrer Ergebnisse, nämlich der Vorstellungen in Wörtern,
bewusst wird. Z. B. Zucker fällt dem Kinde ins Auge, es ergreift.
143ihn und bringt ihn in den Mund. Es habe also vom Zucker
eine Gesichtsempfindung, eine Tast- und eine Geschmacksempfindung.
Diese drei Empfindungen dreier Organe, durch
unbewusste Processe entstanden, verbinden sich ohne Bewusstsein
und liefern die einheitliche Anschauung Zucker. Ja, die
Büchse, in welcher der Zucker aufbewart wird, steht mit in
diesem Verbande. Weil dieser unbewusst hergestellt ist, so mag
nun zwar trotzdem die ganze Anschauung als Einheit bewusst
werden; die darin gebundenen Einzelheiten aber können als
solche nicht bewusst sein. Erst indem das Kind sprechen lernt,
vollzieht sich unbewusst ein analytischer Process, dessen Erfolg
ist, dass die Gesichtsempfindungen, die Tastempfindungen und
die Geschmacksempfindung jede für sich zur Vorstellung und
bewusst wird. Diese einzelnen Vorstellungen aber bleiben in
dem Verbande, welcher das Object Zucker bildet; und was
sich bei der producirenden Warnehmung zum einheitlichen Bilde
verbunden hat, betätigt sich bei der Reproduction durch Leitung
des Bewusstseins als associirt. Das Kind sieht bald einmal
bloß die Zuckerdose, und das ganze Bild des Zuckers in der
Dose steht in seinem Bewusstsein; es sieht ihn, und unmittelbar
erinnert es sich auch des Geschmackes. Das ist keine Tat der
kindlichen Seele, sondern ein Ereigniss in ihr, wovon nur das
Ergebniss bewusst wird, während der Process selbst unbewusst
bleibt.

90. Wenn nun also ursprünglich die Association und die
Verbindung sich unbewusst vollziehen, und die Verbindung der
Grund der Association ist: so können sie auch andrerseits auf
höherer Stufe der Entwicklung mit Absicht hergestellt werden,
wie alle wissenschaftlichen Erkenntnisse solche Verbände mit
Bewusstsein erzeugen und diese für das Bewusstsein als Association
wirken. Es kann aber auch (und darauf sollte hier hingewiesen
werden) absichtlich eine Association geschaffen werden,
lediglich damit von ihr eine Verbindung getragen werde. Dies
wird nämlich im Dienste einer Verbindung geschehen, die
wissenschaftlich betrachtet sehr wichtig, aber doch zufällig ist
(wie es z. B. zufällig ist, dass 12 aus 7+5 entstanden ist, da
es auch aus 6+6, freilich nicht minder zufällig, entstanden
sein kann), und die deshalb eine sehr schwache Associationskraft
in sich trägt. Daher wird künstlich noch eine andre Verbindung
144mit einer Association hergestellt werden, die an sich,
objectiv, völlig wertlos ist, aber den Dienst leistet, nach dem
Associations-Gesetze Vorstellungen in das Bewusstsein zu heben,
die in wichtiger Verbindung mit einander stehen. Es wird also
zu einer wichtigen Verbindung zweier Vorstellungen mit schwacher
Association eine unwichtige Verbindung mit starker Association
hinzugedichtet. Wenn z. B. der Knabe die Zahl 1789 mit dem
Begriffe der ersten französischen Revolution verbindet, so geschieht
dies durch umfassende Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft,
und die Verbindung hat ihren objectiven Sinn.
Indessen beruht sie doch nur darauf, dass zwei Reihen, nämlich
eine Reihe chronologischer Zahlen und eine Reihe von Tatsachen,
neben einander herlaufen, welche beide sich nach ihrem
eigenen Inhalte einander gar nicht berühren. Es ist nur der
beziehende Verstand, der von irgend einem, nicht ohne Willkür
gewählten Zeitpunkte (Aera) ab längere oder kürzere Zeitabschnitte
(Jahre, Olympiaden) zählt und diese im Ausgangspunkte
willkürlichen Zahlen auf die historischen Ereignisse bezieht.
Wie inhaltsvoll also auch die Verbindung der französischen
Revolution mit der Zahl 1789 sein mag, so ist sie dennoch nur
zufällig; und so ist jede chronologische Angabe für ein Ereigniss
mit Zufälligkeit behaftet, und darum tragen diese Verbindungen
nur eine sehr geringe oder nur sehr schwerfällig wirkende
Associationskraft in sich. — Oder wenn der Knabe die
lateinische Vocabel „panis, Brot” lernt, so soll, wie bei allem
Lernen von Wörtern fremder Sprachen, eine Verbindung zwischen
dem fremden Worte und der Anschauung oder Vorstellung
derartig hergestellt werden, als gälte es an dem betreffenden
Objecte eine neue Eigenschaft bewusst zu machen oder zu
erkennen; denn eben so gilt auch der einheimische Name eines
jeden Objects gewissermaßen als eine Eigenschaft desselben.
Oder, wenn man es anders ansehen will, es soll zwischen den
Wörtern der einheimischen und denen der fremden Sprache
eine Verbindung gestiftet werden. Nach beiden Ansichten ist
die Verbindung objectiv auf die grammatischen und lexikalischen
Verhältnisse gegründet. Nichts desto weniger ist das
so hergestellte Verhältniss ein zufälliges. Die Vorstellung und
das einheimische Wort „Brot” geraten zu „panis” eben so zufällig
in Verhältniss wie zu ἄϱϰος und zu den gleichbedeutenden
145Wörtern aller andern Sprachen. Folglich ist die Associationskraft,
die dieser Verbindung innewohnt, nur gering. Hinc illae
lacrimae der Schuljugend, welche Geschichtstabellen und fremde
Sprachen lernt. Hat nun jede der beiden Wort-Reihen zweier
Sprachen nur einen geringen Trieb, die andere für das Bewusstsein
zu reproduciren, so kommt der Knabe demselben dadurch
zu Hülfe, dass er (wir sehen hier von allen ausgeklügelten
mnemotechnischen Mitteln ab) je zwei sich entsprechende Glieder
der beiden Reihen öfter hinter einander ausspricht: panis Brot,
panis Brot… französische Revolution 1789, französische Revolution
1789… u. s. w. Was wird damit erreicht? Eine neue
Verbindung, wenn ich nicht irre, ganz abgesehen von jener
ersten wissenschaftlichen, historischen oder grammatischen; eine
neue, ganz subjective, welche an sich gar keinen Wert beansprucht
und nur jene objective dadurch unterstützen soll, dass
sie eine größere Reproductionskraft besitzt; durch das wiederholte
Nacheinander-Sprechen soll nämlich der Seele die Gewohnheit
eingebildet werden, als wären jene beiden Elemente,
welche das Gedächtniss zusammenhalten soll, immer in derselben
Zeit und an demselben Raume zusammen und bildeten eine
Gesammtanschauung, wie eine Person an einem Orte zur bestimmten
Zeit der Seele ein umfassendes Bild liefert (51). Diese
künstliche Verbindung von Vocabeln mit dem einheimischen
Worte oder der Jahreszahl mit dem Ereigniss ist eine Fiction,
die an sich nichts gelten soll, die aber eine größere Reproductionskraft
in sich trägt, mit welcher sie die sachliche Verbindung
stärkt.

91. Wie wir uns also des natürlichen Mechanismus zu
unserm Zwecke bedienen, so auch des psychischen. Wie wir
z. B., wenn wir Feuer haben wollen, nicht warten, ob sich
wohl Holz entzünden werde, sondern es in die Lage bringen,
wo es sich gemäß seiner Mechanik entzünden muss: so bedient
sich, auch die Erziehung und der Unterricht des psychischen
Mechanismus derartig, dass, wenn eine Verbindung und Association
gewisser Vorstellungen gewünscht wird, man nicht
wartet, ob dieselbe eintreten werde; sondern man bringt sie
bewusst und absichtlich in solche Lage, wo sie sich mit einander
verbinden und associiren, wie wir wünschen.146

e) Verflechtung.

92. Die entstandenen Verbände psychischer Momente treten
weiter unter einander in Verbindung, und zwar entweder so,
dass ein Verband als Ganzes mit dem andern als Ganzen verbunden
wird, oder es geraten zwei Verbände dadurch an einander,
dass sie gewisse Elemente gemeinsam haben. Letztere Art
der Verbindung muss besonders betrachtet werden. Wir wollen
sie Verflechtung nennen. Sie kommt im Seelenleben aufs
häufigste vor. Zwei ganz gleiche Dinge sehen wir selten; aber
täglich und stündlich stoßen wir auf ähnliche Dinge, d. h. auf
solche, welche teils gleiche, teils ungleiche Elemente enthalten.
Die gleichen Elemente in den beiden Verbänden streben nach
Verschmelzung und werden nur durch die Verbindung mit den
verschiedenen Elementen davor geschützt. Die Verbindung nun,
die so entsteht, muss ein eigentümliches Spannungsverhältniss
zwischen den betreifenden Vorstellungen erzeugen. Die gleichen
und die ungleichen Elemente wirken gegen einander, jene zur
Identificirung, diese zur Trennung treibend; jene wirken attrahirend,
diese repellirend; da sich die beiden Kräfte hemmen, so
kommt es zu keinem Erfolge, ohne dass jedoch die Kräfte vernichtet
würden. Association muss natürlich Folge der Verflechtung
sein. Denken wir uns nun viele Verbände, die in solcher
Verflechtung stehen: AZ, BZ, CZ… NZ, so muss sich die zwischen
ihnen bestehende Spannung bei einer etwaigen Reproduction in
ganz eigentümlicher Weise kundgeben. Es werde AZ durch
Warnehmung geboten, so müssen AZ', BZ' CZ'… NZ' sämmtlich
und zugleich wegen ihres Elementes Z' das Streben haben, ins
Bewusstsein zu steigen; dies ist aber unmöglich bei der Enge
des Bewusstseins; A', B', C' … N' hemmen einander, und keins
von ihnen gelangt zu Bewusstsein, also auch nicht das mit
ihnen verbundene Z'.

93. So wäre der Erfolg gleich Null. Dass aber dies nicht
genau zutreffend sein kann, ergibt sich schon aus früher Bemerktem
und aus der Überlegung, dass solche Verflechtung im
Leben viel häufiger vorkommen muss, als die Verschmelzung
des ganz Gleichen (welche sogar nur in beschränktem Umfange
auftreten kann) und als diejenige Verbindung, welche zwei Verbände
als gesonderte Ganze zusammenhält, und die wir kurzweg
147Verbindung nennen wollen. Bei dieser verbleibt jeder
Verband in seinem BestAnde unangefochten, während bei der
Verflechtung einer in den andern eingreift. Dies muss gerade
der häufiger vorkommende Fall sein, und der für unsern Geist
wichtigere. Das Associations-Verhältniss der verflochtenen Verbände
kann also unmöglich so ergebnisslos bleiben. Verschmelzung
aber schlechthin ist freilich hier völlig unmöglich; diese
kann nur eintreten beim Wiedersehen unveränderter Dinge und
zwar toter Dinge, deren Teile immer dieselbe Lage gegen
einander behalten. Der liegende und der laufende Hund können
schon nicht mit einander verschmelzen; noch weit weniger
kann ein Artbegriff „Hund” oder ein Gattungsbegriff „Tier”
u. s. w auf Verschmelzung beruhen. Es ist nicht abzusehen,
wie die Anschauungen von einem Pudel und einem Mops und
einem schwarzen und einem weissen Pudel u. s. w., einem
Schimmel und einem Rappen, vor der Kutsche oder einem Lastwagen
oder unter einem Reiter, sollten mit einander verschmelzen
können. Ja, die eben angestellte Berechnung hat in der That
diesen Wert, das Gegenteil zu beweisen: AZ, BZ … NZ können
nicht zu Zn oder X' verschmelzen, wenigstens nicht so unmittelbar,
wie man wohl häufig meint. Wenn aber nach der obigen
Berechnung auch der Anblick von AZ nicht BZ', CZ' u. s. w.
reproduciren könnte, der schwarze Hund nicht den weißen, ja
wenn sogar das Wiedersehen von AZ nicht einmal sollte AZ' reproduciren
können, so muss doch wohl in jener Berechnung
ein Fehler stecken, den wir zu verbessern haben.

94. Es entspricht aber auch durchaus nicht den Tatsachen,
dass die Anschauungen vieler Pferde auf die Formel AZ … NZ
zurückgehen. Denn wenn auch in je zwei Anschauungen ein
Teil gleicher und ein Teil ungleicher Elemente sich zeigen
werden: so ist doch das Gleiche nicht constant Z, wie die Formel
annimmt; sondern hier sind zwei Pferde gleich durch Farbe
und ungleich durch Größe, dort umgekehrt u. s. w. Wir hätten
also die Formel zu setzen AB, BC, AD u. s. w.

95. Sollte also Verschmelzung nicht in Folge von Verflechtung
eintreten? Und was denn an ihrer Stelle? Ein Kind
kenne ein Pferd. Es sehe ein anderes, aber an Farbe und
Größe verschiedenes. In der ersten Zeit wird es die Verschiedenheit,
wenn sie nicht auffallend ist, nicht beachten, und die
148Verschmelzung wird vollständig eintreten wegen mangelhafter
Auffassung. Die beiden Pferde sind nicht AZ und BZ, sondern
bloß Z und Z'. Anfangs würde es beide Pferde, selbst wenn
sie neben einander stehen, nicht unterscheiden können, sondern
als zwei gleiche auffassen; wenn es aber die Sinne genug geübt
hat, um bei solcher Vergleichung gegenwärtiger Dinge die Verschiedenheit
zu sehen, so ist es doch nicht im Stande, wenn es
nur das zweite sieht, das erste so vollständig und klar zu reproduciren,
um die Verschiedenheit zu merken. Vor dem AZ,
das gegenwärtig ist, kann das BZ' sein B' gar nicht zur Geltung
bringen, und so verschmelzen doch AZ und BZ', trotz ihrer Verschiedenheit,
zu AZ'; das B' hemmt nicht und geht einstweilen
verloren. Insofern aber doch AZ und BZ' aus einander gehalten
würden, etwa durch das Merkmal des Ortes oder der Zeit,
würde BZ' verfälscht und in AZ' umgewandelt, die Erinnerung
würde veruntreut. So ergeht es auch uns bei gleichgültigen
Dingen, deren Abänderung wir nicht merken. Oft genug sagt
man uns: „bemerkst du nicht eine Veränderung?” und wir
müssen erst auf solche aufmerksam gemacht werden, finden sie
sogar auch dann noch oft nicht von selbst.

96. Nehmen wir an, die abweichenden Warnehmungen
von Dingen derselben Art mehren sich, und setzen wir für dieselben
dreigliedrige Factoren: ABC, ABD, ACD, BCD, ABZ, ACZ,
ADZ u. s. w., so wird bei der Production z. B. von ADZ die Erinnerung
ABZ' und ACZ' sich nach dem gegenwärtigen ADZ umgestalten;
das B' und C' hemmen einander, und eben darum hemmen
sie die Verschmelzung des Restes AZ und AZ' gar nicht,
sondern bleiben wirkungslos und gestatten ihre Ersetzung durch
D, d. h. die Fälschung von ABZ' und ACZ' zu ADZ'.

97. Es erfolgt also in Fällen wie in dem eben betrachteten,
bei gleichgültigen oder geringen Abweichungen des Anblicks
von der Erinnerung, eine Verschmelzung in Folge einer
verfälschten Reproduction, und eine solche verfälschte Reproduction
heisse: Unterschiebung.

Bekannt ist, dass Personen, die beisammen leben, wie Ehegatten
und Familienglieder, oder die wenigstens viel mit einander
verkehren, sich oft sehen, die allmählichen Veränderungen
des Aussehens nicht bemerken. Es wird dem Manne schwer
oder unmöglich, sich zu vergegenwärtigen, wie die Leute, mit
149denen er zusammen groß geworden ist, aussahen, als sie klein
waren. Der Mann merkt nicht, wie seine Gattin, und diese
nicht, wie er ein immer älteres Gesicht bekommt, gerade wie
auch der Mensch an sich selbst die allmähliche Änderung um so
weniger bemerkt, je öfter er sich in dem Spiegel sieht. Nur
wenn wir einen Bekannten längere Zeit nicht gesehen haben,
finden wir ihn äußerlich anders geworden. Von Tag zu Tag
nämlich wird beim Anblick der Person die Erinnerung nach
der gegenwärtigen, abgeänderten Warnehmung abgeändert. Wo
der fortlaufende Anblick nicht stattfindet, wo man Jemand erst
nach Anhäufung einer großen Summe kleiner Veränderungen
wiedersieht, da ist die Unterschiebung nicht möglich.

98. Sie kommt auch in Fällen von ganz andrer Bedeutung
und ganz andrem Inhalt vor. Hierher gehören nämlich die
nicht seltenen Fälle einer scheinbaren, bloß eingebildeten Erinnerung.
Indem wir irgend etwas sehen oder hören oder reden,
ist uns, als hätten wir dies genau so schon einmal gesehen,
gehört, geredet. Die Erklärung dieser Täuschung ist darin gefunden,
„dass von der jetzt gegebenen Vorstellungsreihe eine
beträchtliche Anzahl von Elementen und zwar in analoger Anordnung
und gleichen Abständen wirklich in der Erinnerung
gegeben war; z. B. wenn für die Reihe A bis K etwa wirklich
ABrDEsGHIt gegeben war” (Lazarus, in der Zeitschr. f.
Völkerpsych. V. S. 146). Der letztern Reihe schiebt sich hier
die Reihe A… K unter und will als Erinnerung mit dem gegenwärtigen
A… K verschmelzen.

99. Diese Unterschiebung kann eintreten, muss es jedoch
nicht, und kann in verschiedenem Grade eintreten. Wenn sie
vollständig ist, so wird man sich des Irrtums gar nicht bewusst,
der ja auch durchaus gleichgültig sein kann. So bemerken wir
die allmähliche Veränderung der Dinge und Personen nicht, mit
denen wir fortwährend verkehren, weil wir von Tag zu Tage
je nach der Warnehmung unsere Erinnerung umgestalten. Nach
längerer Zeit gelingt es wohl gelegentlich, die festgebliebene
Erinnerung an einen älteren Augenblick treu zu reproduciren
und nun den Abstand von der Gegenwart zu ermessen. Nach
zehnjähriger Ehe z. B. kann sich der Ehemann wohl vergegenwärtigen,
wie seine Frau am Hochzeitstage aussah und kann
die Verschiedenheit genau bemerken. — Ferner, auf den angeführten
150Fall zurückommend, wir glauben zwar, etwas schon
gesehen oder gehört zu haben, haben aber daneben doch den
Zweifel, ob dies wohl wirklich geschehen ist, weil wir uns nicht
darauf besinnen können, wo oder wann oder wie es geschehen
sein sollte. Dann werden, wenn auch die Umbildung und die
Verschmelzung völlig eingetreten ist, dennoch bald die besondern,
abweichenden Elemente der Reproduction sich zunächst
nur schwach, bald immer mehr und mehr geltend machen, bis
endlich die begonnene Verschmelzung wieder aufgelöst wird, indem
man sich der Unterschiebung, der Verwirrung bewusst wird.

100. Wir werden demnach behaupten: verflochtene Verbände,
welche in einem Teil ihrer Elemente gleich, in einem
andern Teile aber ungleich sind, verschmelzen dann, wenn
erstlich die beiden Verbände von ungleicher Macht im Bewusstsein
sind *)16, und wenn zweitens die ungleichen Elemente des
schwächern Verbandes wiederum innerhalb desselben von geringerer
Macht sind als die gleichen, sei es, weil sie an Zahl,
oder weil sie an Wichtigkeit geringer sind **)17. Dann tritt nämlich
die Verschmelzung ein, indem das ungleiche Element des
schwächern Verbandes mit seiner die Verschmelzung hemmenden
Kraft von dem gleichen überwältigt und untätig gemacht
wird. Bei mehr als zwei verflochtenen Verbänden wird die
hemmende Wirksamkeit der besondern Elemente auch dadurch
gestört, dass sie sich selbst gegenseitig hemmen und untätig
machen. Sind viele Verbände so verflochten, so kann nach
und nach vielleicht jedes Element so ausgestoßen werden; aber
eben darum geht auch keins verloren, da, was diesmal unterdrückt
ist, nächstens in die Verschmelzung eintritt. Wenn
z. B. vor der Warnehmung ABZ die Erinnerung ABD sich in
ABZ' umgestaltet hatte und D verloren gegangen war, so wird
bald darauf durch die Warnehmung ADZ das D wieder hergestellt.
Ist aber ABZ, ADZ u. s. w. einmal gegenwärtig gewesen
als Warnehmung, so wird auch bei wiederholter Warnehmung
derselben entsprechend nur je ABZ', ADZ' u. s. w. reproducirt,
aber derartig, dass, weil B', C', D' nicht hemmend wirken, z. B.
151bei Gegenwart von ADZ nicht nur ADZ', sondern auch ABZ', ACZ',
u. s. w. zu dem einen Producte ADZn verschmelzen, und dann
wieder z. B. bei ABZ ebenso auch ACZ', ADZ' u. s. w. als die
verschmolzene Masse ABZn auftreten. Erscheinen aber ABZ, ABD
und ADZ gleichzeitig neben einander vor den Augen, so wird
dadurch die Verschmelzung nicht aufgehoben; sondern nur die
Möglichkeit der Verschiedenheit einer und derselben verschmolzenen
Masse oder die Möglichkeit des Wechsels eines Elementes
in einer Masse von Qualitäten wird erkannt, wodurch sich die
Auffassung des im Einzelnen Verschiedenen, aber wesentlich
immer Gleichen bestärkt.

101. Und dieses Verflechtungs-Verhältniss, wonach
ABC, ABD, ACD, BCD, ABZ, ACZ, ADZ u. s. w. jedes nicht nur
sich selbst, sondern auch sämmtliche andre derartig reproducirt,
dass sie immer nur als eine und dieselbe Verschmelzungsmasse
gelten, welche der jedesmaligen Production entspricht, dieses ist
es, worauf die Art-Begriffe des gemeinen, niedrigen Bewusstseins
beruhen. Solche Verflechtung und demgemäß
solcher Art-Begriff ist nicht ein festes Gedanken-Erzeugniss,
eine gewisse Menge von bestimmten Merkmalen als Einheit
gedacht; sondern er bezeichnet die Anerkennung der Möglichkeit
des Wechsels derselben Erscheinung innerhalb gewisser
Schranken, oder die Fähigkeit, ein Einzelwesen als ähnlich und
wesentlich gleich mit vielen andern unwesentlich verschiedenen
Einzelwesen zu erkennen. Der gemeine Art-Begriff ist nicht
ein bestimmter (logischer) Inhalt, sondern eine Form der Auffassung
oder eine Function. Über die Schranken soll bald
(106) Näheres bemerkt werden.

102. Die Verflechtung zeigt noch einige andre Verhältnisse,
die wir kurz erwähnen müssen. Wir haben bisher eine
Veruntreuung der Erinnerung eintreten sehen, die durch die vielfachen
Wendungen ihre Ausgleichung und Correctur erfährt.
Aber auch das Umgekehrte kann eintreten, dass nämlich die
Erinnerung treu bleibt und damit die Kraft erlangt, die Wirksamkeit
der gegenwärtigen Warnehmung abzuschwächen und
umzugestalten, die Gegenwart nicht zu ihrem vollen Rechte gelangen
zu lassen. Dann wird die Production durch die Reproduction
veruntreut; obwohl z. B. ADZ objectiv gegeben ist, so
wird es doch für ABZ genommen, weil bloß ABZ' zur Reproduction
152sich darbietet und dieses mit überwiegender Kraft wirkt, welche
es z. B. aus der Gewohnheit gewinnt. Man hat wirklich tausend
Mal ABZ gesehen; so glaubt man es jetzt wieder zu sehen und
beachtet nicht, dass in der Tat ADZ vor uns steht. Hatten wir
vorhin eine Unterschiebung, so haben wir in diesem Falle eine
Übertragung aus dem Reproducirten in das Producirte. Dies
ist ein häufigst eintretender Grund für Irrtum und Geistes-Trägheit,
während die Unterschiebung geistige Leichtfertigkeit
bewirkt.

103. Endlich aber kann die Abwandlung, welche bei der
Verflechtung der Vorstellungsverbände die Reproduction durch
die Production oder umgekehrt diese durch jene erfahrt, auch
so vor sich gehn, dass das Erinnerungsproduct ABC' bei gegenwärtigem
ABCZ zu ABCZ' ergänzt wird, oder umgekehrt die Warnehmung
ABC durch das erinnerte ABCZ' zu ABCZ' Dies wäre ein
Hineintragen. Ein solcher Process müsste zwar, insofern er,
der psychologischen Tatsache nach, einen bestimmten Verband
von Vorstellungen durch einen andern ersetzt und mit ihm vertauscht,
eine Veruntreuung entweder der Warnehmung oder der
Erinnerung heißen; er kann aber in Hinsicht auf objective Erkenntniss
durchaus das rechte Ergebniss herstellen. Dies ereignet sich
überall, wo wir etwas, obwohl wir nur halb hinsehen und halb
hinhören, und darum unvollkommen warnehmen, dennoch das
Ganze richtig erfassen, indem die Reproduction das Fehlende
an der Warnehmung richtig ergänzt, wie z. B. beim Lesen, wo
wir kaum die Hälfte der Buchstaben wirklich sehen, die andre
Hälfte in die Warnehmung hineintragen. Der Fall des Irrtums,
wo wir nämlich falsch ergänzen und uns versehen, ist freilich
nicht ausgeschlossen; dann lesen wir falsch. Überall geht es
uns ja mit der Verschmelzung so, dass sie uns in der Erkenntniss
bald fördert, bald irren lässt.

104. Dass zur Bildung des Art-Begriffes im gemeinen
Bewusstsein nicht nur Unterschiebung, sondern auch Übertragung
und Hineintragung wirkt, ist leicht ersichtlich. Wenn
nun aber alles dies offenbar nur in gewissen Schranken geschehen
darf und geschieht, so entsteht die Frage: da alle
Warnehmungen, die wir haben und haben können, mit einander,
wenn auch noch so mittelbar, verflochten sind, warum schmelzen
sie nicht unterschiedslos zu einem Artbegriff zusammen? Oder:
153wenn die Verschmelzung in Folge bloßer Verflechtung doch
ihre Schranken hat, woher hat sie diese?

105. Bevor wir an diese Frage gehen, wollen wir nur
einen Blick auf unsere anfängliche Berechnung (92) zurückwerfen,
nach welcher das Ergebniss der Verflechtung für das
Bewusstsein Null sein sollte. Ich denke, wir erkennen jetzt,
worin wir geirrt hatten, und inwiefern wir doch auch Recht
hatten. Wir hatten unter der Voraussetzung gerechnet, dass
jedes Element der verflochtenen Verbände an sich die gleiche
Leichtigkeit habe, in das Bewusstsein zu kommen, und darum
die gleiche Macht, alle übrigen zu hemmen. Setzen wir einen
Menschen, welcher Erinnerungen von Pferden in mehrfacher
Verschiedenheit in sich trägt, die alle für das Bewusstwerden
die gleiche Sprungkraft hätten, alle gleich sicher, deutlich und
lebhaft wären; ihm werde (nicht eine Warnehmung, sondern
nur) eine allgemeine Veranlassung zur Reproduction gegeben,
z. B. das Wort „Pferd”. So würde wirklich der Fall eintreten,
dass er im ersten Augenblicke keine Anschauung reproduciren
kann. Freilich würde wohl bald die eine oder die andere
frühere Anschauung eine besondere Begünstigung erfahren und
reproducirt werden. Wir sind aber alle in einer Lage, die von
dieser Annahme wenig verschieden ist, und vielleicht konnte
oder kann der Leser bei dieser Gelegenheit erfahren, dass er
erst nach einiger Zeit und einigem Schwanken sich die bestimmte
volle Anschauung eines Pferdes reproduciren konnte,
ein schwarzes, braunes u. s. w. Die mehrfache Möglichkeit
hinderte die Verwirklichung einer ausschließlichen wirklichen
Anschauung. Dagegen erhält bei der sinnlichen Warnehmung
z. B. eines Schimmels die Reproduction dieser Anschauung
eine so entschiedene Förderung, dass die schwarze und braune
Farbe ganz untätig, unerinnert bleibt. Dass aber der niedrige
Art-Begriff nur die mehrfache Möglichkeit, also ein Wechsel
der Anschauung ist: ABC' oder ABD' u. s. w., das beweist wohl
jeder Ungebildete, der auf die Frage: „was ist ein Pferd?” gar
keine Antwort gibt, außer mit dem Finger auf ein Pferd zeigend:
„das ist ein Pferd”, und dann etwa auf ein andres zeigend:
„und das ist ein Pferd”. Sein Bewusstsein springt unvermittelt
über aus der leeren Allgemeinheit, welche für ihn nur vielfache
Möglichkeit des Wirklichen ist, zur einzelnen Concretion. So
154antworteten die attischen Jünglinge mit ihrer geübten Fähigkeit
concreter Anschauung auf die Frage des Sokrates: was ist
schön? mit dem Hinweis auf ein schönes Pferd, ein schönes
Mädchen. Unter uns heute, da die Abstraction viel geübter
ist, wird man häufiger bemerken, dass auf die Frage: was ist
ein Pferd? Die Antwort gegeben wird: ein Pferd ist ein Tier.
Es wird überhaupt bei der Definition die allgemeinste Classe
genannt, in welche ein Wesen gehört, weil man von den differenzirenden
Merkmalen, da sie sich einander hemmen, kein Bewusstsein
hat. Auch ein Hund, ein Esel ist ein Tier, ein Sperling,
ein Karpfen, eine Fliege u. s. w. — Wenn nun aber alle
diese gemeinen Begriffe so inhaltsleer sind, warum verschmelzen
sie nicht zu dem einen Begriffe Tier? Oder, wenn es auch
bloße, jedoch bestimmte Functionen sind, woher ihre Verschiedenheit?
Dies ist ja aber nur die schon (104) aufgestellte
Frage, zu deren Beantwortung wir jetzt schreiten.

106. Wenn also der niedrige, ungebildete Art-Begriff bloß
die Erkenntniss des Wechels von Möglichkeiten innerhalb eines
bestimmten Kreises ist; welches Moment oder welche geistige
Macht bestimmt die Grenzen dieses Kreises? Warum könnte
nicht die Formel ABC, BCD, CDE, so fortgesetzt werden, dass
schließlich auch DEF und XYZ mit ABC ohne Hemmung oder
nach einer solchen verschmilzt? Beispielsweise: warum verschmilzt
die Anschauung eines Hundes nicht mit der eines Pferdes?
Und nun auch umgekehrt, warum verschmelzen so verschiedene
Anschauungen vom Pferde trotz ihrer Verschiedenheit mit einander?
oder wie kommt es, dass ABZ und ADZ' verschmelzen,
ohne dass B und D ihre hemmende Kraft geltend machen können?
Wird diese Hemmung, die doch nicht vernichtet wird,
die doch im Gegenteil so weit reichen kann, dass die Unterscheidung
von B und D, und also von ABZ und ADZ' wirklich
vollzogen wird, — wird diese Hemmung bloß von der Verschmelzungskraft
des AZ und AZ' überwunden? Und da dieses
AZ und AZ' doch nicht in allen Fällen, auch wenn es mit irgend
beliebigen verschiedenen Elementen verbunden ist, die Kraft hat,
dieses dritte Element auszustoßen und so oder so zu ersetzen:
wo liegt die Schranke?

Ein Kind im zweiten Lebensjahre unterscheidet Hunde und
Pferde und erkennt und unterscheidet sie auch im Bilde, erkennt
155und unterscheidet Mann und Frau und Knaben und
Mädchen in Wirklichkeit und im Bilde. Was ist denn nun
verschiedener? Pferd und Hund? oder wirkliches und gemaltes
oder aus Holz geschnitztes Pferd? Hund und Pferd unterscheidet
das Kind absolut, d. h. als verschiedene Art; aber das
wirkliche und gezeichnete oder geschnitzte Pferd nur relativ —
— relativ, d. h. unter Verschmelzung mit Hemmung. Denn
es ist undenkbar, dass das Kind Bild und Gegenstand durchaus
nicht unterschiede, das Bild dem Wirklichen völlig gleich
nähme. Das Gegenteil wird sich beweisen lassen. — Hieraus
schließe ich aber, dass das Bild eine entscheidende Macht im
Bewusstsein des Kindes habe in Bezug darauf, ob zwei Verbände
mit oder ohne Hemmung verschmelzen und zu diesem
Behufe Unterschiebung, Übertragung, Hineintragung erleiden
sollen, oder ob sie im Gegenteil fest auseinander gehalten und
zur Bildung zweier Art-Begriffe verwendet werden sollen. Das
Bild, species, ίδέα, d. h. die Form, reicht also als lenkende,
gestaltende Macht des Bewusstseins in die ersten, die
kindlichen Anfänge der Bildung zurück. Diese Form ist nicht
der volle Inhalt einer Anschauung, sondern nur der einheitliche
Charakter vieler Warnehmungen, ein Typus.

107. Worauf beruht denn nun aber dieses Bild, welches
ursprünglich den Art-Begriff bildet und den Inhalt desselben
ausmacht? Ist es etwa eine innere, apriorische, reine Anschauung
vor der empirisch gegebenen? eine außerhalb der
Warnehmungen bestehende transscendente Anschauung? Von
all' dem nichts. Es ist nicht ein für sich bestehender Inhalt;
es ist eine reine Energie, die nur in den einzelnen Warnehmungen
wirklich wird, nur ihnen immanent bleibt, für sich aber
gar nicht besteht. Es umschließt weder Farbe, noch Größe,
noch Stoff; denn bildet ein Pferd aus Wachs oder Ton, groß
oder klein, himmelblau oder hochrot — das Kind wird es erkennen,
wenn es ein gutes Bild ist, eine gute Zeichnung hat.
Nur auf den Verbindungsmerkmalen beruht dieses schöpferische
Bild. Nicht durch das AZ von ABZ, ADZ u. s. w. wird es erzeugt,
sondern nur durch die Form der Verbindung von A und
Z wie von B und D. Weil B und D, die schwarze oder
braune Farbe, in ABZ, ADZ u. s. w. in gleicher Weise mit AZ
verbunden sind, darum ist AZ im Stande, je nach der Lage der
156Sache B und D mit einander zu vertauschen, ja bloß B oder D
aus sich zu reproduciren. Daher stört es uns auch nicht im
Kunstgenusse, dass die Bildsäule eines Menschen in Marmor
oder Erz nicht die Farbe des menschlichen Leibes und der
Kleider hat. Ein Bild sei ABCDE … Z, das Abgebildete
ABCDF … Z', wo E und F' die verschiedenen Farben bedeuten.
Die Inhalte von E und F' hemmen sich, ihr Verbindungsmerkmal
aber ist dasselbe; also wird der Inhalt von E ganz wirkungslos,
um so wirkungsloser, je verschiedener von F'. Wird im
Gegenteil eine Nachahmung der Naturfarbe gesucht, so ist die
Hemmung von E und F' gering; F' tritt neben E in das Bewusstsein,
und der Widerstreit beider stört den Genuss.

108. Reine Energie sein, heisst: bloße Weise der Verbindung.
Natürlich kann sie niemals sein ohne Verbundenes
und kommt dem Ungebildeten nicht zu Bewusstsein.

109. Wie sollte der Begriff Farbe entstanden sein? Durch
Verschmelzung aller Farben? Das wäre ja undenkbar. Niemals
können zwei Farben, die als zwei vom Bewusstsein erfasst
sind, zu einer verschmelzen. Aus den Anschauungen oder Vorstellungen
Blau und Gelb kann nie etwas andres werden als
Blau und Gelb. Aber mit einander verflochten sind sie, sowohl
als Producte eines und desselben Sinnes, wie auch als objectiv
gleichartig bestehend, d. h. als subjectiv und objectiv gleich
verbunden mit andern subjectiven und objectiven Momenten;
und darum sind sie mit einander associirt. Das sind sie, bevor
der Begriff Farbe entstanden ist, und der gerade erst durch
die Verflechtung hervorgetrieben wird. Von Bild, Gestalt der
Farbe kann hier nicht wohl die Rede sein, obwohl Idee der
Farbe nichts andres bedeutet. Doch kommt es darauf nicht an.
Wesentlich verhält es sich mit dem Begriffe Farbe, Ton, Geschmack
u. s. w. nicht anders als mit dem von Pferd. Allerdings
tritt durch die Verflechtung der Farben, Töne u. s. w.
mit einander bei ihrer Reproduction durch einander beinahe
ganz das ein, was wir oben anfänglich als notwendigen Erfolg
berechneten, nämlich dass nichts reproducirt wird, wegen der
durchgreifenden gegenseitigen Hemmung, Wenigstens geht aller
bestimmte Inhalt, der eine Farbe zu gerade dieser Farbe macht,
verloren. Es sei Rot RF, Blau BF, Gelb GF u. s. w., wobei
E, B, G u. s. w. die specifische Qualität, den besondern Inhalt der
157Farbe bezeichnen, F aber die Form der subjectiven Production der
Farben und die Form der objectiven Existenz derselben darstellen:
so müssen RF, BF, GF u. s. w. vermöge des F sich verflechten.
Bei der Reproduction aber dieser Verflechtung müssen
sich B, R, G u. s. w. derartig hemmen, dass sie nicht bewusst
werden; nur F tritt ins Bewusstsein als Vertreter von BF, RF, GF
u. s. w., und nur F ist der Inhalt der Vorstellung Farbe überhaupt;
F ist aber eben nur das Verbindungsmerkmal. — Ebenso
ist es mit gut und schlecht, heute und gestern und morgen
u. s. w., u. s. w., und mit den Bewegungen: laufen, gehen, bewegen,
heben, stoßen u. s. w., u. s. w. mit den Consonanten B
und P u. s. w., den Vocalen I, A, U etc., sie sind associirt vor
der Erkenntniss der Lautlehre.

110. Übrigens darf man von der Macht dieses Bildes,
dieser ίδέα, des Typus der Art, sich doch keine übertriebene
Vorstellung machen. Es treten andre Hülfsmittel zur Sonderung
hinzu; vor allem das Wort. Es ist mir doch sehr zweifelhaft,
ob ein Kind Hund und Pferd von einander unterscheiden
würde, wenn es nicht das Wort für beides erhielte, zunächst
in der Gestalt von Wau-Wau und Hü-Hü. Der Beweis dafür
liegt wohl darin, dass ein Kind niemals seine Scheidungen
weiter treibt, als seine Muttersprache tut. Auch das ist lehrreich,
dass ein Kind, wo es von seiner Sprache verlassen wird,
d. h. selbst wo nur sein Wortschatz noch nicht ausreicht, in
der Tat Verschmelzungen des Verschiedenen durch übermäßig
ausgedehnte Übertragung eintreten lässt. So nannte, wie mir
erzählt wurde, ein Knabe von über drei Jahren das Bild eines
Engels „die grosse Gans”; und aus eigner Beobachtung weiß
ich, dass ein Mädchen von eben zwei Jahren das Bild geisterhafter
Frauen-Gestalten mit langen von der Schulter herab
wallenden Gewändern „Vogel” nannte. Ein Vierteljahr später
nannte es wachsendes Getreide im Bilde: Baum. Wieder einen
Monat darauf nannte es schwimmende Schwäne: Fische. Drei
Wochen später nannte es eine auf einem Hause flatternde große
Fahne einen Schimmel, und meinte: er springt. Vierzehn Tage
später nannte es die Segel eines Kahnes: Gardinen. Noch in
derselben Woche nannte es abermals beim Anblicke eines Bildes,
auf dem ein Hotel dargestellt war und auf dessen Spitze
eine flatternde Fahne, die letztere einen „Schimmel”. Wieder
158vier Wochen später, also nun drittehalb Jahr alt, nannte es
einen gemalten Mohren mit gelbem Kleide einen Löwen. Im
Alter von 3 Jahren 5 Monaten nannte es mein Stehpult:
Tisch.

111. Wunderbar bleibt bei all solchen Irrtümern die Macht
des Wortes. Der Wortlaut, den das Kind mit dem Gehörorgan
aufnimmt, treibt seine Phantasie an, die Typen der Arten immer
sicherer festzuhalten, so dass es zwei Arten, für welche es die
Wörter gewonnen hat, sicherlich nicht wieder verwechselt. Der
Knabe, der einmal gelernt hat, was ein Engel ist, wird ihn nie
wieder mit einem Vogel verwechseln. So ursprünglich wirksam
ist die platonische Idee, und so ideen-erzeugend ist das Wort!

f) Richtung der Association.

112. Es ist in der Seele alles mit einander verbunden,
was entweder in der objectiven Wirklichkeit (insofern sie erkannt
ist) oder in der vom Menschen gestalteten Gedankenwelt
in Zusammenhang mit einander steht, oder was aus beiden
Welten in einander übergreifend zusammentritt. So geht ein
Zusammenhang durch alle Elemente der Seele hindurch in
mannichfachen Weisen.

113. Ursprünglich sind die Verbindungen unbewusst. Sie
treiben aber selbst zur Bewusstheit. Die verbundenen Anschauungen
von Pferden erzeugen, wie wir gesehen haben
(104—111), den Begriff Pferd; die verbundenen Vorstellungen
von den Tier-Arten erzeugen den Begriff Tier. Das Streben
der fortschreitenden Bildung ist nun gerade darauf gerichtet,
einerseits den realen Zusammenhang der Objecte zu erkennen,
und andrerseits damit zugleich zwischen allen geistigen Elementen
des Subjectes eine entsprechende Beziehung zu stiften. Beides
geschieht, indem die unbewusst gewordenen Verbindungen bewusst
gemacht werden. Schön hieraus ist ersichtlich, dass mit
der steigenden Bildung das Wachstum der Verbindungen gegeben
ist. Die Wissenschaft aber sucht auch da Verbindungen
auf, wo sie noch nicht unbewusst entstanden sind, erzeugt also
mit Bewusstsein Verbindungen, deren Sinn und Inhalt sie in
neu geschaffenen allgemeinen Begriffen ausspricht. Und wie
theoretisch, so wird praktisch (und also bewusst) manche Verbindung
159hergestellt. So sind die Vocale unter einander und
eben so je eine Classe der Consonanten verbunden durch die
Erkenntniss ihrer gemeinsamen Natur; das Herabrollen des
Steines und das Fließen des Wassers, der Fall des Steines und
die Bewegung der Erde um die Sonne durch Gleichheit des Gesetzes;
Stein und Holz als Baumaterial; Butter und Brod u. s. w.

114. Auch durch doppelten und dreifachen Grund wird
Verbindung erzeugt. Sobald der Begriff des Sprichwortes gebildet
ist, sind alle Sprichwörter verbunden; solche von ihnen
aber, die aus dem Tierleben gegriffen sind, sind es noch besonders;
solche aber von letztern, die auch gleichen Sinn haben,
würden noch durch einen dritten Grund verbunden sein (Ztschr.
f. Völkerpsych. I, 114). So weit aber die Verbindung reicht,
reicht auch die Kraft der Association. Wenn nun eine Verbindung
mehrfach begründet ist, so wird die Association um so
fester. Die Reihe der Wörter in einem Gedichte z. B. ist sowohl
durch die grammatischen Gesetze und den Zusammenhang
des Gedankens wie durch den Rhythmus bestimmt und prägt
sich darum leichter und fester ein, als eine Wortreihe, die nur
durch die eine dieser Rücksichten bestimmt wird oder gar als
eine ganz zusammenhangslose Reihe von Namen.

115. Die Stärke der Verbindung ist um so größer, je
wesentlicher (54), je mehrseitig, je inhaltsreicher sie ist; die
Association nun, d. h. die Wirkung der Verbindung auf die
Erinnerung, steht mit jener Stärke in geradem Verhältniss. Sie
gewinnt aber nicht bloß durch das Gewicht der Verbindungs-Verhältnisse,
sondern auch durch Übung, Wiederholung, Gewöhnung
(90). Der Knabe, der sich lateinische Vocabeln einprägen
will, kann die Verbindung von panis und Brod nicht
fester machen, als sie beim ersten Kennenlernen des Wortes
sich bildet; aber die Association sucht er zu kräftigen durch
öfteres Wiederholen der Vocabeln.

116. Hierbei ist noch Folgendes zu bemerken. Wenn
zwei Vorstellungen A und B mit einander associirt sind, so ist
doch die Kraft, einander zu reproduciren, nicht in beiden gleich:
A kann vielleicht nicht so sicher und schnell B in Erinnerung
bringen, als umgekehrt B an A erinnert. Bekannt ist, dass beim
Vocabellernen das fremde Wort leichter in das einheimische
übersetzt wird, als umgekehrt. Wenn für die Associationen
160überhaupt das Gesetz gilt, dass ihre Reproductionskraft in
geradem Verhältnisse zur Stärke der Verbindung und zur Übung
und Gewohnheit steht, so gilt für die gegenseitige Reproduction
der beiden Glieder einer Association vielmehr das Gesetz:

die Reproductionskraft jedes der beiden Glieder steht
in umgekehrtem Verhältnisse zur Vertrautheit mit ihm
und zu seiner Wesenhaftigkeit oder Selbständigkeit
(vergl. 54. 55).

117. Wie es scheint, lassen sich die hierher gehörigen
Verhältnisse aus einem gewissen Trägheitsgesetz in folgender
Weise ableiten:

1) Weil das einheimische Wort gewohnter ist, darum hat
es geringere Reproductionskraft für das fremde als dieses für
jenes. Anders ausgedrückt: die Leitungsfähigkeit des Bewusstseins
ist größer vom fremden Worte auf das einheimische als
umgekehrt von diesem auf jenes. Dies beruht darauf,
dass die Seele leichter aus dem ungewohnten Zustande
in den gewohnten zurückkehrt, als sich umgekehrt aus
dem gewohnten in den ungewohnten bewegt.

2) Werkzeuge und Materialien (Mittel) erinnern leichter an
den Zweck als dieser an jene. Beim Anblick von Bauholz und
Bausteinen werden wir an ein Gebäude erinnert, das daraus aufgeführt
werden soll; bei der Besichtigung eines Hauses dagegen
denken wir nicht an das Material, aus dem es besteht. Messer
und Gabeln und Teller erinnern an Speise, diese nicht so unmittelbar
an jene.

Denn die Seele folgt leichter dem Gange der wirklichen
Bewegung, als sie die rückläufige Bewegung vollzieht.
Auch kommt die Seele im Zwecke zur Ruhe, in der
sie gern verharrt, während sie durch die Mittel angereizt
wird, die Bewegung, welche vermöge der Mittel veranlasst
wird, zu verfolgen.

3) Das selbständigere Object reproducirt schwerer das unselbständige,
z. B. das Ganze reproducirt schwerer die Teile,
als umgekehrt.

Denn im Gedanken des Ganzen ruht die Seele, während
die Vorstellung des Teiles sie zum Ganzen treibt, ohne
welches er gar nicht zu denken ist.
Daher ist es (nach Erfahrungen an mir) sehr schwer, fast
161schmerzhaft, in müßigen Augenblicken, wo der Geist unbeschäftigt
ist, wenn einem eine Melodie einfällt, diese abzubrechen
und nicht bis zu Ende zu singen, wenn auch nur stumm, bloß
im Kopfe. Hier wirken die beiden Gesetze 2 und 3 zusammen;
denn die Melodie ist ein Ganzes von Teilen, welche in fortschreitender
Bewegung sind.

118. In wie vielen Fällen aber auch diese Gesetze, welche
als besondre Formen eines psychischen Trägheitsgesetzes erscheinen,
sich bestätigen mögen, nähere Betrachtung führt doch
darauf, dass sie durch Übung und Gewohnheit nicht bloß häufig
durchkreuzt oder auch unterstützt, sondern geradezu erst begründet
werden. Alle psychologischen Vorstellungsverhältnisse
(und die Association ist etwas rein psychologisches) sind subjectiv.
Niemals hat eine Vorstellung eine ihr selbst angehörende,
bloß in ihrem Inhalt liegende, mit diesem gegebene Macht, eine
Macht, die etwa ursprünglich dem äußern Objecte selbst entstammte.
Worin also die Seele ihre Ruhe finden soll, das hängt
nicht vom Objecte, von dem Inhalte der Vorstellung ab, sondern
ist subjectiv, durch Gewöhnung und Interesse bedingt. Das
fremde Wort hat darum größere Reproductionskraft für das
einheimische, weil sein ganzer Wert auf dieser Association beruht,
ohne welche es ein leerer Klang wäre; das einheimische
Wort dagegen hat durch früheste Association nicht mir an sich,
ohne das fremde Wort, seinen hinlänglichen Wert, sondern dieser
wächst auch nur wenig durch die neue Association mit dem
fremden Worte. Übung jedoch hebt den Unterschied auf, und
bald genug vermag „Mensch” eben so sicher „homo” zu reproduciren,
als es durch dasselbe reproducirt wird. Diese Übung
wird absichtlich angestellt, während freilich sachgemäß oder ursprünglich
es gar nicht Aufgabe des einheimischen Wortes ist,
das fremde zu reproduciren. Eben so mag es sein, dass die
Mittel den Zweck reproduciren, nicht umgekehrt, aber nicht
weil der Seele objectiv diese Bewegungsrichtung die leichtere
oder angenehmere wäre, sondern weil sie die gewohnte ist, weil
das Mittel nur den Sinn hat, einem Zwecke zu dienen, dieser
aber seinen Wert durch den bereiteten Genuss in sich trägt;
also weil der Zweck subjectiv das Wichtigere ist. Wenn es
sich um Ursache und Wirkung handelt, so wird wohl zugestanden
werden, dass gerade umgekehrt die Wirkung leichter
162an die Ursache erinnert oder sie suchen lässt, als umgekehrt
die Ursache die Wirkung. Hier geht also die Seele von der
Vorstellung des Zustandes, des Gewordenen, des Ruhenden
rückwärts, um ein Werden, eine Tätigkeit vorzustellen, also eine
Bewegung zu vollziehen. Aber auch nicht immer tritt dies ein;
sondern häufig nimmt der Mensch Zustände war, ohne nach der
Ursache zu fragen. Eben nur wo wir gewöhnt sind, Zustände
als Wirkungen aufzufassen, denken wir die Ursache hinzu oder
suchen sie auf. Aber wir erkennen auch manches als gefahrdrohend,
d. h. wir sehen es als mögliche Ursache einer gefürchteten
Wirkung an.

119. Mit all dem werden die obigen Gesetze nicht aufgehoben,
aber näher dahin bestimmt:

Was der Seele als Ruhepunkt gilt, hängt von der Gewohnheit
ab.

120. Gewohnheit und Übung sind also die einzige Ursache
der Association. Nun ist aber durch diese jede Vorstellung
mit vielen Vorstellungen associirt; es bliebe also die Frage:
welche von den vielen Associationen wird wohl in einem gegebenen
Augenblicke wirksam werden? Die gewohntere! gewiss.
Aber wo auch die Gewohnheit gleich groß ist? Da entscheidet
die Absicht, die Richtung des Gedankens. Durch diese
aber kann selbst die schwächste Association die stärkste überwiegen.
Ohne Absicht wird uns, wenn wir von irgend etwas,
von Menschen, von Brod u. s. w. reden, nie die fremde Vocabel
dafür einfallen; sie wird aber reproducirt mit Ausschluss
jeder andern Association, wenn gefragt wird: wie heisst „Mensch”
in dieser oder jener Sprache? und wird nach dem französischen
Worte gefragt, so wird nur an dieses, nicht an das einer andern
fremden Sprache gedacht werden. Was das aber heiße: Richtung
des Denkens, davon später. Also Gewöhnung ist die
einzige Ursache der Association, und unter gleich starker Gewöhnung
entscheidet für den augenblicklichen Erfolg die Richtung,
die Absicht des Denkens.163

III.
Unbewusstes in der Seele.

121. Die Forderung, dass auch das, was unbewusst in der
Seele sich ereignet, vom Psychologen mit in Rechnung gezogen
werde, ist von uns nicht bloß schon ausgesprochen, sondern
auch vielfach schon erfüllt. Bevor wir aber weiter schreiten,
ist ein deutlicherer Hinweis auf den weiten Umfang des Kreises
unbewusster Seelentätigkeit zu geben.

122. Wir sitzen irgendwo, und es fällt uns plötzlich ein,
dass wir irgendwohin gehn müssen. Wir schnellen auf vom
Sitze, ohne uns zu sagen, dass wir aufstehen müssen, und wir
setzen die Beine in Bewegung. Wir sagen es uns nicht, dass
wir das eine und das andre Bein abwechselnd mit so viel Kraftaufwand
in dieser Richtung heben müssen; aber wir tun es.
Während wir gehen, denken wir nicht an unser Gehn. Ist diese
Tätigkeit etwa eine rein körperliche Bewegung? ein Pendeln der
Beine infolge eines einzigen Anstoßes? Doch wahrlich nicht.
Ein seelischer Anstoß wirkt hier ununterbrochen, aber bewusstlos.
Diese Tätigkeit des Gehens ist nicht so einfach. Wir
sehen eine Pfütze, eine Schranke u. s. w. und umgehen sie; wir
sehen eine Rinne, eine Stufe, und erweitern, heben oder senken
den Schritt nach Zweckmäßigkeit — unbewusst. Vor zehn
Ecken gehen wir vorüber; an der elften biegen wir ein, am
rechten Hause bleiben wir stehen — mit Absicht, aber unbewusst.
Zuweilen freilich sind wir mit unsern Gedanken so beschäftigt,
dass wir weiter gehen, als wir sollten und wollten.
Die Wirksamkeit des unbewussten Triebes hätte vor dem gewollten
Hause durch Warnehmung desselben gehemmt werden
sollen; aber diese Warnehmung ist vor den wachen Gedanken
in unserm Bewusstsein nicht zu Stande gekommen.

123. Überhaupt lehren uns unsere Irrungen, wie viel Zweckmäßiges
wir ohne Bewusstsein tun. Welch ein unangenehmes
Gefühl ist es, wenn wir, eine Treppe im Dunkeln auf- oder absteigend
und am Ende derselben angelangt, den Fuß weiter wie
zum Steigen setzen. Unbewusst also über unser Tun, richten wir
die Bewegung anders ein, je nachdem wir auf ebenem Boden oder
aufwärts oder abwärts steigen. — Wir heben eine Wasserflasche.
164Wir hielten sie für voll; sie ist aber leer. Welch ein eigentümliches
Gefühl haben wir davon im Arm! Das Gefühl einer
unnötig und unnütz aufgewanten Kraft. Wir hatten also beim
bewussten Anblick der Wasserflasche, gemäß der bewussten
Absicht, sie zu heben, unbewusst die Kraft abgemessen, die wir
zum Heben aufwenden müssten. Diese unbewusste Bemessung
der Kraft war richtig; aber das Bewusstsein mit der Voraussetzung,
dass eine volle Flasche vor uns stehe, war irrig. So
lehrt uns dieser Irrtum, dass durchweg das Heben eines Dinges
von einer unbewussten Schätzung des Gewichts des zu hebenden
Dinges und einer unbewussten Messung der aufzuwendenden
Kraft begleitet ist, welche Schätzung und Messung nicht zum
Bewusstsein kommt, wenn sie übereinstimmt, die aber bewusst
wird, wenn der Erfolg die Disharmonie zeigt. — Wir setzen
uns zu Tische mit der bewussten Absicht, zu essen; aber Löffel,
Messer und Gabel bewegen wir unbewusst. — Wir schreiben;
dabei macht die Hand in großer Schnelligkeit sehr bestimmt
gemessene, zweckentsprechende Bewegungen, welche sich aber
unbewusst regeln. Unbewusst fügt sich die Hand dem Zwecke
der Schrift. Der Knabe freilich, welcher schreiben lernt, zieht
jeden Strich nach Länge, Dicke und Richtung mit Bewusstsein.
Dasselbe tun wir, wenn wir eine neue Schrift lernen oder einen
verzierten gotischen Buchstaben mehr zeichnen als schreiben.

124. Ein merkwürdiger, wohl bekannter Fall ist auch folgender.
Mancher vermag es, sich des Abends hinzulegen, ruhig
zu schlafen und genau um 4 Uhr, oder wann er sich eben vorgenommen
hat, aufzuwachen. Viele werden dies nicht so präcis
können; sie werden unruhig schlafen, oft aufwachen. Immerhin
zeigt diese Tatsache, dass die Absicht, um 4 Uhr aufzustehen,
unbewusst im Schlafe wirkt und den Schlaf stört. — Kinderwärterinnen
liegen oft im festesten Schlafe; sogar lautes Klopfen
und Lärmen, Rufen weckt sie nicht — aber beim leisesten
Wimmern des Kindes sind sie munter.

125. Auch nicht bloß im Kreise leiblicher Übungen, sondern
nicht minder auf rein geistigem Boden herscht weithin die
Bewusstlosigkeit. Die psychologischen Processe, denen die bewussten
wie die unbewussten seelischen Erzeugnisse unterliegen,
bleiben unbewusst; die metaphysischen Kategorien, die logischen
und grammatischen Formen und Regeln, nach denen wir unsere
165Gedanken gestalten und darstellen, bleiben unbewusst — selbst
dem Metaphysiker und Grammatiker, insofern er nur überhaupt
als Mensch denkt und nicht besonders gerade auf jene Kategorien
und Formen achtet. Auch kann schon hier ausgesprochen
werden, dass nicht nur die Schöpfung der Sprache nach Stoff
und Formung unbewusst vollzogen ist, sondern dass auch die
so beträchtlichen Wandlungen der Sprachen in vorgeschichtlicher
und in geschichtlicher Zeit bis heute unbewusst vor sich
gegangen sind. Es kann auch hier schon hinzugefügt werden,
dass auf der Nichtbeachtung oder Verkennung des Unbewussten
in der Seele (da man Unbewusstes nur in der Natur erkannte),
der Fehler beruht, die Sprache ein Natur-Product. zu nennen.
Endlich sei daran erinnert, dass alle eigentlichen Schöpfungen
in Dichtung, Wissenschaft und Leben aus der bewusstlosen
Tiefe des Geistes stammen, was bald verkannt ward, bald zur
Mystik führte.

126. So viel möge genügen zur allgemeinen Hinweisung
auf die Weite des Kreises und die Wichtigkeit unbewusster
Seelentätigkeit. Und nur dies bleibt noch zu bemerken, dass
auch die unbewussten Vorstellungen in Verbindungsverhältnissen
stehn, verschmolzen und verflochten sind und sowohl bezüglich
ihrer Wirksamkeit auf den Körper zur Veranlassung und Leitung
der Bewegungen desselben sich als associirt erweisen, wie auch
geistig ihre Verbindungen und Associationen als Gesetz und
Trieb regelnd und schöpferisch auftreten. (S. weiter unten
öfter, zunächst 140 ff.)

IV.
Apperception.

a) Wesen der Apperception im allgemeinen.

127. Production der Empfindungen in Folge der Reize
von außen, ferner Verbindung der Warnehmungs-Producte nach
ihren Ursprungsmerkmalen, welche nun Verbindungsmerkmale
werden, und Verschmelzung der ihrem Inhalte nach ganz gleichen
Producte, endlich Reproduction des gebildeten Inhalts bei Wiederkehr
derselben Bedingungen, unter denen derselbe anfänglich
entstanden war, und durch Association und Verflechtung: dies
166sind die mechanischen Grundprocesse im Seelenleben, in der
Welt psychischer Momente. Wie nun aus den einfachen Körpern,
den chemischen Elementen, gemäß und mittelst der an
ihnen zur Erscheinung kommenden chemischen und physikalischen
Kräfte sich eine Welt körperlicher Dinge aufbaut, welche
mehr oder weniger zusammengesetzt und gegliedert sind: so
entsteht aus den einfachsten Seelenwirkungen, den besprochenen
Grundprocessen gemäß und durch sie, im einzelnen Menschen
eine mehr oder weniger gebildete Weltanschauung und in den
kleinern und größern Gemeinden oder Gesellschaften ein mehr
oder weniger umfassender allgemeiner Geist. Auf den höhern
Entwicklungsstufen seelischer Entwicklung hören jene elementaren
Processe nicht auf, und wie für die Empfindung gilt auch
für den Begriff, dass er in Verbindung und Verschmelzung und
Association tritt. Je mehr aber die Producte der Seele an
Menge anwachsen, um so verwickelter und combinirter werden
die zwischen ihnen bestehenden Processe. Diese Verwicklungen
und die dadurch hervortretenden Combinationen und Modificasionen
der elementaren Processe bedürfen einer besondern Betrachtung.
Sie heissen (in Ermangelung eines bezeichnendem
Namens mit Anschluss an die ältere Terminologie) Apperceptionsprocesse,
im Gegensatze zu den besprochenen Elementar-Processen.
Sie verhalten sich zu diesen, wie die eigentümlichen
Vorgänge, auf denen das Pflanzen- und Tierleben
beruht, sich zu den Gesetzen der Physik und Chemie verhalten.
Also: zu der abstracten Mechanik der körperlichen und seelischen
Bewegungen muss noch die Betrachtung eigentümlicher
Bildungsprocesse hinzutreten, welche zwar durchgängig nur
von den elementaren Vorgängen getragen werden, diese aber
in besondern Combinationen in sich schließen. Weder im Organismus,
noch im höhern Geistesleben erscheint eine neue
Kraft, eine Lebenskraft; aber wohl zeigen sich neue Erscheinungen
nach neuen Gesetzen.

128. Zuerst soll das Wesen der Apperception überhaupt
verdeutlicht werden. Dazu diene eine Anekdote aus den Fliegenden
Blättern (1868, zweites Semester, Bd. XLIX, Nr. 1220).
In einem Coupé eines Eisenbahnwagens sitzen sechs Personen,
einander völlig unbekannt, in lebhafter Unterhaltung. Es wird
bedauert, dass einer von der Gesellschaft an der nächsten Haltestelle
167aussteigen muss. Ein Andrer äußert, ihm sei ein solches
Zusammensein mit gänzlich Unbekannten am liebsten, und weder
frage er jemals, wer oder was seine Reisegefährten seien, noch
auch sage er bei solcher Gelegenheit, wer oder was er sei. Da
meint einer, wenn ihm auch die anderen nicht sagen wollten,
was sie seien, so mache er sich doch anheischig, dies herauszubringen,
wenn ihm nur jeder eine ganz fern liegende Frage
beantworten wolle. Hierauf ging man ein. Er nahm aus seinem
Notizbuche fünf Blätter, schrieb auf jedes eine Frage und übergab
jedem Gefährten eins mit der Bitte, seine Antwort darauf zu
schreiben. Nachdem man ihm die Blätter zurückgegeben hatte,
sagte er, sowie er eine Anwort gelesen hatte, ohne Bedenken
zu dem einen: Sie sind Naturforscher; zum andern: Sie Militair;
zum dritten: Sie Philologe; zum vierten: Sie Publicist;
zum fünften: Sie Landwirt. Alle gestanden, er habe Recht.
Jetzt stieg er aus und ließ die fünf zurück. Jeder wollte wissen,
welche Frage der andre bekommen habe; und siehe da, es hatte
ihnen allen nur eine und dieselbe Frage vorgelegen. Sie lautete:

„Welches Wesen zerstört das wieder selbst, was es hervorgebracht
hat?”

Hierauf hatte der Naturforscher geantwortet: die Lebenskraft;
der Militair: Krieg; der Philologe: Kronos; der Publicist:
die Revolution; der Landwirt: der Saubär. *)18 — Dies ist die
Anekdote, von der ich meine, dass sie, wenn nicht wahr,
ausgezeichnet erfunden ist. Der Erzähler legt dem Publicisten
noch die Worte in den Mund: „Darin liegt eben der Pfiff.
Jeder antwortet, was ihm zuerst einfällt, und das ist dasjenige,
was mit seinem Berufe in nächster Beziehung steht…
Jede Frage ist ein Anbohrungsversuch, und die Antwort ist
ein Loch, durch das man in unser Inneres gucken kann.” So
wird das Haec fabula docet in Form der praktischen Menschenkenntniss
ausgedrückt. Diese üben wir Alle. Es ist jedem
geläufig, den Geistlichen, den Militair, den Gelehrten, den Geschäftsmann
nicht nur an den Äußerlichkeiten der Kleidung, der
Haltung des Körpers u. s. w. sondern auch an dem, was er sagt
und wie er sich ausdrückt, zu erkennen. Man errät die Lebensstellung
eines Menschen an dem Interesse, das er bezeigt und
168wie er es bezeigt, an den Gegenständen, von denen er spricht,
und an seiner Weise, die Sachen anzusehen, zu.beurteilen, aufzufassen,
d. h. an seiner Art, zu appercipiren (227. 238).

Versuchen wir jetzt, diese gemeine Menschenkenntniss auf
psychologische Theorie zurückzuführen. Der Leser wird darauf
gefasst sein, einen weiten und beschwerlichen Weg zurückzulegen.
An geeigneten Stellen werden wir auf die Anekdote zurückblicken.

129. Wir wissen, dass alle Seelenproducte mit andern in
Verbindung stehen, wie es durch den doppelseitigen Ursprung,
den subjectiven und den objectiven, bedingt wird. Was dem
Ursprunge nach verwant ist, verbindet sich mit einander; und
verwant ist, was durch dasselbe Object oder durch dieselbe
subjective Tätigkeit erzeugt ist. In demselben Maße nun, wie
die Dinge der Natur und die Schöpfungen des menschlichgeistigen
Zusammenlebens sich in kleinern und größern Kreisen
zusammenordnen, also in näherer und fernerer, unmittelbarer
und mittelbarer Beziehung zu einander stehen, verbinden sich
auch die Erkenntnisse von diesen Dingen. Freilich muss man
sagen, dass die hier erwähnte Ordnung in der Natur und im
Geiste eine rein subjectiv gestiftete ist. Indessen ist nicht zu
fürchten, jemand werde leugnen, dass die subjectiv gemachten
Beziehungen ihre Veranlassung und also Berechtigung aus den
eigentlich realen Verhältnissen schöpfen. So entstehen also die
Verbindungen durch den Verein subjectiver und objectiver Notwendigkeit,
indem eben die Seele, durch die Realität veranlasst,
Erkenntnisse von dieser bildet.

130. Den Gruppen der natürlichen Dinge und der geistigen
Sachen stehen also ihnen ganz parallel verbundene Erkenntnisse
gegenüber. So hat jeder Mensch eine Gruppe von Vorstellungen,
die sich auf seine Person und seine eigenen Interessen beziehen,
und eine andre, die dem Staate gewidmet ist. Jeder hat eine
Gruppe von Vorstellungen über Pflanzen, über Religion, über
Recht, über Kunst u. s. w. und noch specieller über die Rose,
das Epos, die Predigt, das Wechsel-Recht u. s. w.

131. So besteht der psychische Inhalt jedes Menschen,
auch des Ungebildeten und des Kindes, aus Erkenntniss-Gruppen
oder -Kreisen, von denen jeder innerhalb eines andern umfassendern,
neben andern mitumfassten liegt und kleinere in sich
schließt. Lassen wir, wie wir hier durchweg tun, das ursprüngliche
169Werden der ersten Kreise außer Acht, und verfolgen wir
nur die weitere Entwicklung der schon bestehenden Gruppen
oder auch nur die Wirksamkeit derselben im täglichen Verkehr.
Denn diese Entwicklung und Wirksamkeit vollzieht sich eben
durch Apperceptions-Processe; die Bewegung oder Tätigkeit
jener Gruppen, die einfachste Warnehmung und die Schöpfung
des genialsten Gedankens ist Apperception.

132. Man wird sich leicht überzeugen, dass eine so gemeine
Tat, wie die Warnehmung irgend eines Dinges, z. B. eines
Pferdes, doch kein einfacher Act der Seele ist, noch weniger
eine einfache Passion. Denn noch ganz abgesehen davon, wie
wir mit unserm Auge die Gestalt des vor uns stehenden Wesens
auffassen, ist doch die Anerkennung dieses Wesens, dessen
Bild uns das Auge liefert, als eines Pferdes noch ein besondrer
Act; und dieser Act ist vielmehr ein Process zwischen jenem
gegenwärtigen Bilde des Pferdes vor unserm Auge einerseits und
den verschmolzenen oder verflochtenen Bildern und Vorstellungen
von allen Pferden, die wir je gesehen haben, andrerseits.
Dass dem so sei, wird schon dadurch erwiesen, dass wir in
der Warnehmung eine weit größere Erkenntniss bilden, als das
bloße Auge liefert. Indem wir das vom Auge Gebotene für ein
Pferd erklären, fügen wir dem Gebilde des Gesichtssinnes unmittelbar
alles das hinzu, was wir von einem Pferde, von dessen
Beschaffenheit, Fähigkeit, Lebensart und Gebrauch wissen (103).
Dies spricht sich eben darin aus, dass wir diesen Gegenstand
als Pferd erkennen. Mit unserm weitern Wissen vom Pferde
also, mit einer Vorstellungsgruppe, welche an allen Pferden, die
wir je beobachtet, gebildet ist, mit dem Art-Begriff dieses Wesens,
appercipiren wir den gegenwärtigen Anblick. Der volle
Inhalt unserer Warnehmung eines Pferdes liegt nicht bloß in
dem, was der Gesichtssinn bei der augenblicklichen Erscheinung
dieses Tieres bietet; sondern das so Gebotene vereinigt
sich mit dem früher gebildeten Begriffe, einer Vorstellungsgruppe.
So begreifen wir leicht, wie die Warnehmung allemal
ein Process zwischen zwei Factoren oder Momenten ist, von
denen eins schon vor dem Processe und schon längst Eigentum
der Seele war (der Begriff, die Vorstellungsgruppe), während
das andre eben jetzt der Seele geboten wird, also das gegenwärtig
hinzutretende Moment (der Sinnesreiz). Jenes appercipirt
170dieses; dieses wird von jenem appercipirt. Aus dieser Verbindung
entsteht ein Apperceptions-Product: die Anerkennung eines
wargenommenen Wesens z. B. als eines Pferdes. Das frühere
Moment ist (für den gegenwärtigen Process, also relativ, im
Gegensatz zum andern Moment) a priori und activ, das hinzutretende
Moment ist das gegebene, a posteriori und passiv.

133. Ist das Ergebniss des Processes zu Stande gekommen,
so kann es in eine neue Apperception als Moment eintreten.
Was soeben Product war, wird z. B. von einem andern schon
vorhandenen (apriorischen), aber umfassendem Moment (Tier)
appercipirt. Ja auch, was soeben als apriorisches Moment
wirkte, der Artbegriff Pferd, wird vom Begriff Tier appercipirt
und wirkt hier als aposteriorisches Moment. Oder das Product,
dieses Pferd des Hrn. N., lässt uns den es führenden Kutscher,
obwohl wir diesen nur unvollständig sehen, als Hans oder Peter
appercipiren, d. h. unsere Vorstellungsgruppe von diesem bestimmten
Pferde wird das apriorische, active Moment für die
Apperception einer undeutlich gesehenen Menschen-Gestalt.

134. Hier und durch die ganze Erörterung der Apperception
findet das, was in der Einleitung über den falschen
Dualismus einer apriorischen und einer aposteriorischen Methode,
wie über den Erkenntniss-Process überhaupt gesagt ist, seine
psychologische Begründung. Es gilt auch für die Psychologie,
was für die Naturwissenschaft: aus. nichts wird nichts, und zu
nichts tritt nichts hinzu. Wo sich ein Werden zeigen soll, da
muss etwas zu etwas treten, aus deren Verbindung ein drittes
entstehen kann. Soll also eine Erkenntniss entstehen, so muss
zuvor eine Erkenntniss vorhanden sein, zu der eine andre kommt,
und mit der sie in Process tritt. Zum mindesten muss die seelische
Wirkung in Folge eines sinnlichen Reizes da sein, mit
der eine andre, ähnliche Wirkung sich verbindet, wenn die Seele
etwas schaffen, appercipiren soll. Die primitivsten Apperceptionen
des Säuglings sind freilich dunkel; aber sie folgen den Gesetzen
der klar entwickelten Processe. Apperception definiren wir
demnach als die Bewegung zweier Vorstellungsmassen
gegen einander zur Erzeugung einer Erkenntniss.

135. Wir nannten das apriorische Moment das active, und
das aposteriorische das passive. Dies ist aber nicht nur eben
so relativ, wie überhaupt apriorisch und aposteriorisch; sondern
171sogar mit Rücksicht auf einen und denselben Process ist jedes
der beiden Momente nur relativ activ oder passiv, wie wir ja
auch schon bei der Erzeugung der Empfindung nur relativ die
Seele activ, das Äußere passiv nannten. Denn wie das Äußere
als Reiz vielmehr activ heißen könnte, so ist auch in der Apperception
das hinzutretende, gegebene, aposteriorische Moment das
reizende; es ist dasjenige, welches den Process einleitet. Dies
ist indessen auch wieder ein wenig zuviel gesagt; denn es würde
keinen Process einleiten, wenn es nicht auf das geeignete, empfängliche
Moment stieße. Träfe z. B. die Anschauung eines
Pferdes nicht auf den Art-Begriff Pferd in uns, so würde sie
zunächst in keinen Apperceptions-Process eintreten können, und
das heißt: wir würden diese Anschauung in unserm Erkenntnisskreise
nicht unterzubringen wissen. Wir würden staunend
fragen: was ist das? Namentlich aber je weiter die geistige
Entwicklung schon gediehen ist, um so mehr offenbart sich das,
was die Seele zu dem Apperceptions-Processe hinzubringt, das
apriorische Moment, als das mächtigere, für das Ergebniss
maßgebende, den ganzen Process bestimmende, dem gegenüber
das gegebene, hinzutretende Moment sich als das schwächere
erweist, welches angeeignet, aufgezehrt wird. Was augenblicklich
zu erkennen ist, kann im allgemeinen gegen die Masse
der schon gewonnenen Erkenntnisse nur geringfügig sein; und
wie einflussreich das appercipirende, apriorische Moment ist
kann schon das gewählte Beispiel erläutern. Der Kenner gewinnt
beim Anblick eines Pferdes eine viel bestimmtere, reichere
Erkenntniss von dem gegenwärtigen Tiere, als wer nichts von
Pferden versteht, weil sein Art-Begriff Pferd reichhaltiger ist.
Allerdings beruht die inhaltsvollere Erkenntniss, welche der
Kenner augenblicklich erlangt, nicht bloß auf dem entwickeltern
Denkprocesse, der in seinem Bewusstsein angeregt wird, sondern
auch darauf, dass sein Auge wirklich mehr sieht als der
Unkundige; aber dieses bessere Sehen, die größere Macht seines
Auges ist eben Folge von Übung und Denken. Dieses geübte
Auge gehört mit zu seinem Begriffe; sein Begriff hat sich das
Auge erzogen, hat sich in dasselbe hineingelegt. Auch der
Zoologe erkennt in der Warnehmung des Pferdes mehr als der
Unkundige, obwohl nach anderer Richtung hin als der Kenner.
Er appercipirt den Eindruck, den ihm das Auge gewährt, mit
172seinem zoologischen und anatomisch-physiologischen, auch wohl
pathologischen Begriffe. Auch er denkt nicht bloß mehr, indem
er in seinem Begriffe ein reicheres apriorisches, appercipirendes
Moment hinzubringt; sondern durch seinen Begriff sieht
auch sein Auge mehr. Ebenso verhält es sich mit der Betrachtung
einer Maschine, eines Kunstwerkes u. s. w. Man
erfasst (appercipirt) mehr, geistig und sinnlich, je reicher entwickelt
das appercipirende Moment, der vorgängige Begriff ist.
Unsere Anekdote ferner zeigt uns, dass das, was appercipirt
werden soll, ein Rätsel sein kann, d. h. ein Satz, bei dem man
sich nichts denken kann. Durch die active, appercipirende
Gruppe, wird aus diesem nichts etwas: das Rätsel wird gelöst;
und der andre errät aus der Lösung die Lebensstellung des
Lösenden, d. h. er appercipirt eine gegebene Antwort auf eine
Frage mit seiner Vorstellungsgruppe vom Benehmen und Denken
des Menschen, d. h. mit seiner Menschenkenntniss.

136. Indessen, wenn sich auch das apriorische Moment
gewöhnlich als das kräftigere erweist: immer kann gelegentlich
der Fall eintreten, dass eine neu gemachte Beobachtung unsre
appercipirende Gruppe in dem Apperceptions-Processe selbst
umgestaltet oder bereichert. Ein Kind, das bisher nur viereckige
Tische gesehen hat, erkennt auch wohl den runden (appercipirt
ihn mit seiner Vorstellungsgruppe vom Tische) als einen Tisch;
aber hierdurch ist auch die appercipirende, die active Gruppe
bereichert worden. Zu den bisherigen Erkenntnissen vom Tische
kommt auch die, dass er nicht bloß viereckig, sondern auch rund
sein kann. Auf dem Gebiete der Wissenschaft aber ist es oft
genug vorgekommen, dass irgend eine Entdeckung, indem sie
appercipirt, d. h. in wissenschaftlichen Zusammenhang mit dem
System unserer Erkenntnisse gebracht wurde, dieses ganze System
umgestaltete. Principiell jedoch müssen wir fest halten,
dass zwar jedes der beiden Momente sowohl activ als auch passiv
ist, vorzugsweise aber freilich das apriorische sich auch als das
activere erweist.

137. Betrachten wir den Verlauf der Apperception etwas
näher. Er beginnt, wie gesagt, damit, dass die gegebenen
Sinnes-Reize oder die dadurch gewonnenen Empfindungen die
Erregung auf einen altern Besitz der Seele übertragen, ihn reproduciren.
Sie, welche appercipirt werden sollen, reproduciren
173das, wovon sie appercipirt werden. Der einfachste Fall ist nun
der, wenn das Gegebene die congruente Gruppe reproducirt
und mit dieser dann verschmilzt. Das geschieht bei einfachen
und gleichgültigen Dingen. Die Verschmelzung ist dem Inhalte
nach vollständig; und da nun das reproducirende Moment jene
Intension besitzt, welche dem Bewusstsein dann zukommt, wenn
es unter der unmittelbaren Einwirkung von außen steht, so wird
auch die ganze Verschmelzungsmasse mit dieser Energie bewusst,
und (81) ihr Inhalt wird nicht bloß als vorgestellter, subjectiver,
sondern als objectiver, als Folge gegenwärtiger Warnehmung
gewusst, er wird projicirt, in die Außenwelt als Wirklichkeit
gesetzt. — So einfach ist der Process selten, z. B. schon nicht,
wenn wir Zucker sehen. Hier bietet die Warnehmung durch die
Sinne weniger als die Erinnrung, welche auch den Geschmack
umschließt. Die Verschmelzung des Gesehenen mit dem Erinnerten,
und d. h. die Apperception des erstem durch letzteres,
ergibt also eine Masse, welche mehr als das Gegebene enthält.
Nicht nur die Süße, sondern auch die Fähigkeit, sich in Flüssigkeit
aufzulösen, wird hinzugedacht, und der so bereicherte
Inhalt wird als Object projicirt. Sehen wir auf der Straße
einen Stein, über den wir ruhig hinwegschreiten, an dem wir
gleichgiltig vorübergehn, so ist Gegebenes und Reproducirtes
congruent. Könnten wir uns aber an dem Steine stoßen, müssen
wir ihn umgehen oder mit besonderer Kraft überschreiten oder
überspringen, so ist das Reproducirte an Inhalt reicher. Oder
eben so, wenn der Stein als Ruhebank dient. Dann reproducirt
also das Gegebene nicht bloß die congruente Masse; sondern,
weil diese in einem VerbAnde steht, so überträgt sie die Reproduction
auf den ganzen Verband; das Gegebene steht mit
diesem in Verflechtung. Der objectiven Erkenntniss kommt der
Inhalt des ganzen Verbandes zu Gute. So sehen wir schon
hier unter so einfachen Verhältnissen die ergänzende Kraft der
Apperception. (Vergl. 103.)

138. Es versteht sich demnach auch von selbst, dass der
Apperceptions-Process bald sehr einfach, bald sehr verwickelt
ist. Das heisst:

1) Das zu appercipirende, passive Moment ist bald eine
Warnehmung eines dürftigen, einförmigen Dinges, wie eines
174Steines; bald ein sehr reicher, inhaltsvoller Gegenstand, wie das
Bewegungs-Verhältniss zwischen Erde und Sonne.

2) Das appercipirende, active Moment ist bald eine sehr
armselige Erkenntniss, wie die, welche das gemeine Bewusstsein
mit dem Worte „Stein” ausdrückt; bald ein großer, mit wissenschaftlicher
Schärfe geordneter Kreis genauester Begriffe, wie
das Gebiet der Astronomie.

3) Der Process (die Reaction), welcher bei dem Zusammentreffen
der beiden Momente eintritt, kann einen sehr einfachen,
kurzen Verlauf haben oder kann in vielfältigen Verbindungen
und Trennungen bestehen, die sich allmählich vollziehen, unter
Hemmungen und Widerstreit, und sogar mit Herbeiziehung
andrer Vorstellungsgruppen, welche vermitteln sollen. Beim
Anblick irgend eines der uns gewöhnlich umgebenden Wesen
und Dinge besteht die ganze Apperception in der augenblicklichen
Verschmelzung der Warnehmung mit der Anschauung
oder dem Art-Begriffe, die wir längst in uns tragen. Dagegen
ist das Mittel-Alter und die neuere Zeit bis heute der Process,
in welchem die germanischen und romanischen Völker das
Römer- und Griechentum und das Christentum appercipirten.

139. Nehmen wir noch ein Beispiel mittlerer Art, um es
etwas genauer zu betrachten und so den mannichfachen psychologischen
Verhältnissen, welche während und in der Apperception
vorkommen, näher zu treten. Es begegne uns ein Freund; das
Bild, das unser Auge in diesem Zeitpunkte gewinnt, reproducirt
das Erinnerungsbild (oder die Anschauung) vom Freunde, das wir
in uns tragen, und verschmilzt mit demselben so unmittelbar, dass
letzteres nicht einmal zu Bewusstsein gelangt und sich nur als
Kraft der Verschmelzungs-Masse wirksam erweist (81). Wir
appercipiren das Bild des vor uns stehenden Freundes (oder auch
sein Portrait) durch das Erinnerungsbild; und diese Apperception
vollzieht sich durch augenblickliche Verschmelzung beider Momente
der Apperception. Da das Erinnrungsbild nicht bewusst
wird, so könnte man zweifeln, ob es überhaupt in Action tritt.
Indessen seine Wirksamkeit gibt sich kund in dem Falle, dass
wir eine Veränderung an dem Freunde bemerken: er hat das
Haar, den Bart kürzen lassen oder trägt beides anders als früher;
er hat eine Wunde im Gesicht, er hat einen neuen Rock an
u. s. w. oder das Portrait ist nicht ganz ähnlich. Dies wird
175bemerkt, was nur dadurch möglich ist, dass das Warnehmungsbild
sich an dem Erinnerungsbilde misst, und dass, während sonst
beide einander decken, sie jetzt von einander an einem Punkte
abweichen. An diesem Punkte findet die Verschmelzung ihre
Hemmung. Diese Hemmung hindert die Apperception (das Erkennen)
nicht, sondern wie in der Verschmelzung die Apperception
des Gleichen liegt, so veranlasst die Hemmung die
Apperception des Ungleichen neben dem Identischen.

140. Dieses Messen, Vergleichen zweier Bilder ist nicht
eine bewusste Tat, sondern es ist ein ganz unbewusst und unwillkürlich
eintretendes Ereigniss in der Seele; und nicht nur
das, was hier geschieht, bleibt unbewusst, sondern auch einer
der Factoren in diesem Geschehen, und zwar gerade der activere,
kommt nicht zu Bewusstsein. Nur das Ergebniss wird bewusst:
in dem erstem Falle wird einfach der Freund erkannt, im andern
Falle wird auch noch eine Veränderung an demselben appercipirt
oder bemerkt. So sehen wir hier, wie wir es noch
vielfach finden werden, dass die Apperception ganz ohne Rücksicht
auf Bewusstheit oder Unbewusstheit ihrer Momente vor
sich geht. Auch das Product kann unbewusst bleiben. Schon
in dem Falle, wo wir den Freund augenblicklich erkennen, bleibt
doch eigentlich dieses Erkennen an sich unbewusst, und es sind
sogleich bestimmte einzelne Vorstellungen in Bezug auf den
Freund und unsern Verkehr mit ihm, welche in das Bewusstsein
treten. Nur in dem Falle, wo uns Jemand ganz unerwartet
und gegen Erwartung begegnet, da ist das Erkennen an sich
ein bewusstes Produkt der Apperception, das sich in dem Ausrufe
des Staunens: Karl! Du hier! ausspricht.

141. Nur wo mit dem Erkennen ein Affect verbunden ist,
kommt es zu Bewusstsein. Sobald aber der Affect vorüber ist,
schwindet es auch wieder aus dem Bewusstsein. Wir mögen
noch so sehr vom Anblick eines geliebten Menschen überrascht
gewesen sein: nun sitzt er neben uns, uns gegenüber, wir
plaudern mit einander, und unser Auge ruht auf ihm; aber wir
haben nicht im Bewusstsein: hier sitzt unser Freund, und auch
seines Aussehens werden wir uns während der Unterredung
nicht bewusst. Sondern immerfort verschmilzt, was unsere Sinne
durch Warnehmung des Freundes gewinnen, mit dem altern
Erinnerungsbilde; und dabei bleiben beide Momente unbewusst,
176und auch der ganze Process und selbst der Erfolg bleibt unbewusst.
Nur das besonders hervortretende, das augenblickliche
Wort (aber nicht der dauernde charakteristische Klang seiner
Stimme) wird bewusst, sein Aufstehen und sich Niedersetzen
u. s. w. oder ein plötzliches Bleichwerden, plötzlich eintretende
Schwäche und Mattigkeit der Stimme. Dass wir aber solche
Andrangen bemerken, beweist, dass das Bild des Freundes
ununterbrochen, obwohl unbewusst, doch energisch ist und durch
Vergleichung appercipirend (bemerkend) wirkt gegenüber dem
ganz neuen Bilde, welches uns der Freund in plötzlicher Ändrung
gewährt.

142. Noch entschiedner und deutlicher wird das Erkennen
eine Tat der Apperception in dem Beispiel, welches in den
psychologischen Werken Herbart's und seiner Anhänger als
Musterfall der Apperception mit Vorliebe behandelt wird. Wir
begegnen einem alten Bekannten, einem Schulkameraden, Studiengenossen,
ehemaligen Collegen, nach langer Trennung.
Beim ersten Anblick erkennt man ihn nicht wieder, vielleicht
sogar, obwohl man ihn erwartet hat; oder man glaubt, ihn
beim ersten Blick zu erkennen, wird aber bei genauerm Ansehen
zweifelhaft. Denn das Erinnerungsbild weicht sehr ab von der
jetzigen Warnehmung. Nun sagt man sich wohl stillschweigend
(unbewusst), dass der Freund in der langen Zeit, dass man ihn
nicht gesehen hat, sich notwendig verändert haben müsse, sich
verändert haben könne. Man zieht also die Veränderungen ab;
man denkt sich das Gesicht, das jetzt voll und gebräunt erscheint,
schmächtiger und blässer, man denkt den Bart weg
oder denkt sich den grauen Bart und das graue Haar braun.
Dann stimmt es zur Erinnerung. Aber nicht nur die Warnehmung
wird Gegenstand einer Bearbeitung, auch das Erinnerungsbild
wird es. Denn dieses ist in Schwanken geraten, es
ist unbestimmt geworden, wird nur mehr oder weniger mangelhaft
reproducirt; es wird zunächst falsch ergänzt, und dann der
Irrtum corrigirt, oder es wird richtig ergänzt, aber unter Zweifeln.
Allmählich wird das Erinnerungsbild völlig aufgefrischt,
seine Abweichung von der Warnehmung wird als nicht störend
erklärt, und beide Bilder fallen zusammen als wesenhaft eins und
nur durch die Zeit verschieden. Es wird die Identität und die
177Veränderung appercipirt. In diesem längeren Process werden
einige Phasen bewusst, andre bleiben unbewusst.

143. Hier treten also zwei Bilder, das der Warnehmung
und das der Erinnerung, an einander. Zuerst haben sie den
Trieb zur Verschmelzung, die jedoch durch das Bemerken der
Verschiedenheit gehemmt wird. Oder zuerst wirkt die Hemmung;
also kein Trieb zur Verschmelzung ist da (man erkennt
nicht); aber die Hemmung wird beseitigt, indem das Abweichende
weggedacht, umgebildet wird in einen frühern Zustand. Die
nun eingetretene Neigung zur Verschmelzung und Ruhe wird
aber durch eine neue Bemerkung irgend einer Differenz wieder
gehemmt. Wieder ist die Unruhe beider Bilder gegen einander
da u. s. f., bis endlich alle Hemmungen überwunden sind. In
der endlichen Verschmelzung appercipirt das Erinnerungsbild
die Warnehmung, aber zugleich mit der Anerkennung, dass sich
der Freund verändert habe. Oder aber die Hemmung siegt,
überwindet den Trieb der Verschmelzung, d. h. entweder: man
erkennt den alten Freund nicht wieder, oder auch: man erkennt
nach einigem Schwanken, dass man sich getäuscht und einen
Fremden, der unserm Freunde ähnlich sieht, für diesen genommen
habe.

144. Man sieht aber auch an diesem Falle wohl klar, wie
bei allem Übergewicht, das wir mit Recht der activen Masse
zuschreiben (135), dieses Übergewicht und diese Activität nicht
solche Fälle ausschließt, wo die appercipirende Masse im Processe
umgestaltet oder bereichert wird (136). Es ist denkbar,
dass von einem Gegenstande, den wir lange nicht wargenommen
haben, die Erinnerung unvollständig geworden ist: einige Glieder
der Masse sind völlig verdunkelt, dem Gedächtniss entschwunden.
Ja, die Erinnerung kann veruntreut sein: Glieder ähnlicher
Massen sind ungehörigerweise in eine Masse eingedrungen,
haben dabei vorhandene Elemente verdrängt oder nicht. Die
Warnehmung wird hier ergänzen, beziehungsweise corrigiren.
— Dem schon gedachten Falle des Kindes, welches die Anschauung
des runden Tisches gewinnt, nachdem es nur viereckige
gesehen hatte, entspricht die Tätigkeit des Naturforschers,
der immer neue Arten von Wesen aufsucht oder bekannte Arten
genauer erkennt. Wer aber für bekannte Tatsachen die Gesetze
findet, der muss sogar, indem er jene durch diese appercipirt,
178die appercipirende Masse selbst erst erschaffen, d. h. appercipiren.
Hier ist die appercipirende Masse zugleich das Product
der Apperception. Dasselbe begegnet aber wie dem Schöpfer,
so auch dem Lernenden, nur dass er diesen Process unter begünstigenden
Umständen, welche der Lehrer herbeiführt, vollzieht.
— Also alles Kennen-Lernen wie alles Wiedererkennen
ist Apperception.

145. Wir halten demnach fest: eine Apperception ist sowohl
die wirkliche, erstmalige Schöpfung einer Anschauung oder
eines Begriffes oder die Gewinnung eines Gedankens, als auch
jede Wiederholung, Erinnerung derselben. In Apperceptionen
bewegt sich also unser ganzes theoretisches Leben. Denn so ist
die Natur der Seele, dass jede Wiedererinnerung eine Schöpfung
ist, jede Reproduction eine Production. Wir können jede Erkenntnlss
als eine der Seele eingefügte Kraft ansehen; dieser
Erkenntniss sich erinnern, heißt: diese Kraft betätigen; und
diese Betätigung liegt in der Wiederholung der frühern Production.
Jeder Gedanke ist eine Kraft-Äußerung der Seele,
eine Energie; und will das Bewusstsein einen Gedanken haben,
so muss es ihn (re)produciren. Die Reproduction beruht aber
auf derselben Apperception, durch welche die Production vollzogen
war. (Vom Unterschiede zwischen beiden, der dennoch
besteht, wird später gelegentlich die Rede sein).

146. So viel, um das Wesen der Apperception im allgemeinen
darzulegen. Ehe wir aber weiter gehen, müssen hier
einige principielle Schwierigkeiten gehoben werden, an denen
auch vielleicht der Leser schon Anstoß genommen hat. Es ist
namentlich vor allem notwendig, das Verhältniss der Apperception
zu den psychologischen Elementar-Processen genauer
zu bestimmen und dann auch vielleicht die Wirksamkeit der
Apperception für die Bewusstheit sorgfältig zu erwägen.

147. Wäre es wahr, dass wir, wie man ehemals meinte,
mit den Sinnen Dinge auffassen (oculis, auribus percipimus), so
könnte man leicht sagen: durch Perception bilden sich die
sinnlichen Warnehmungen, durch Apperception die sogenannten
höheren Seelenvermögen. Und so ungefähr hat die alte Psychologie
gesagt. Das ist aber keineswegs wahr. Die Bildung
der sinnlichen Warnehmungen geht nicht bloß von der Tätigkeit
179der Sinne aus, sondern hängt zugleich von mannichfachen Combinationen
ab, also schon auch von rein seelischer Tätigkeit,
die sich neben der ursprünglichen einfachen Reaction auf den
der Seele zugeführten materiellen Reiz geltend macht, wie schon
mehrfach erinnert. Und diese Tätigkeit, welche aus psychischen
Reactionen gegen Nerven-Reizungen Warnehmungen schafft, ist
schon Apperception, wenn auch unbewusste.

148. Noch weniger aber können wir so unterscheiden,
dass wir sagen, die Apperception hebe erst die Perception in
das Bewusstsein; denn Empfindung und Anschauung vollziehen
sich mit Bewusstsein, wenn überhaupt Bewusstsein schon entwickelt
ist, und andrerseits wird oft, wie wir gesehen haben,
unbewusst appercipirt. Beide, Perception und Apperception,
können (wie überhaupt die Seelenwirkungen) die Gunst der Bewusstheit
haben oder nicht haben. So lange überhaupt die
Seele noch ohne Bewusstheit ist, muss sie ohne diese appercipiren;
und nachdem diese erwacht ist, tut sie es immer noch oft
genug ohne solche.

149. Wir können nur in folgender Weise unterscheiden:
perceptio ist Erfassung, Erkenntniss, in logischem Sinne, mit
Rücksicht auf das Ergebniss, auf die Bereicherung des Wissens,
ohne psychologische Rücksicht; Apperception ist die Gesammtheit
derjenigen Bewegungen seelischer Momente, durch
welche sich jenes Ergebniss bildete, und hat ausschließlich psychologischen
Sinn. Alle Apperceptionen vollziehen sich nach den
Gesetzen des psychischen Mechanismus, sind also notwendig,
und weder wahr noch falsch; die Perceptionen, die sich aus
diesen Apperceptionen ergeben, können als wahr oder falsch
befunden werden, indem sie, gleichgültig wie sie psychologisch
entstanden sind, der Prüfung (der bloß logischen oder auch der
sachlichen) unterworfen werden.

150. Apperception verhält sich demnach zu den dargelegten
Grundprocessen nur so, dass sie diejenige Gesammtwirkung von
abstracten Grundprocessen bezeichnet, durch welche ein concretes
psychisches Ergebniss erfolgte. Denn wenn solch ein
Ergebniss schon auf der einfachsten Verschmelzung beruhen
kann, so kann es doch auch gelegentlich auf sehr vielfachen
Bewegungen seelischer Momente beruhen, auf vielfachen Verschmelzungen
und Verflechtungen und Lösungen vorhandener
180Verschmelzungen. Sowohl jener einfachste, wie dieser verwickelte
Vorgang ist, als Einheit gedacht, insofern ihm ein einheitliches
Ergebniss, eine Perception verdankt wird, eine Apperception.
Dies mag noch durch ein Gleichniss verdeutlicht werden. Die
Perception ist eine geistige Handlung, wie es körperliche Handlungen
gibt, wie ich z. B. ein Gewicht erfasse und hebe. Wenn
ich nun aber angebe, durch welche Muskel- und Nervenbewegung
u. s. w. dieses Heben des Gewichts vollzogen ist, so habe
ich durch diese physiologische Betrachtung das geleistet, was
die Darlegung der Apperception für die Perception zu leisten
hat. Denn wie die handgreifliche Aneignung eines Gegenstandes
auf Körperbewegung, so beruht das geistige Erfassen
eines Gegenstandes, die Perception, auf Vorstellungs-Bewegungen,
auf Apperception.

151. Man kann also in diesem Sinne nicht sagen, dass
zur Perception die Apperception hinzutrete, oder dass sie dieselbe
ergänze und begleite, wenn man nicht etwa unter Perception
nur die Production der primärsten Seelenregungen in
Folge äußerer Reize verstehen will, welche Production noch
nicht einmal eine bestimmte Empfindung, wie eine gefärbte
Fläche, einen Klang, ergeben würde.

152. Demnach bezeichnet Apperception ganz allgemein nur
die theoretische, vorstellende, erkennende Tätigkeit der Seele,
also die Perception, aber nicht von Seiten des Erfolgs, sondern
des innern Geschehens oder Tuns selbst. Sie ist also auch
nicht ein besonderer seelischer Process unter andern, sondern,
ganz allgemein, der Inbegriff der seelischen Processe, auf denen
die jedesmalige Erkenntniss beruht. Man muss also sagen, dass,
abgesehen vom Fühlen und Begehren, Apperception die Aufgabe
der Psychologie bezeichnet. Insofern aber Gefühle und
Begehrungen auch Hebel der Erkenntniss werden können, müssen
auch sie bei der Apperceptionslehre beachtet werden. Auch
versteht es sich von selbst, dass, da nicht bloß äußere Gegenstände,
sondern auch innere (Vorstellungen, Gefühle, Bestrebungen)
betrachtet und erkannt, d. h. percipirt werden,, auch
diesen innern Perceptionen (oder Perceptionen des Innern, schon
Seelischen) Apperceptionen, d. h. die seelischen Tätigkeiten, zu
Grunde liegen. Erkenntniss des Äußern und seiner selbst ruht
auf Apperception.181

153. Oder umgekehrt: man muss auch nicht glauben, dass
Perception die Auffassung des Äußern bedeute, Apperception
aber nur die erneute Auffassung und weitere Bearbeitung der
Perception, d. h. des schon geistig Erfassten. Denn auch die
geistige Erfassung des Äußern ist eine Arbeit mit seelischen,
innern Elementen. Alles Empfinden und Warnehmen des Äußern
ist ein Verstehen und Deuten der primären Seelenregungen.
Diese sind die eigentlichen Stoffe, an denen sich die appercipirende
Tätigkeit vollzieht, aus welcher die Perception, die
Erkenntniss des äußern oder innern Objects, als Ergebniss erfolgt.
Also nur diese primärsten Reactionen der Seele, die an
sich noch gar keine Erkenntniss, auch nicht die niedrigste, enthalten,
die gar nicht mehr sind als der Glanz, den wir in Folge
eines Druckes auf den Gesichtsnerv fühlen, oder als das sogenannte
Ohrenklingen, ohne jegliche Unterscheidung von Subjectivem
und Objectivem — nur diese bilden den Gegensatz zur
Apperception; sie sind der Stoff, aus denen die Apperception
ein Perceptum bildet.

154. Die Lehre von der Apperception ist Erkenntnisslehre,
insofern diese bloß eine psychologische Aufgabe ist; und dies
ist sie, insofern es sich, abgesehen von dem bestimmten Objecte
der Erkenntniss und von allen dabei vorausgetetzten Kenntnissen
und metaphysischen und logischen Kategorien lediglich
um diejenigen Bedingungen zu einer Erkenntniss handelt, welche
aus der Natur der theoretischen Tätigkeit der Seele folgen.

155. In keiner Weise also ist die Apperception ein Process
außer und neben den schon betrachteten psychologischen
Processen, und ist namentlich nicht weder etwa Ausfluss einer
besondern Fähigkeit der Seele, noch auch ein besondres Eingreifen
ihrerseits höherer Art in den niederen Mechanismus der
Vorstellungen. Dieser Punkt ist zu wichtig, als dass ich ihn
nicht weiter zu erörtern hätte, obwohl es hier nicht meine Aufgaben
sein kann, eine vollständige Psychologie oder auch nur
eine volle Theorie der Vorstellungen zu geben.

156. Wie verhält es sich mit der Existenz der Vorstellungen?
Sind sie nichts als vorübergehende Reactionen der Seele
gegen die Reize der Außenwelt, welche verschwinden mit diesen
Reizen, oder wenigstens, nachdem die durch den Reiz gestörte
Ruhe der Seele wieder hergestellt ist? Schon die unleugbare,
182in jedem Augenblicke zu bestätigende Tatsache der Reproduction
durch Association scheint entschieden dagegen zu sprechen.
Wenigstens nötigt, um beim einfachsten Falle zu bleiben, der
Ablauf einer Reihe associirter Vorstellungen, jene Auffassung
dahin zu gestalten, dass wir sagen: durch die bloße entsprechende
Reaction gegen den von außen kommenden Reiz gelangt die
Seele noch nicht zur Ruhe; sondern sie muss noch eine Reihe
anderer Reactionen durchlaufen, ehe sie zur Ruhe gelangt, obwohl
sie zu diesen Reactionen nicht von außen her veranlasst
ist, sondern bloß, weil früher einmal je zwei dieser Reactionen
mit einander in Verbindung geraten waren. Ohne zu fragen,
ob irgendwie in der Natur dasselbe stattfindet, scheint doch
mit dem Gesagten anerkannt, dass jede Reaction, einmal von
außen her veranlasst, eine bestimmte Selbständigkeit in der Seele
behalte, eine Existenz in irgend einer Form und von einer gewissen
Macht, sich in der Seele zu betätigen. Und bei dieser
Auffassung wollen wir stehn bleiben. Erinnerung soll nichts
anderes sein als eine bestimmte Reaction der Seele, zu deren
Ausführung sie nicht von außen her, sondern bloß durch andre
Reactionen gezwungen werden kann; Seelenvorgänge können
durch Seelenvorgänge hervorgerufen werden nach bestimmten
Gesetzen, gemäß der Natur der Seele. Hiernach aber ist doch
offenbar die Seele ihren eigenen Reactionen unterworfen; d. h.
wie die Seele agiren soll, wird entweder durch ihre Begegnung
mit der Außenwelt oder aber durch die Verbindung ihrer
Reactionen unter einander bestimmt, und also haben diese
Reactionen, die wir zum wichtigsten Teil Vorstellungen nennen,
der Seele gegenüber gewissermaßen eine selbständige Existenz,
Wirklichkeit und Wirksamkeit. Die Seele wird beherscht von
ihren Reactionen. Oft genug bekommen wir die Gewalt der
Vorstellungen zu fühlen. Gegen unsern Willen tritt eine Vorstellung
in unser Bewusstsein, gegen unsern Willen müssen wir
gestatten, dass eine gewisse Reihe von Gedanken, eine Erzählung,
eine Melodie ihren vollen Ablauf nehme (117); gegen unsern
Willen fehlt uns oft auch eine Vorstellung, ein Gedanke. Inwiefern
hierbei die Gehirnfasern mitwirkend sein mögen, ob
nicht vielleicht alle Gesetze des Vorstellungsverlaufs, die wir
hier als Gesetze der Reactionen der Seele bezeichnen, bloß
183Gesetze der Sympathie oder Leitung der Hirnfasern sind, ist für
unsre Frage völlig gleichgültig.

157. Wenn nun aber auch die Vorstellungen ihre Selbständigkeit
haben und eine Welt seelischer Wesen oder Kräfte
bilden, die auf einander wirken: so sind sie andrerseits dennoch
nicht so zu hypostasiren, als wäre die Seele bloß der Raum oder
Boden, in oder auf welchem sie mit eigenem Stoff und aus
eigener Kraft sich bewegen und wirken. Sie sind doch immer
bloße Actionen eines Agens, welches wir Seele nennen, oder
Eigenschaften derselben. Denn wenn es gestattet ist, zu sagen:
„süß” ist eine Eigenschaft des Zuckers, so ist auch die Vorstellung
„süß” eine Eigenschaft der Seele. Die Ereignisse zwischen
oder mit den Vorstellungen sind doch nur Ereignisse, denen die
Seele unterliegt.

158. Kurz: man hüte sich, die Seele und die Vorstellungen
außer einander zu denken, so dass es nicht nur Verhältnisse
zwischen den Vorstellungen gibt, sondern außerdem auch noch
ein Verhältniss zwischen der Seele und den Vorstellungen angenommen
werden dürfte. Die Vorstellungen haben nicht eine
Substanz und ein Dasein für sich, dem die Seele nun erst das
Gewusst-Werden hinzufügt. Man kann nicht sagen, die Seele
wisse ihre Vorstellungen; sondern die Vorstellungen (mit den
Warnehmungen, Gefühlen und Begehrungen) sind eben das
Wissen selbst der Seele. (Etwas andres ist es, wenn wir sagen:
die Vorstellungen kommen zu Bewusstsein, werden bewusst,
bleiben unbewusst; denn soeben nahmen wir „Wissen” im Sinne
seelischer Tätigkeit und Betätigung überhaupt, so dass wir allerdings
in diesem Sinne von unbewusstem Wissen reden müssten,
weil es unbewusste Vorstellungen gibt.)

159. Wenn nicht Rot und Blau in der Außenwelt mit
einander gemischt werden, oder wenn nicht die Reizungen des
Rot und Blau noch in dem Nervengebiet sich mischen, wenn
also die Seele die getrennten Reize des Roten und Blauen erhält,
so bildet sie auch die gesonderten Vorstellungen Rot und
Blau, und diese Vorstellungen mischen sich nicht. Was wir
Verschmelzung von Vorstellungen nannten, ist etwas ganz anderes
als solche Mischung. Identische Reactionen verschmelzen;
d. h., genau ausgedrückt, Reactionen oder Actionen der Seele,
deren Inhalt derselbe ist, ergeben nur eine Vorstellung wiederholt
184erzeugt, also denselben Vorstellungs-Inhalt in mehreren
Vorstellungs-Acten. Reactionen verschiedenen Inhalts können
nicht verschmelzen. Nur wo wir bemerken, dass verschiedene
Reize, welche verschiedene Reactionen der Seele erzeugen sollten,
dennoch nur eine und dieselbe Beantwortung durch die Seele
irgend eines Menschen finden, da reden wir uneigentlich von
Verschmelzung; wesentlich geht hierbei eine Ungenauigkeit oder
Untreue vor. Verschiedenen Reizen ist die Seele mit gleichen
Reactionen entgegengetreten. — Wenn wir ferner sagen, zwei
Vorstellungen hemmen einander: so heißt das, die Seele könne
nicht zwei Reactionen gleichzeitig vollführen, namentlich nicht
zu Bewusstsein bringen, könne sie nicht für das Bewusstsein
wirksam sein lassen. — Und wenn wir sagen, eine Verschmelzung
werde gehemmt, so heißt das, dass die Seele gezwungen
sei, zwei Vorstellungsgruppen oder Warnehmungsverbände nach
allen darin enthaltenen Momenten gesondert zu halten, obwohl die
meisten Momente beider identisch an Inhalt sind und mit einem
Acte erzeugt werden könnten, bloß weil das eine und das andre
Moment der beiden Gruppen verschieden von einander sind.
Die beiden Verbände sind dann verflochten, d. h. die Seele
muss Identisches doppelt oder mehrfach setzen, weil es dasselbe
bald mit diesem bald mit jenem verbinden muss.

160. Wenn wir also die Vorstellungen als wesentliche
Betätigung der Seele annehmen müssen, wäre es wenig begreiflich,
wie dieselben nun wiederum auf das Wesen der Seele
sollten zurückwirken können, um aus diesem neue Wirkungen
hervorzulocken. Wenn wir auch einen niederen und einen
höheren Verlauf von Seelenbewegungen unterscheiden wollen:
so kann der Unterschied nicht darin bestehen, dass etwa zuerst
die einfachen Empfindungen, die ersten Erzeugnisse der Seele,
mechanisch entstehen und, einmal entstanden, einem gesetzlichen
Mechanismus anheimfallen und gewissen Verknüpfungen und
Trennungen, Vergessen und Wiedererinnern unterliegen, ohne
dass die Seele bei all dem beteiligt wäre; dann aber durch ein
eignes Eingreifen der Seele aus diesem mechanischen Treiben
die höheren Tätigkeiten hervorgingen, welche also als eine neue
Form seelischer Wirksamkeit anzusehen wären, keineswegs aber
als bloß mechanische Entwicklung jenes ersten Mechanismus
gelten könnten. So darf jener Unterschied nicht gedacht werden.
185Die Seele ist nicht eine Zuschauerin der Bewegung der Vorstellungen,
welche sie teils sich ruhig vollziehen ließe, teils aber
durch eine eigne Action leitete, indem sie auch noch neue Erzeugnisse
hinzufügte. Vielmehr sind ihre Vorstellungen eben ihr
Schauen, welches von ihr nicht wiederum beschaut werden
kann. — Man kann also nicht sagen, die Bildung der Empfindungen
und niedern Anschauungen sei Perception, Apperception
aber sei die Tätigkeit der Seele in Folge von Reizen höherer
Ordnung, nämlich von selbst schon innern Reizen, von Reizungen
durch innere Zustände. Denn weder lässt sich überhaupt
so scheiden, noch auch darf die Apperception von der Bildung
der einfachsten sinnlichen Warnehmungen ausgeschlossen werden.

161. Wenn wir der Seele ein Gebiet von Freiheit und
eigenster Schöpfung zuschreiben wollen, so darf dasselbe nicht
außerhalb des psychischen Mechanismus als eine höhere Region
gedacht werden. Wie wir die Natur beherschen, indem wir
ihrem Mechanismus gehorsamst folgen: so kann auch die Seele
nicht gegen und nicht außerhalb ihres Mechanismus Herrin ihrer
selbst sein.

162. Ob wir die höhern Gestalten seelischer Schöpferkraft
aus den niedern Ereignissen und Zuständen in der Seele werden
vollständig „ableiten” können: das darf ruhig dahingestellt bleiben.
Wir müssen aber, um den Sinn dieser Forderung nicht
zu verkennen, wohl beachten, dass wir auch in der Physik und
Chemie und in allen niederen Seelen-Erzeugnissen den Inhalt
der Wirkung nicht aus den Ursachen „ableiten” können, weil
er auch „in der Tat nicht in ihnen liegt”, wir vielmehr überall
die Wirkung an die Ursachen „nur anknüpfen können, nachdem
uns die Erfahrung gelehrt hat, dass eben diese Form” der Wirklichkeit
es ist, welche auf jene Ursachen folgt. Wir können
auch nicht die Empfindung eines Tones von den Luftwellen und
Körperbewegungen ableiten, nicht das Lachen vom Kitzel, das
Weinen vom Schlage; sondern nur gemäß der Erfahrung knüpfen
wir dieses an jenes an.

163. Wie aus einfachem Stoffverbindungen die zusammengesetztern
(organischen)Verbindungen entstehen, ohne dass der
Schöpfer in den mechanischen Atomen-Wechsel neu eingriffe;
so haben wir allerdings auch anzuerkennen, insoweit die Erfahrung
es lehrt, dass aus gegebenen Vorstellungen neue entstehen;
186und Apperception ist eben überall da, wo aus den
ursprünglichen Erfolgen der Sinnes-Reize höhere seelische Gebilde
geschaffen werden; nur ist sie nicht ein Übergreifen über
den Mechanismus, sondern sie ist der Mechanismus selbst.

164. Die Psychologie ist durchaus Erfahrungswissenschaft,
und ihre Aufgabe kann nicht weiter reichen als bis dahin:
die Bedingungen festzustellen, unter denen erfahrungsmäßig ein
bestimmter Erfolg eintritt. Weiter reicht auch die empirische
Naturwissenschaft nicht, und jeder Schritt weiter nach causaler
oder teleologischer Richtung gehört in die Metaphysik und in
die Religionsphilosophie.

165. Erfahrung ist es, welche uns lehrt, unter welchen
Bedingungen die Seele Empfindungen erzeugt, wie sie diese
combinirt zu Anschauungen von äußern Dingen; und wiederum
nur Erfahrung ist es, welche uns lehrt, dass die Seele bei solchen
Anschauungen nicht stehn bleibt, sondern durch Vergleichung
derselben unter einander und durch Beziehung auf einander
neue Vorstellungen bildet, die sie nicht unmittelbar den
Sinnen verdankt, und weiter und immer weiter gemäß einem
ihr inwohnenden Drange nach Erkenntniss und Wahrheit durch
Analyse und Combination Begriffe bildet, welche sie den Objecten
als Realität unterlegt, obwohl sie dieselben unmittelbar
und sinnlich niemals warnimmt, nämlich Kategorien wie Atom
und Kraft u. s. w. Das sind apriorische Schöpfungen — apriorisch
darum, weil die Seele sie nicht den Warnehmungen entnimmt,
sondern eigenster Natur gemäß bildet unter gewissen
Umständen und sie dennoch der Außenwelt unterschiebt, weil
ihr nur so das Äußere Wirklichkeit und Wahrheit haben zu
können scheint. Die Bedingungen, unter denen sie so aus sich
schöpft und schafft, sind darzulegen; warum und wie sie das
gerade so und nicht anders tut, bleibt außerhalb der Erfahrungs-Seelenlehre.

Die Erfahrung ist es, welche uns lehrt, dass die Seele jede
Erkenntniss zur Gewinnung neuer Erkenntnisse nach der Breite
und nach der Tiefe der Forschung verwertet. Jede ihrer
Schöpfungen ist ihr eine neue Kraft, und so dehnt sich ihr
Wissen aus über immer weitere und weitere Kreise von Objecten,
dringt sie immer tiefer in die Verhältnisse der Ursachen
und schafft Begriffe, die sich immer mehr von der ursprünglichen
187Warnehmung entfernen, immer geistiger, idealer werden.
Diese Bereicherung ihrer Kraft, dieser allseitige Fortschritt
ihres Wissens geschieht nach allgemeinen Gesetzen — Gesetzen
der Apperception, des Wachstums der Seele, seelischer Aneignung
und Schöpfung.

166. Es scheint aber, als wäre das doch nicht richtig,
wenn wir behaupteten, Apperception sei nicht mehr als die Gesammtheit
der elementaren Processe, welche bei einer Erkenntniss,
bei der Bildung eines Objects u. s. w. vorkommen. Man
hat folgendes zu überlegen. Gleiches und Verschiedenes vorstellen
(im Bewusstsein tragen) und von der Gleichheit und
Verschiedenheit des Vorgestellten wissen: ist das dasselbe und
mit einander gegeben? Ist ein Wechsel im Vorstellen auch
Vorstellen eines Wechsels? Wir hatten im Vorstehenden die
bejahende Antwort vorausgesetzt; aber ob mit Recht, kann
zweifelhaft sein. Wenn das gegenwärtige Bild des Freundes
verschieden ist vom erinnerten, so ergibt das zunächst zwei
verschiedene Vorstellungen; folgt daraus aber auch sogleich die
Vorstellung ihrer Verschiedenheit? Das hatten wir allerdings
angenommen. Nicht bloß verschmilzt das neue Bild des unveränderten
Freundes mit dem alten, nicht bloß tritt solche
Verschmelzung bei dem veränderten Freunde erst nach einer
Hemmung in dem veränderten Teile ein; sondern seine einfache
Verschmelzung hat auch die Erkennung als Apperceptions-Product
zur Folge. Die gestörte Verschmelzung hat zwar ebenfalls
diesen Erfolg; aber jene hat ihn unter stiller Anerkennung des
Gleichen, diese mit bewusster, ich möchte sagen: lauter, Anerkennung
auch des Ungleichen. So liegt also in Apperception
doch mehr als ein bloß psycho-mechanischer Process der Verschmelzung
ohne oder mit Unterbrechung. Woher kommt dieses
Mehr? Die elementaren Processe scheinen nur Veranlassungen
zu sein zur Bildung von Erkenntnissen, indem sie durch Apperception
gedeutet und verwertet werden.

167. Zunächst erinnere ich wiederholt daran, dass die
Vorstellungen in keiner Weise der Seele gegenüber stehen.
Die Vorstellungen bewegen sich nicht in der Seele, wie Körper
in einem umfassenden Raume; sondern die Vorgänge zwischen
den Vorstellungen sind eine Betätigung der Seele, wie körperliche
Vorgänge Betätigungen der Materie. Das versteht sich von selbst,
188wenn man annimmt, dass die Seele eben nur Gehirn-Materie ist.
Aber auch wenn die Seele ein immaterielles Wesen ist, kann
nicht gedacht werden, dass sie ein Organ habe, mittelst dessen
sie ihre eigenen Vorstellungen beobachtet und vergleicht. Denn
dann müsste sie wieder ein Organ haben, um diese Beobachtung
und Vergleichung wieder zu beobachten, und so ins Endlose.
So überflüssig, weil selbstverständlich, es ist, die chemische Verbindung
von Wasser- und Sauerstoff noch besonders eine materielle
Bewegung zu nennen: so selbstverständlich ist es, und
so überflüssig sollte es ein, ausdrücklich zu bemerken, dass Verschmelzung
zweier Vorstellungen eine seelenhafte Verschmelzung
ist. Damit nun aus jener Mischung Wasser werde, tritt nicht
erst die Materie wirkend hinzu, noch auch wirken jene Stoffe
auf die Materie; und eben so tritt zur Verschmelzung, damit
daraus eine Anerkennung des Gleichen werde, nicht erst noch
die Seele wirksam hinzu, noch auch wirkt dieselbe auf die Seele.
Sie ist schlechthin die seelische Wirkung, wie jene Mischung
ein körperlicher Vorgang.

168. In der Apperception liegt nicht ein Mehr gegen die
Verschmelzung; sondern in dieser liegt in Verhältniss zum wirklichen
Vorgang ein Weniger, ein Mangel. Dieser Terminus bezeichnet
nicht den vollen Vorgang, sondern ist eine Abstraction.
Auch die chemische Formel für das Eiweiß, das Fleisch ist eine
Abstraction. Das Fleisch ist in Wirklichkeit mehr, als jene Formel
aussagt, und dieses Mehr rührt von dem organischen Zusammenhange
her, in welchem das Fleisch steht, von der organischen
Form. Der Chemiker abstrahirt ganz davon, dass das Fleisch
aus contractilen Fasern besteht und einem organischen Leibe
angehört. So wird auch durch Verschmelzung und durch Hemmung
derselben nicht alles ausgedrückt, was in den betreffenden
Vorgängen liegt. Dieses Verschwiegene ist in den verschiedenen
Fällen, in denen die Verschmelzung auftritt, verschieden je nach
dem Zusammenhange des Vorganges mit andern Vorgängen.

169. Wer von Newton redend sagen wollte: der Anblick
des vom Baume zur Erde fallenden Apfels sei mit der Vorstellung
von der Bewegung der Erde um die Sonne in ihm verschmolzen,
und so habe er das Gesetz der Attraction appercipirt:
der würde wohl stark fühlen lassen, welch ein Abstand
zwischen Verschmelzung und Apperception besteht; wie viel
189mehr in dieser als in jener liegt; oder vielmehr, wie abstract
der Terminus Verschmelzung ist. Wir brauchen aber nicht mit
solchen Abstractionen, um ihre Dürftigkeit zu erkennen, unmittelbar
an weltbewegende Gedanken zu gehen, sondern können
bei einfachern und einfachsten Fällen stehn bleiben.

170. Wie einfach auch verhältnissmäßig der oben (139)
betrachtete Fall war, er ist doch schon nicht ohne Verwicklung.
Nehmen wir ein Kind in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres.
Es erkennt auch wieder, Personen und Dinge. Was
heißt nun das, nach seinem Inhalte genommen: Wiedererkennen?
Es scheint, als müsste man antworten: wiedererkennen heißt,
eine gegenwärtige Warnehmung mit einer früher gehabten, jetzt
erinnerten Warnehmung vergleichen und dabei die völlige oder
wesentliche Gleichheit beider in ihrem Inhalte anerkennen, während
man ihr zeitliches Auftreten aus einander hält. Und wie
kommen wir zur Vorstellung der Gleichheit zweier Vorstellungen?
Hierauf, so scheint es, müsste man antworten: indem die Seele
von einer dieser Vorstellungen zur andern übergeht, und indem
sie diese ihre Tätigkeit des Übergehens von einer Vorstellung
oder Warnehmung zur andern warnimmt, ohne eine Änderung
in dem Ergebnisse zu bemerken, da sie also die Inhalte beider
Vorstellungen nicht vor der Verschmelzung zu einem Inhalte
bewaren kann; so erlangt sie die Vorstellung der Gleichheit.
Wer aber wird glauben, dass das hier Angegebene wirklich
von der kindlichen Seele vollzogen werde?

171. Es wird aber, erstlich, von Niemandes, auch keines
Erwachsenen Seele vollzogen. Wie? Das sollte in uns vorgehen,
dass die Seele ihre Warnehmungen warnehme, von der
einen zur andern herüber und hinüber gehe, auch dieses ihr
Wandern warnehme, und dann wiederum das warnehme, dass
durch dieses Wandern ihr Inhalt sich nicht ändere? Das sollte
der Weg zur Vorstellung der Gleichheit sein? Am Ende
müsste dann wohl von der Seele auch diese Warnehmung des
bei ihrer Wanderung Veränderten oder nicht Veränderten noch
einmal bemerkt werden: wäre das nicht ein progressus ad infinitum
(167), bei dem der Seele immer erst ein Bemerken
durch Bemerken gesagt werden müsste? — Müssen wir der
Seele doch endlich die Kraft des Bemerkens zugestehen, so
wollen wir sie ihr doch sogleich einräumen und wollen sagen:
190indem die Seele zwei gleiche Vorstellungen hat, bemerke sie
zugleich, dass sie Gleiches vorstelle. Indessen die Sache liegt
noch anders.

172. Wir müssen uns zweitens davor hüten, unser abstractes,
mehr oder weniger logisch gestaltetes Bewusstsein in
die Seele des Kindes und des Ungebildeten hineinzutragen; und
müssen uns noch mehr davor hüten, psychologische Collectivbegriffe,
mit denen wir zusammengesetzte und verwickelte psychische
Vorgänge als Einheiten bezeichnen, logisch zu analysiren
und diese Analyse, wie wenn sie die psychologische Auffassung
jener Vorgänge wäre, in die Seele zu verlegen. Es
wird z. B. Niemand leugnen, dass die Beantwortung einer Frage
mit Ja oder Nein eine echt logische Tat sein kann, nämlich die
Bildung eines positiven oder negativen Urteils, obenein in abgekürzter
Form. Unbedingt sind die Ja und Nein auf sokratische
Fragen in den platonischen Dialogen solche rein logische
Taten. Aber, beobachtet das Kind! wie das Ja oder Nein sagt.
Es tut dies schon im zweiten Lebensjahre; aber wie ? nicht
bloß mit dem Munde, nein, mit dem ganzen Gesichte, dem
ganzen Kopfe, mit Händen und Füßen. Nicht eine Tat der
Logik ist sein Ja und Nein, sondern eine Tat seines Begehrens.
Zustimmen, Bejahen, Verneinen — wie blass, wie abstract, wie
logisch! Das Kind kennt sie noch nicht. Was es kennt, ist
verlangen oder abwehren, erfreut und zufrieden sein, zulächeln
oder sich stemmen und weinen. *)19 So ist auch das Wiedererkennen
des Kindes noch fern von dem Urteil: das jetzt wargenommene
Object ist mit dem früher wargenommenen gleich
und selbig. Ja, bei uns nicht minder ist es nur in den seltensten
Fällen von dieser Form abstracter Bewusstheit begleitet,
ist aber immer etwas andres als dieses Bewusstsein. Das Kind
zumal besitzt noch für lange Zeit nicht bloß nicht das Abstractum
„Gleichheit”; sondern auch der Begriff „gleich” fehlt
ihm noch, wenn es schon längst wiedererkennt und Gleiches
als gleich ansieht. Wenn es die Mama, den Papa wiedersieht,
191was geht da in seinem Bewusstsein vor? Wie mir scheint,
nicht mehr als folgendes: Es bildet durch Warnehmung eine
Anschauung von der Mutter oder dem Vater, so vollständig, so
genau, als es eben kann, je nach der Stufe der Entwickelung
seines Gesichtssinnes. Die so gebildete Anschauung weckt aber
zugleich die mit ihr associirten Anschauungen, und es tritt eine
kürzere oder längere Reihe in das Bewusstsein: auf den Arm
genommen werden, tänzeln, saugen, oder ähnlich. In Folge
dieses theoretischen Vorganges erwacht auch das Lustgefühl,
welches früher mit diesen erinnerten Situationen verbunden war,
und das Begehren nach Erneuerung derselben. So streckt das
Kind die Ärmchen aus den Eltern entgegen (ohne Absicht,
durch Reflexbewegung, wovon später); dazu das freudestrahlende
Gesichtchen und das Strampeln; alles dies ist die Erwartung,
dass die erweckte Vorstellungsreihe wiederum verwirklicht werde,
und alles dies eben ist Wiedererkennung. Denn diese ist nicht
eine besondere Action des Bewusstseins, die zu dem Erwähnten
noch außerdem hinzutrete, sondern ist nur eine zusammenfassende
Benennung mehrfacher psychischer und leiblicher Bewegung und
wird eine allgemeine psychologische Kategorie, die alles hier
Erwähnte als einen Fall unter sich befasst. Das Kind hat also
hier wirklich appercipirt; es hat den Anblick der Eltern, der
lediglich durch den Gesichtssinn erfolgte und zunächst lediglich
das enthielt, was das Auge bieten konnte, oder genauer, wozu
das Auge die Seele veranlassen konnte — es hat dieses Wenige
durch eine ganze Reihe erinnerter Vorstellungen und Gefühle
neben erregtem Begehren appercipirt, dadurch ergänzt und
zu einem bestimmten Object gestaltet und so die Tat der
Wiedererkennung der Eltern vollzogen.

173. Auch bei uns heißt ja das Wiedererkennen einer
geliebten Person nicht: das Bewusstsein haben, die gegenwärtige
Person sei die von uns gekannte und geliebte. Sondern der
ganze Zustand, in den unser Gemüt durch die Gegenwart derselben
gerät, die Befriedigung, die freudige Erregung, die uns
ihr leiblicher Anblick gewährt, der Genuss ihrer Reden, die
Teilnahme an ihrem Glücke, kurz, die Erweiterung und Erhöhung
unseres Seins durch ihre Nähe, das ist es, was wir sehr kalt
ein Wiedererkennen heißen. Aber nicht eine theoretische That,
eine Erkenntniss ist es, die wir üben, sondern eine Lebensbetätigung
192ist es, eine Gestaltung unseres Seins. Und das ist:
das Bild des Freundes appercipiren. Keine Umarmung, kein
ans Herz drücken ist mehr als die Apperception eines Bildes;
aber solche Apperception enthält mehr als die Verschmelzung
eines gegenwärtigen und eines erinnerten Bildes. In solcher
Apperception, mit welcher das Kind die Wiedererkennung der
Eltern vollzieht, mit welcher wir Geliebten begegnen, ist also
weit, weit mehr gegeben, als durch den mechanischen Process
der Verschmelzung ausgedrückt wird. Die Verschmelzung findet
wirklich statt, und auf ihr beruht die Apperception; aber mit
der Verschmelzung ist noch vieles andre gegeben, was wir
unklar in dem Terminus Apperception andeuten. — Nun noch
ein Punkt, der tiefst liegende.

174. Wir sagten oben (69—72), dass die Bewusstheit der
Vorstelungen (das Bewusstsein) eine Tat der Seele sei, eine
Zutat zur Bildung der Vorstellungen nach ihrem Inhalte, ihrer
Substanz. Diese Tat besteht, wie hier ergänzt werden mag,
darin, dass die Vorstellung als solche gesetzt wird, als vorgestellt
anerkannt wird. — Bewusstsein sagt also dies aus,
dass nicht bloß die Seele durch äußere Reize zu einer solchen
Reaction veranlasst wird, welche den Inhalt einer Warnehmung
ausmacht, sondern auch, dass dieser wargenommene Inhalt als
solcher gesetzt wird; d. h. die Vorstellung wird auf die vorstellende
Seele als auf ihr Princip und auf das Äußere als
Aequivalent des Äußern bezogen. Diese Beziehung wird ausgeführt
dadurch, dass die Vorstellung zu anderen Vorstellungen
in Beziehung gesetzt wird.

175. Man hat gesagt, eine Vorstellung sei entweder bewusst
oder nicht bewusst, und man hat damit Grade der Bewusstheit
ausgeschlossen. Das wäre ganz richtig bei einer Ansicht,
wonach das Bewusstsein gewissermaßen eine Beleuchtung
wäre, die sich über die einzelne Vorstellung von der Seele her
ergösse. Dann müsste man sagen, dass das psychische Licht,
welches die Vorstellungen erhellt, nicht wie das materielle Licht
Grade der Helligkeit zulasse, sondern eine Vorstellung entweder
treffe oder nicht. Aber man muss solche Ansicht von einem
Licht in der Seele, welches die Vorstellungen beleuchtet, oder
von einem hellen Punkte in der Seele, in welchem sich eine
Vorstellung befinden kann, völlig fahren lassen. Bewusstheit
193ist vielmehr Klarheit, und diese hat Grade. Je mannichfacher
die Beziehungen sind, in welche eine Vorstellung versetzt
wird, um so bewusster wird diese. In Beziehung aber
gerät eine Vorstellung oder Warnehmung durch ihre Apperception.
Daher ist es wirklich diese, welche Bewusstheit schafft.
Sie tut dies aber nicht als eine besondere bewusstsein-schaffende
Macht; sondern die Folge der Apperceptions-Processe ist Bewusstsein,
weil diese Processe Verbindungen und Beziehungen
der Vorstellungen stiften, und in diesen Beziehungen eben selbst
Bewusstsein besteht.

176. Nun gibt es allerdings, wie oft bemerkt, unbewusste
Apperceptionen. Dies sind nämlich solche, welche nicht in Beziehung
gesetzt sind zu andern Apperceptionen, und welche
demnach nicht appercipirt sind.

177. Daher kommt es erstlich, dass ohne eine gewisse
Menge von Vorstellungen Bewusstsein unmöglich ist, und dass
folglich das Kind die ersten Schritte seiner Entwicklung ganz
ohne Bewusstsein macht. Wie wir sehen lernen, das geschieht
ganz bewusstlos, und darum haben wir davon auch keine Erinnerung.
Daher hat denn zweitens auch das Bewusstsein des
Kindes, nachdem dieses sich solches erworben hat, und wenn es
z. B. schon wiedererkennen kann, doch noch nicht die Klarheit des
Bewusstseins eines Erwachsenen. Und daher drittens erklärt es
sich, dass auch der Erwachsene nicht immer mit gleich großer Bewusstheit
vorstellt, indem die Verbindungen, Zusammenhänge der
Vorstellungen nicht immer in gleichem Grade energisch werden.
Jene Verbindungen haben ja auch ihren Inhalt, beruhen auf
Verbindungsmerkmalen. Diese werden nicht immer gleich vollständig
mit zum Inhalte der Vorstellungen hinzugezogen, und
dann wird dieser mangelhaft, unklar gedacht.

178. Demnach müssten wir sagen, Bewusstheit sei eine
den Vorstellungen immanirende Bestimmtheit, und Bewusstsein
sei Tätigkeit der Seele überhaupt. Was wir unbewusst
nennen, hat nur den geringsten Grad der Bewusstheit. Die
nächst folgenden Grade zeigt das Kind, und auch der Erwachsene
in den Fällen, wo wir sagen, dass wir unbewusst
handeln. Je gediegener und gebildeter das appercipirende
Moment, desto höher das Bewusstsein. Vorzugsweise aber
hängt dieses von der Entwickelungsstufe des Ich ab, und hierauf
194stützt sich die oben (174) gegebene Erklärung des Bewusstseins.
Eine Vorstellung, die wir auf unser Ich und das
Nicht-Ich beziehen, ist bewusst; denn das Ich, wenn und
insoweit es entwickelt ist, wirkt mit. Und diese (wenn auch
unbewusste) Mitwirkung des (selbst unbewussten) Ich verleiht
der Apperception den Schein, als füge sie erst dem bloßen
psychischen Mechanismus Bewusstheit hinzu.

179. Hier ist noch von Aufmerksamkeit zu reden. Man
wird auf etwas aufmerksam, bemerkt es, das heißt: es wird
bewusst; und das heißt: es wird appercipirt. Wenn wir, um
beim obigen Beispiel zu bleiben, dem Freunde begegnen, so
bemerken wir an ihm weiter nichts (d. h. nichts weiter an
ihm zieht unsere Aufmerksamkeit an sich, auf weiter nichts
fällt unser Bewusstsein) als das Veränderte an seinem Leibe
oder seiner Kleidung; denn dieses wird als das Veränderte
appercipirt, es wird zu einer objectiven Ursache und zu unserm
subjectiven Interesse in Beziehung gesetzt. Die Ursache kann
unbekannt, das Interesse zweifelhaft sein: so spricht sich dies
in der Frage aus: woher oder warum das? und was bedeutet
es? z. B. eine Wunde: wie ist sie entstanden? ist sie gefährlich?

180. Dies ist die unwillkürlich erregte Aufmerksamkeit,
welche, wie wir schon gesehen und bald noch klarer sehen
werden, auf der Hemmung der Verschmelzung der Warnehmung
mit der Erinnerung beruht. Die willkürliche Aufmerksamkeit
aber z. B. des beobachtenden Naturforschers ist die Bereitschaft
mehrerer Vorstellungsgruppen, deren eine eine eintretende noch
unbekannte oder zweifelhafte Erscheinung appercipiren soll. Auf
beide Arten der Aufmerksamkeit werden wir im folgenden
öfter zurückkommen.

181. Aus dem Vorstehenden erhellt schon, dass Apperception
nicht notwendig durch Verschmelzung bewirkt wird,
sondern auch durch Hemmung bewirkt werden kann. Zunächst
kann es scheinen, als wenn der erstere Fall zur Position, der
letztere zur Negation führte. Dem ist jedoch keineswegs immer
so. Wir müssen hier überhaupt das Verhältniss der Apperception
zur Verschmelzung und Hemmung eingehender erörtern,
wobei wir auch wieder auf unsre Bemerkung über Bewusstheit
zurückkommen. Schon oben, wo von Verschmelzung die Rede
195war, und soeben wiederum hatten wir des Falles gedacht, dass
mit einander verschmelzen könne, was nicht verschmelzen dürfte.
Dann wird, logisch genommen, etwas verkannt; psychologisch
wird Verschiedenes als gleich appercipirt, und das heißt: es
wird etwas gar nicht appercipirt, nämlich nicht als solches, was
es ist, wenn auch als etwas, was es nicht ist: es wird sein
Dasein mit falscher Qualität appercipirt. Es entsteht also ein
Fehler, den aber der Appercipirende nicht erkennt. Das Umgekehrte
beinahe tritt durch ungehörige Hemmung ein. Man
erkennt das Bekannte nicht wieder, obgleich es unverändert
geblieben ist, weil die Erinnerung durch einen Zufall geschwächt
ist und nicht energisch werden kann,' oder weil sie gar veruntreut
ist; das eine oder das andre, weil sie in anderweitige
Verbindungen geraten ist, welche jetzt hemmend wirken. Nun
wird unter Hemmung appercipirt, d. h. wiederum es wird etwas
nicht so appercipirt, wie es sollte, nämlich nicht als bekannt,
sondern als fremd, also nicht im vollen wahren Zusammenhange.
Zu irgend welcher Negation und bewussten Sonderung kommt
es hierbei nicht, nur zu einem dem Appercipirenden ganz unbewusst
bleibenden Mangel.

182. So könnte es scheinen, als bewirkte Hemmung entweder
bewusste Negation oder Mangel an Bewusstsein, Verschmelzung
dagegen Position und Bewusstsein, wenn auch gelegentlich
unter Irrung. Aber auch dies ist unrichtig, wie aus
schon angeführten Beispielen hervorgeht. Gerade Verschmelzung
erstickt oft die Aufmerksamkeit und die Apperception, während
Hemmung beide weckt, wie beim eintretenden Freunde, an dem
wir nichts weiter appercipiren als die Wunde, Blässe, kurz die
Veränderung, d. h. da, wo die Verschmelzung des dargebotenen
Anblickes mit der Erinnerung gehemmt wird.

183. Vielmehr möchte ich folgende Sätze aufstellen:
Was zuerst die Verschmelzung betrifft, so ist sie ein Vorgang,
der an sich ganz ohne Beziehung zur Bewusstheit bleibt.
Es kann Bewusstes unter einander und Unbewusstes unter einander
und Bewusstes mit Unbewusstem verschmelzen. Und so
wenig die Verschmelzung von der Bewusstheit gefördert oder
gestört wird, so wenig erzeugt oder unterdrückt sie die Bewusstheit.
Sie wird lediglich von der Gleichheit des vorgestellten
Inhalts bedingt und erfolgt dann notwendig, mag dieser Inhalt
196der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Der Vorgang der
Verschmelzung selbst ist als psychologischer natürlich unbewusst.
Das Verschmelzungsproduct aber kann bewusst oder
unbewusst sein; und man kann es wissen, dass ein bestimmter
Inhalt ein verschmolzener ist, oder man weiß es nicht. Kurz:
in welcher Gestalt auch Bewusstheit sich zur Verschmelzung
fügt, immer geschieht es aus Ursachen, welche nicht in der
Verschmelzung, sondern anderswo liegen, nämlich in den Verbindungsmerkmalen.

184. Dies ist einfach. In Bezug auf Hemmung aber ist
zu unterscheiden; dieselbe ist doppelter Art. Sie trifft entweder
die Reproduction und Energie einer Vorstellung, sie hindert
ihre Bewegung überhaupt, ihren Eintritt in einen Process; oder
sie widersetzt sich nur einer schon eingeleiteten Bewegung einer
Vorstellung, die sich in einem Verbande befindet, der von einem
andern zur Verschmelzung schon angezogen ist. Im ersteren
Falle bewirkt sie, wie überhaupt Ruhe, so auch Mangel an
Bewusstheit der betreffenden Vorstellung; in letzterem Falle
lenkt sie die Aufmerksamkeit, Bewusstheit auf den Punkt, wo
die Bewegung stockt. Ist eine Vorstellung im erstem Falle, so
vollzieht sich vielleicht eine positive oder negative Apperception
ohne ihre Mitwirkung, woraus sich vielleicht eine falsche, ungenaue,
mangelhafte Perception ergibt; ist sie im letztern Falle,
so bewirkt sie gerade eine Apperception, die ebenfalls positiv
oder negativ sein kann. Sie bewirkt Apperception, sie erweckt
Aufmerksamkeit, d. h. nichts andres als sie erweckt eine neue
Reihe von Vorstellungen, wie der Anblick einer Wunde die
Vorstellung von Gefahr und Heilung; und ähnlich die Warnehmung,
dass der Freund erbleicht u. s. w. Hierdurch erhält
das eine Moment der Warnehmung eine große Klarheit, weil
eine vielfache Beziehung.

185. Beispiele sind für alles dies schon gegeben. Für
das letzte Verhältniss, positive Apperception durch Hemmung
der Verschmelzung, möge noch folgender Fall angeführt werden.
Der Müller hört das Klappern der Müle nicht; wir, selbst
während Ruhe im Zimmer herscht, hören das ziemlich laute
Tiktak der Uhr nicht. Warum nicht? Unsre Aufmerksamkeit,
sagt man, ist nicht darauf gerichtet, sondern anderwärts festgebannt.
Psychologisch sagen wir: das Gehör wird zwar durch
197den Schlag der Uhr, das Lärmen der Müle, erschüttert, und
so entstehen nothwendig Gehörsempfindungen; aber diese bleiben
ganz außerhalb der Verbindung mit den ihnen angemessenen
Vorstellungsverbänden, und darum werden sie nicht bewusst.
Aber sie sind da und, wenn auch unbewusst, associiren sie sich
mit allem was unser Inneres in dieser Zeit gerade bewegt.
Alles was der Müller in der Müle treibt, erhält eine Association
mit dem unbewussten Klappern, sogar sein Traum oder seine
Ruhe im traumlosen Schlafe. Sobald die Müle stehn bleibt,
das Klappern aufhört, bemerkt es der Müller; der Abbruch
der ihm gewohnten Association, eine Hemmung, erweckt seine
Aufmerksamkeit. — So ist es beim Müller, dem alles am Klappern
seiner Müle liegt; uns liegt nicht soviel an dem Tiktak
der Uhr. Daher bemerken wir deren Stehnbleiben nicht. Hier
muss umgekehrt etwas Besonderes eintreten, wenn das Tiktak
bewusst gehört werden soll. Als ich z. B. bei Durchsicht
meines Manuscripts zu vorliegendem Buche an die obigen Worte
kam: „wir hören das ziemlich laute Tiktak der Uhr nicht”,
da hörte ich plötzlich meine Wanduhr. Die mir ins Ohr dringenden
Töne der Uhr verbanden sich mit den eben durch jene
Zeile geweckten Vorstellungen ganz unabsichtlich, und wurden
so mit Hülfe dieser Vorstellungen bewusst *)20.

b) Speciellere Betrachtung der Apperception.

α) Formulirung der Apperception.

186. Versuchen wir den Apperceptions-Process in einer
psychologischen Formel darzustellen. Schmeicheln wir uns auch
nicht, dass damit eine mathematische Psychologie geschaffen
werde, so muss doch solche Formel die Klarheit fördern.198

187. Beginnen wir mit dem einfachsten Falle, dem Wiedererkennen
eines unveränderten und durchaus gleichgültigen Dinges,
oder der Warnehmung eines bekannten Dinges; die Anschauung,
wie sie nach Maßgabe der Sinnestätigkeit gebildet
ist, als das passive Moment, sei P; das active Moment, die
Erinnerung, sei A. Hier wird vorausgesetzt P = A. Solcher
Fall würde eintreten, wenn wir eine uns bekannte, aber nicht
befreundete Person, deren Wohnung und Hausgerät, oder die
Straßen einer Stadt u. s. w. so wiederfinden, wie wir sie kennen.
Wir kämen also zur Formel P+A=A. Denn P+A = A+A,
und A+A ist psychologisch nur A (s. 59). Diese Formel
indessen, selbst vorausgesetzt, sowohl die Erinnerung A wäre
vollkommen, und eben so die Warnehmung P vollständig, würde
doch immer mangelhaft sein. Denn in der Warnehmung eines
Dinges liegt nicht bloß,, dass die Vorstellung desselben producirt
werde, sondern auch dass diese projicirt, d. h. dass sie
als ein äußeres und gegenwärtiges Ding erfassend gesetzt werde.
Die Projection aber wird bewirkt durch P (137). P ist es zu
verdanken, dass wir eine bloß erinnerte Person nicht auch für
wirklich gegenwärtig halten, und auch das müssen wir in unserm
Falle noch zu P rechnen, dass wir die gemalte Person nicht
für die leibliche halten. Zur bloßen Reproduction einer Person
würde das Bild, ja der Name ausreichen; die Warnehmung
aber erfordert P, die sinnliche Gegenwart mit ihrer Wirksamkeit
auf unsre Sinnestätigkeit und die volle Ausübung der
letztern. Es darf also P niemals absolut = A gesetzt werden.
Andrerseits ist es die Wirksamkeit von A, welches schon in
sich eine Verschmelzungs-Summe ist, dass P nach der Verschmelzung
mit A als Bekanntes gilt. So sei denn die Formel
für den obigen, einfachsten Apperceptions-Process.

P+A1=A2.

188. Von der Bildung des P selbst, d. h. von der Erzeugung
der Anschauung eines räumlichen Dinges, sehen wir
hier ab. Diese Schöpfung wird hier vorausgesetzt; sie beruht
natürlich auf einem viel mannichfacheren Processe. Schrittweise
vom Einfachsten zum Verwickeltern vorschreitend, kämen wir
zunächst zu Anschauungen von Dingen, die nur einseitig durch
Warnehmung gegeben sind, wie z. B. wenn wir Zucker sehen.
Die Anschauung Zucker A enthalte die Momente des Gesichtseindrucks
199a, des Tasteindrucks b, des Geschmackes c, der Löslichkeit
d. Es bilden also a b c d einen Vorstellungs-Verband
zum Werte von A. Nun sehe man Zucker, so ist zunächst
bloß a gegeben; also P = a. Dieses a aber reproducirt a b c d,
d. h. A1. Darauf verschmilzt a mit A1 zu A2; d. h. obwohl
nur a gegeben ist, wird doch als Object a b c d = A projicirt.
Man könnte aber jemand im Dunkeln oder bei geschlossenen
Augen Zucker in den Mund stecken, so wäre c gegeben; also
P = c. Dann würde c die mit ihm verbundenen a b d reproduciren,
d. h. ebenfalls A1, worauf wiederum c mit A1 zu A2
verschmelzen würde. Das Ergebniss wäre wie oben: das ganze
A wird projicirt auf Anlass von P = c. Dieser Process ließe
sich so schreiben:

image

Dem a oder c ist es zu danken, dass a b c d1 zu a b c d2
wird, d. h. dass projicirt wird; dem A1 ist es zu danken, dass
nicht bloß a oder c, sondern dass a b c d projicirt werden.

189. Hier war P im Verhältniss zum Object mangelhaft.
Umgekehrt kann auch A1 mangelhaft sein. Die wenigsten Menschen
werden sich die Gesichtszüge und den vollen Anblick
irgend einer Person bestimmt und richtig vorstellen können;
mindestens werden sie dies doch nur für wenige Personen können.
Es sei also die Anschauung irgend eines Objects A = abcde,
welche Elemente durch Warnehmung P geboten seien, während
in der Erinnerung A1 nur a b c energisch sind; so werden d e
von ihrer Hemmung befreit, und das Product ist doch die Projection
von A2 = a2 b2 c2 d2 e.2. — Nun können auch beide
sowohl P als A1, mangelhaft sein. Durch Warnehmung P gegeben
sei a. c. e. Nun sei von A1 — a b c d e in der Erinnerung
a b c energisch, d und e aber gehemmt. So wird a c e
nicht nur a1 b1 c1 reproduciren, sondern auch d1 und e1 von der
Hemmung befreien. Jedenfalls wird das ganze A1 als A2 projicirt
und soll den Wert von a b c d e haben, selbst wenn auch
vielleicht tatsächlich immer noch nur a. c d e oder a b c. e
oder gar nur a. c. e oder a. c d. in Energie tritt — ein Verhältniss,
200das hier noch nicht erörtert werden kann. Die Formel
für beide Fälle ist leicht:

image

190. Der Fall, dass A1 mehr enthält als P ist sicherlich
der häufigere. Dies wird augenblicklich klar, wenn wir an
Personen und Dinge denken, die uns nicht gleichgültig sind,
wo sich an den Vorstellungs-Verband von a b c d e, welcher
die Anschauung von A bildet, tausend Gemüts-Regungen und
Erinnerungen knüpfen, welche sämmtlich bei der Apperception
mitwirken, und welche doch zu A1, nicht zu P gehören, aber
in A2 mit übergehen und das Wesentliche des Inhalts ausmachen.
Unsere Geliebte ist in uns ein A1. Tritt sie vor uns, und
projiciren wir dieses A1, so schließt A2 nicht bloß ihr Bild,
sondern auch unser projicirtes Herz ein.

191. Wir kommen nun weiter zu dem Falle, dass A1 mehr
enthält als für ein Object projicirt werden kann, nämlich als
Artbegriff die einander ausschließenden Merkmale mehrerer Individuen.
Es bedeute A Tisch, so schließt es verschiedene
Formen, Stoffe und Farben in sich, rund und viereckig a > z,
Holz und Stein b > y, braun und weiß c > x. A1 schließt
diese sechs Bestimmungen sämmtlich in sich, von denen doch
nur drei zur Projection gelangen dürfen. Welche drei? das
bestimmt P. Das allen Tischen A Gemeinsame sei M; so ist
P etwa = Mabc. Es wird also durch P bloß A1 = M1 a1 b1 c1
reproducirt und dagegen z1 y1 x1 gehemmt. Dann verschmilzt
P mit A1 zu A2 = M2 a2 b2 c2.

192. In allen diesen Fällen liegt der Gehalt von P schon
in A1; und so kommt bei P+A1 durch P dem A1 kein neuer
Inhalt zu. Im gemeinen Leben wird durchschnittlich das Object
A2 in der Vorstellung A1 schon enthalten sein; das heißt:
man lernt nichts zu; man bewegt sich in gewohnten Kreisen.

Also dieses A2 = A1 ist die Formel für den Geist des
Philisters, für den Geist aller derer, welche nichts
lernen und nichts vergessen.201

193. Beim Kinde indessen in der Zeit der Entwicklung,
und bei allen denen, deren Devise dies diem docet, mag zwar
tausendmal die Gleichheit von A2 und A1 gelten bleiben, es
trifft dennoch nicht selten, dass P einen Inhalt hat, der noch
nicht in A1 lag. Es lernt das Kind den runden Tisch kennen,
nachdem es nur viereckige gesehen hat. Da macht sich die
Kraft der neuen Warnehmung P auf die Vorstellung A1 derartig
geltend, dass A2 eine neue Beobachtung enthält, durch
welche von nun ab A1 bereichert bleibt. Entdeckungen bereichern
das Wissen, corrigiren auch Irrtümer; d. h. bei der
Zusammenfassung von P+A1 entsteht nicht eine einfache
Wiederholung von A1, sondern eine Bereicherung oder gar eine
Umgestaltung desselben.

194. Solch ein Fall jedoch, wo aus P + A1 ein A2 entsteht,
das inhaltlich verschieden ist vom A1, wird auch nur
sehr mangelhaft durch P + A1 ausgedrückt. Wenn es sich
z. B. um das Wiedersehen eines grau gewordenen Freundes
handelt, so müssten wir wohl A1 ersetzen durch AO, indem
A das Bild des Freundes mit Ausschluss des veränderten Momentes
bezeichnen würde, während O (= olim) den frühern
Zustand des A andeutet. Die jetzige Qualität sei N (= nunc)
also P = AN. Nun würde AN ganz natürlich AO reproduciren,
wenn nicht etwa A ganz geringfügig und machtlos
gegen O und N geworden ist. Das wäre ein volles Unerkannt-Bleiben
des Freundes. Wird aber AO durch AN reproducirt,
so hemmt der Gegensatz O > N die Verschmelzung der beiden A.
Der bestehende Drang zur Verschmelzung der A aber treibt
immerfort O und N gegen einander. Es treten also in Reaction
gegen einander A, A, O, N. Dass für die gegenwärtige Apperception
das N mächtiger als das O sein müsse, ist klar; denn
es ist unzweifelhaft gegeben und macht sich von Augenblick zu
Augenblick, je länger das Auge darauf weilt immer unzweifelhafter.
Nur das O ist in Zweifel, es erscheint positiv und
negativ: A + O — O. Mit dieser doppelten Setzung des O
ist denn auch die Reaction abgeschlossen und ist O mit N
versöhnt; aus (A + N) + (A1 + O — O) wird A2N.

195. In der letzten Formel hätten wir schon ein volleres
Bild des Processes, als wir anfänglich hatten. Doch ist dieselbe
noch nicht ausreichend. Die doppelte Setzung des O ist eine
202bestimmte Tat, selbst schon eine eigene Apperception. Im psychisch-mechanischen
Reactions-Process ist nur angegeben, dass O
sowohl reproducirt als auch verdrängt wird. Diese Erscheinung
wird appercipirt durch das Zugeständniss einer bedingten Berechtigung
des Daseins, nämlich als eines Gewesenen. Das
Gewesene ist ein Plus, welches ein Minus geworden ist. Der
Begriff der Veränderung appercipirt das hin und her schwankende
O, und es verdoppelnd, hält er es auf beiden Seiten fest.
Dieser Begriff ist abstract. Setzen wir dafür concreter die Überlegung
R (=ratio), dass man den Freund lange nicht gesehen
hat, und er um so viele Jahre älter geworden ist und wohl
mit der Zeit ein solches Aussehen gewinnen konnte; dass auch
wohl durch Krankheit, Trauer und Kummer, welche, wie wir
uns nun erinnern, den Freund bedrückten, das Haar grau, der
Blick matt, die Gestalt gebeugt werden konnte u. s. w. Es
wird also weder der Freund A schlechthin als braun und nicht
braun (± O) appercipirt, noch auch bloß überhaupt als grau
N oder grau geworden O > N, sondern als aus bestimmter,
gewusster oder wenigstens vorausgesetzter Ursache grau geworden.
Dieses R bringt die Reaction zum Abschluss und
vermehrt das Product. Als Formel könnte dienen:
(A + N) + (A1 + O — O) + R = A2NR

196. Es ist doch ein wesentlicher Unterschied im Product,
ob das apriorische A1 nach Aufnahme des P bloß in seinem
psychologischen Bestande und durch Projection geändert, in
seinem Inhalt aber sich gleich geblieben ist, oder ob, wie in den
letzt besprochenen Fällen, das A des Productes einen andern
Inhalt hat als A1. Hier ist ja keine Verschmelzung eingetreten,
und es wird im Product das neue A vom alten A unterschieden.
Solch ein Product können wir vom altern apriorischen A1 nicht
passend durch den Exponenten als A2 unterscheiden, als wäre
es nur ein potenzirtes, in seinem Sein verstärktes, übrigens aber
einfaches A; sondern da in ihm ein neues und ein altes A aus
einander gehalten werden: also wirklich zwei A in ihm liegen,
so wollen wir den Exponenten lieber nach Weise der Chemie
als Coefficienten unten am Buchstaben schreiben: A2. Es bleiben
aber hier drei Punkte zu unterscheiden. Erstlich ist der gegenwärtige
Freund als wargenommenes Bild zu appercipiren, und
dieses Product ist, wie angegeben (194), A2N. Zweitens aber
203ist das jetzige Aussehen des Freundes als ein verändertes appercipirt;
N ist an Stelle von O getreten. Hier sind beide A
als A1, d. h. nicht als Warnehmungen, sondern als innere Vorstellungen
zu setzen. Denn die Warnehrnung an sich ist A2 N;
diese als innere Anschauung gegen AO gehalten ist A1—0 + N;
also das Ganze:

(A1 + 0) + (A1 — 0 + N) = A2N.

Dieses A2N nun drittens dient gelegentlich noch als appercipirende
Masse für AN; d. h. man erinnert sich beim Anblick
wohl noch bisweilen der Veränderungen; jedoch immer seltener.
Bald an das neue Aussehen gewöhnt, gilt AN einfach als P,
und A2N vereinfacht sich ebenfalls. Denn die Gewalt des N
wächst mit jeder wiederholten Warnehmung und schwächt in
gleichem Maße das O, welches schließlich nur unter besondern
Begünstigungen reproducirt wird: und A2N wird einfaches AN
und dieses dient von nun ab als A1.

197. Wir kehren zu dem Falle von den eckigen und runden
Tischen zurück. Dass ein Kind, wenn es bloß jene gesehen
hat, auch diese erkennt, dass es Mzyx durch Mabc (191)
appercipirt, beruht auf der entscheidenden Macht des M, welches
hier nicht den Typus einer Gestalt (106 ff.), sondern den Zweck
und die zu ihm gehörenden Bestimmungen vertritt, also den
Gebrauch und die daraus entstehende Umgebung, wie z. B.
dass Stühle daneben stehen u. s. w. Diese Macht des M für
das Bewusstsein des Kindes ist um so begreiflicher, als es beinahe
den ganzen Inhalt der Anschauung ausmacht. Für den
Gegensatz von a > z u. s. w. hat es noch gar kein Organ.
Wenn es vielleicht schon a b c von x y z zu unterscheiden vermag,
sobald beide neben einander stehen, *)21 so hat es doch,
204wenn zwischen den beiden Anblicken einige Zeit liegt, keine
Erinnerung für das Eine, während es das Andre sieht. Ein
Gegensatz also von AO und AN kann erst eintreten, wenn AN
dem Kinde schon bei einiger Reife vorkommt. Setzen wir
zuerst den Fall, ein Kind sehe uranfänglich runde und eckige
Tische durch einander, so wird es den Tisch zunächst nur als
M appercipiren: P = A = M. Lernt es allmählich a und z,
b und y, c und x unterscheiden, so wird es jede Warnehmung
mit der entsprechenden Erinnerung appercipiren und M wird
einen Kreis von Möglichkeiten (95f. 100f.) umfassen, deren es
sich nicht bewusst ist. A1 = Mabc oder Mabx u. s. w. genau je
nachdem P es ist. Allmählich treten auch diese verschiedenen
Möglichkeiten als Unterarten von M ins Bewusstsein. A spaltet
sich in runde, eckige u. s. w. Tische. Die üblichen Beiwörter
bewirken und fördern solche Spaltung: A1 wird An, und bloß
in Bezug auf die geometrische Form der Platte A2. — Hat
aber das Kind zuerst nur viereckige Tische gesehen, und sieht
dann einen runden, so soll es MN durch MO appercipiren.
Der Gegensatz O > N, wie lebhaft er auch gefühlt werden
mag, wird durch M überwunden, und die hinzutretende Reflexion
R (195), welche den Widerspruch beseitigt, ist der unausgesprochene
Gedanke, dass es auch solche Tische gibt,, und so
205bleibt die Formel gültig, welche 195 aufgestellt ist. Sein Begriff
Tisch A1 ist:

m/O das heißt: eckiger \ Tisch
m /N das heißt: runder \Tisch.

Schließlich, nachdem das Kind vielerlei Arten Tische gesehen
hat, welche in vielen Beziehungen einander entgegengesetzt
sind, würde sein A, sich entwickeln lassen zu Mabc, Mabx,
Mayc u. s. w. Jede dieser Formen kann als A1 in den Process
treten; welche derselben in jedem gegebenen Falle es sein
soll, wird durch P bestimmt. Auch wird zunächst und unmittelbar
immer nur diese eine reproducirt; die andern treten
nicht in den Process (95 ff.).

198. Man kann genau genommen niemals sagen, dass eine
Warnehmung, Beobachtung, Entdeckung einen Begriff oder ein
System umgestaltet haben. Oft genug aber erweist sich der
appercipiren sollende Begriff als unfähig das Gegebene zu appercipiren.
Dann tritt irgend ein Moment oder irgend welche
Momente (R') zum appercipirenden Begriffe hinzu, ihn zu verstärken,
zu bereichern, abzuändern und nun wird das Gegebene
entdeckt, in neuer Entdeckung erfasst. Die Entdeckung liegt
allemal in der Verbindung des alten apriorischen Momentes mit
dem neuen R', also in AOR'. Ja, dass das apriorische Moment
A1 zu schwach sei, um das Gegebene P zu appercipiren, hängt
oft erst von einem neu auftretenden Moment ab, welches nicht
mit P gegeben ist. Zwar in dem einfachen Falle, dass der
viereckige Tisch den runden nicht appercipirt, liegt es lediglich
daran, dass AO nicht mit AN verschmelzen kann, gerade weil
O || N. Das Stocken der Verschmelzung, also kein bestimmtes
Moment, also auch nicht P oder AN an sich erweist AO als
ungenügend. Wo bloß solches Stocken eintritt, da entsteht
Staunen. Es könnte auch A der Stall sein, O das Tor desselben;
dieses wird erneuert, wird N. So steht die Kuh vor
dem, neuen Tor AN > AO. In der Wissenschaft aber ist es
oft eine bestimmte Überlegung, welche neu auftritt und den
apriorischen activ sein sollenden Begriff in seiner Apperceptions-Tätigkeit
hemmt. Die, wenn auch erfundene, Anekdote von
Newton kann als Beispiel dienen. Er hatte, wie jeder Andre,
tausendmal Dinge fallen sehen und hatte jeden einzelnen Fall,
+ P, mit den frühern Anschauungen + P1 appercipirt; es war
206schlechthin +P mit +P' verschmolzen zu P2. Eines Tages?
als er im Garten den verhängnissvollen Apfel fallen sah, erwachte
in ihm der Gedanke: warum fällt der lose Apfel zur
Erde und fliegt nicht gen Himmel? d. h. er appercipirte +P
mit —P1. Wenn dieser Anstoß zur Entdeckung des Gesetzes
der Attraction trieb, so kann man also nicht sagen, die Warnehmung
des fallenden Apfels habe dies bewirkt; sondern abgesehen
von dem —P1 mussten noch viele positive Elemente
auftreten, sich mit +P1 verbinden, um einen Begriff herzustellen,
der +P und die Bewegung der Erde um die Sonne
appercipiren könnte. Es war ein sehr reichhaltiges R (bestehend
aus —P + X Y Z …), wodurch das System der Physik so
bereichert ward. Bei all dem ist noch davon abgesehen, dass
die Bildung des —P eine gewisse Bildung und Richtung des
Geistes voraussetzt; und in noch höherm Grade musste dies
der Fall sein, wenn das Bewegungsverhältniss zwischen Sonne
und Erde als etwas Zu-Appercipirendes vorliegen konnte.

199. Doch genug mit diesem schwachen Versuch einer
algebraischen Formulirung der Apperception. Es werden hier
weder Kräfte gemessen, noch Gewichte oder Volumina bestimmt.
Die aufgestellten Formeln, wenn sie alles leisteten, was sie nach
ihrer Anlage und Richtung leisten können, würden immer nur
ein abstractes Bild von concreten Vorgängen geben. Darum
jedoch mögen sie nicht verwerflich sein, da die Wissenschaft
auch die Aufgabe hat, Abstractionen zu bilden. Und so mag
es später im Fortgang dieser Untersuchung bei günstig scheinender
Gelegenheit gestattet sein, auf die obigen Formeln zurückzukommen.

Betrachten wir jetzt das Verhältniss der beiden Momente
der Apperception zu einander noch näher. Daraus wird uns
sowohl die Art und Weise ihrer Bewegung gegen einander,
also die mannichfache Möglichkeit der Gestaltung des Vorganges,
als auch das doppelseitige Product und die überwiegende
Bedeutung des apriorischen Momentes noch klarer werden.

β) Verhältniss der beiden Factoren der Apperception zu einander in
logischer Beziehung.

200. Es handelt sich erstlich um die Perception einer
gegebenen Einzelheit als dieses bestimmten Einzelwesens, z. B.
das Erkennen einer Person, meines Buches, meines Pult-Schlüssels.
207Solche Perception vollzieht sich als Identification
des zu appercipirenden Gegebenen mit dem appercipirenden
Momente, als völlige Gleichsetzung der Warnehmung mit dem
Erinnerungsbilde von dem Objecte dieser Warnehmung. Diese
identificirende Apperception besteht schließlich in der
Verschmelzung der beiden Momente. Hierdurch verbindet sich
der ganze Inhalt der Erinnerung, des apriorischen Moments,
und zwar nicht nur der Erkenntniss-Inhalt, sondern auch die
ganze an denselben geknüpfte Gemüts-Erregung, Gefühle,
Affecte, Begehrungen, mit der Gegenwart und Wirklichkeit (190).

201. Jede Perception als logisches Urteil ist entweder
positiv oder negativ, je nach der Form der Apperception. Die
Negation der Identität wird erfolgen, wenn statt der Verschmelzung,
die in dem eben dargestellten Falle eintritt, eben so einfach
und völlig die Hemmung sich behauptet.

Es werde z. B. aus einem Schlüsselkorbe ein Schlüssel
gesucht, aus einem Bunde von Briefen ein Brief. Allmählich
wird ein Brief, ein Schlüssel nach dem andern in die Hand
genommen, vor das Auge gehalten. Dieser Warnehmung gegenüber
steht in uns die Anschauung des gesuchten Gegenstandes.
Von ihr wird erstere appercipirt. Es kommt darauf an,
ob das dem Auge gebotene Bild des gegenwärtigen Schlüssels,
Briefes mit dem Bilde des gesuchten verschmilzt, oder nicht:
wenn es verschmilzt, so ist der Gegenstand gefunden; wenn
es abgestoßen wird, so ist er nicht der verlangte; im erstem
Falle wird positiv, im letztern negativ appercipirt. „Der ist es
nicht; der auch nicht; der auch nicht u. s. w. dieser ist es”.

202. So verhält es sich mit allem Suchen einzelner Dinge;
es ist immer ein Vergleichen, ein Messen des von außen Dargebotenen
mit oder an dem Innern. Zeigt sich jenes als ungleich
mit diesem, so wird es von diesem abgestoßen, negativ
appercipirt; zeigt es sich gleich, so wird es von diesem angeeignet,
positiv appercipirt. Nur sind häufigst die Fälle verwickelter.
Im eben vorgeführten Beispiel wissen wir, was wir
suchen; oft wissen wir es aber nicht. „N. N. wohnt in —
wie heißt doch das Städtchen?” sagt Jemand. Der Andre antwortet,
so? oder so? oder so? „Nein” — „nein” — „nein”.
So? — „Ja”. Auch in diesem Falle findet notwendig eine
Vergleichung des angegebenen Namens mit einem, unserm
208Innern vorschwebenden, Namen statt; aber dieser vorschwebende
ist, obwohl er vorschwebt, auf der Zunge liegt, dennoch unbekannt.
Wir haben in solchem Falle eine Vergleichung einer
bekannten, gegebenen Größe mit einer unbekannten. Letztere
aber kann unmöglich absolut ein x sein. Denn wäre es ein
absolutes, völlig unbekanntes x, so ließe es sich jede Gleichstellung
gefallen; es könnte nur appercipirt werden, nicht appercipiren.
„Wo wohnt N. N.? wir wissen es nicht”, d. h. in x.
Mit jeder Antwort wäre das x beruhigt, bestimmt. Mit solchem
x ließe sich nicht suchen. So ist es doch in unserm Falle
nicht. Ein uns vorschwebendes x kann also nicht völlig unbestimmt
sein; sonst könnte es auch nicht vorschweben. Seine
Verbindungsmerkmale wollen nur (vielleicht nur in diesem
Augenblicke) nicht energisch werden; aber es hat deren; und
sie werden energisch, sobald es uns warnehmbar entgegentritt
und dann erfolgt die Verschmelzung, die positive Apperception.
So lange ihm aber nicht das rechte Gegenbild vorgehalten wird,
bleibt es ohne diejenige Energie, die zur vollen Bewusstheit nötig
wäre; aber es hat genug davon, um das Ungleiche abzustoßen;
und so findet eine negative Apperception statt. Oft ist irgend
ein Element des x energisch. „Es beginnt mit einem H; es
kommt ein J drin vor”.

203. Ja, genau genommen, verhält es sich doch auch mit
dem Suchen der bekanntesten Sache wesentlich nicht anders, nur
in schwächerm Grade. Denn wenn wir z. B. einen bestimmten
uns gehörenden, viel gebrauchten Schlüssel suchen, so ist es
doch meist sehr fraglich, ob wir im Stande wären, uns das
Bild des gesuchten Schlüssels, bevor wir ihn sehen, vollständig
zu vergegenwärtigen. Denn von den meisten Dingen, die wir
genau kennen, könnten wir uns dennoch ohne die Warnehmung
schwerlich das völlige Bild mit allen Zügen zurückrufen. Immer
also beruht unser Suchen darauf, dass wir erwarten, eine der
eintretenden Warnehmungen, welche wir veranlassen, werde das
volle Bild des Gesuchten in uns erwecken. Also arbeiten wir
auch hier mit unbewusst bleibenden Factoren oder Momenten
eines Bildes, die erst im Funde selbst bewusst werden. Wollte
man hiergegen auch einwenden, dass wir überhaupt alle Dinge,
auch die bekanntesten, gar nicht an allen ihren Merkmalen,
sondern nur an gewissen hervorstechenden erkennen: so wäre
209das nur insofern richtig, als wir auch an solchen Dingen uns
nie alle Einzelheiten bewusst machen, während doch unleugbar
alle zum Kennen mitwirken. Wir wissen freilich nicht, worauf
die Eigentümlichkeit eines uns bekannten Gesichtes beruht.
Dass aber die kleinste Biegung der Linien in der That mitwirkt,
beweist der Umstand, dass, sobald diese Biegung im Portrait
nicht genau so wiedergegeben ist, wir ein Fremdartiges bemerken,
ohne dass wir wüssten, auf welchem Punkte es beruht.
Nur der Maler würde es herausfinden (189).

204. Zuweilen aber bleiben die Verbindungsmerkmale, in
Folge irgend eines Druckes, untätig oder schwach, obwohl das Gesuchte
wirklich vorgeführt ist: dann wissen wir nicht bestimmt,
ob es das ist, was wir suchten, oder nicht; ob wir gefunden
haben oder nicht. Die Apperception ist unentschieden, weil die
Verschmelzung immer noch nicht völlig eintritt. Irgend etwas
war doch anders als an dem Dargebotenen erscheint; irgend
etwas fehlt diesem. Es hat sich vielleicht durch irgend einen
Zufall, durch irgend eine zufällige Association, der Vorstellung
von dem Gesuchten ein ursprünglich ganz fremdartiges Element
beigemengt. Dieses hemmt nun immer noch die Verschmelzung.
So entsteht der Zweifel — bis vielleicht das fälschlich associirte
Element ausgeschieden wird, und nun doch die Verschmelzung
eintritt, oder bis es als wirklich zugehörig anerkannt wird, und
dann die Hemmung obsiegt.

205. Es ist hier noch zu bemerken, dass beim Wiedererkennen
die gegenwärtige Warnehmung unvollständig sein kann, sei es, weil
die Aufmerksamkeit zu flüchtig ist, sei es, weil das Object nur
teilweise geboten ist. Dann wirkt die Apperception ergänzend,
und die Ergänzung kann bewusst oder unbewusst geschehen. Der
geübte Leser sieht nicht jeden Buchstaben und jeden Strich jedes
Buchstabens an; es ist fraglich, wie viel er sieht; gewiss das
Meiste fügt er aus seinem Innern hinzu. Daher lässt der Corrector
manchen Fehler stehn; denn er sieht nicht alles und
nicht nur das was in Buchstaben vor ihm liegt, sondern trägt
aus seinem Bewusstsein in die Schrift hinein, teils in Übereinstimmung
mit dem Geschriebenen, teils nicht. Der wirklich
gesehene Buchstabe verschmilzt mit den Vorstellungen, die der
Leser hinzubringt, und in Folge dieser Verschmelzung wird
nicht bloß das gedacht, wozu das Gesehene unmittelbar veranlasst,
210sondern auch das damit in der Seele Verbundene. Man
sieht z. B. von „Gott” vielleicht nur „G. t.” appercipirt aber
mit der Vorstellung Gott, in welcher „G. t.” enthalten ist
(vergl. oben 188). — Eben so wenig wie wir alle Schriftzeichen
beim Lesen wirklich sehen, hören wir wirklich alle Laute, wenn
wir Gesprochenes verstehen; wie dort kommt auch hier die
appercipirende Vorstellung zu Hülfe. Daher wir in den Fällen,
wo die appercipirende Vorstellung nicht helfen darf oder kann,
auch falsch oder gar nicht hören, so dass wir zweifeln, was
gesagt sei. Auf die Frage: „in welchem Monate?” sei die
Antwort gegeben: „im Juni”. In den allermeisten Fällen wird
man schwanken, ob man Juni oder Juli gehört habe. Bei
unserm Worte „nie” aber sind wir niemals schwankend, ob
man „lie” gesagt habe. Wir hören höchstens halb mit dem
Ohr; die andre Hälfte ergänzt das appercipirende Bewusstsein.

206. Nach solchen Fällen der identificirenden Apperception
kommt zweitens die subsumirende Apperception in Betracht.
Nicht mehr vom Einzelnen wird Einzelnes appercipirt, sondern
Einzelnes vom Allgemeineren, die Anschauung eines Wesens
von dem Artbegriffe, die Art von der Gattung u. s. w. Was
aber soeben und auch schon früher von der ergänzenden Macht
der Apperception gesagt war; gilt hier noch entschiedener. Das
Einzelne, das von dem Allgemeinen appercipirt worden, hat einen
reichern Inhalt, als die Warnehmung jenes Einzelnen. Ja, hier
zeigt sich gelegentlich die Bedeutsamkeit der appercipirenden
Vorstellung derartig, dass diese aus einem sehr unbedeutenden
Warnehmungs-lnhalt eine gehaltvolle Erkenntniss schafft. Wer
dergleichen nie gesehen hat, sehe zum ersten Male ein Zoophyt,
einen Polypen. Staunend wird er davor stehn und nicht wissen,
was er daraus machen soll. Er kann das Wargenommene in
seinem Vorrat von Vorstellungen nicht unterbringen; d. h. es
ist keine Vorstellungsgruppe da, von welcher jenes appercipirt
werden könnte, mit der es eine Verschmelzung ganz oder teilweise
eingehn könnte. „Was ist das?” mehr bringt er nicht
hervor. Diese Frage: „was ist das?” die doch auch in andern
Fällen oft genug gehört wird, müsste dem Dialektiker zu denken
geben. Vorhanden ist für den Fragenden ein „Das”, also
ein bestimmtes etwas, ein etwas worauf gezeigt werden, das
auch sprachlich benannt, beschrieben werden kann, also ein
211fester Inhalt, logisch genommen: ein Begriff, psychologisch: eine
Warnehmumg. Nun aber sagt der Warnehmende nicht: „Das
ist das”, P = P; sondern er fragt: „was ist das?” d. h. P = x =?
Nicht als ob er leugnete, dass P = P; aber weil P = P, so
ist ihm dies P nur ein x, d. h. es erwartet erst noch seinen
Ort im System seiner Erkenntnisse. Nun sagt man ihm, es sei
ein Tier; so hat sein P, seine Warnehmung, erst einen Inhalt
gewonnen, indem es in eine allgemeine Classe versetzt ist.
Sein Begriff Tier ist herbeigerufen, das „Das” zu appercipiren.
Wie unbestimmt nun auch noch seine Erkenntniss ist, etwas
Wesentliches ist schon erreicht. Er weiß nun schon, dass dieser
Gegenstand weder tot ist, noch auch vom Erdboden, vom
Regen, aus der Luft seine Nahrung zieht. Zugleich ist allerdings
auch sein Begriff Tier, womit er appercipirt, reicher geworden.
Jetzt hat er mindestens erfahren, dass es auch solche
Tiere gibt.

207. Unter diese subsumirende Apperception fällt alles Classificiren
und Ordnen, alles Begreifen, Beweisen und Schließen;
insofern es bei all dem darauf ankommt, dass das Allgemeinere
das ihm Untergeordnete appercipire. Aber auch alle ästhetischen
und ethischen Beurteilungen, alles Erwägen und Billigen
oder Verwerfen gehört hierher; denn es wird ein Einzelnes von
einem allgemeinen Grundsatze, z. B. eine Tat von einer sittlichen
Regel, appercipirt. Die Billigung der Tat ist eine positive
Apperception, beruhend auf Verschmelzung des Einzelnen
mit dem Allgemeinen; das Verwerfen, Verurteilen ist eine
negative Apperception, beruhend auf der Hemmung der Verschmelzung.

208. Die identificirende Apperception findet auch in der
Wissenschaft ihre Anwendung, obwohl sie am meisten im praktischen
Leben ihre Geltung findet, wo das Einzelne als dieses
bestimmte Wesen seinen Wert hat. Indessen in der Geographie,
insofern es sich bloß um Beschreibung der einzelnen Länder
handelt, in der Astronomie, insofern es nur den Ort und die
Beschaffenheit eines Sternes gilt, kurz wo und insofern es auf
Beschreibung ankommt, hat die identificirende Apperception
ihre Stelle. Also könnte hier wohl auch die Botanik und
Zoologie genannt werden, welche allerdings nur Arten und
nicht Individuen beschreiben. Hier aber ist das Individuum so
212gleichgültig, dass die Art beinahe nur den Wert desselben hat;
und die Subsumtion desselben unter die Art ist nicht sowohl
eine Verallgemeinerung als eine Collection. Insofern es sich
nun darum handelt, eine Art zu erkennen, findet hier identificirende
Apperception statt. In einem gewissen Gegensatze
hierzu steht die Mathematik. Wenigstens, insofern sie in ihrem
Beweise nur nach der Formel der Gleichsetzung vorschreitet,
scheint sie nur Beispiele der identificirenden Apperception zu
enthalten. Indessen ist doch Congruenz, Ähnlichkeit, Gleichheit,
nicht Identität; und das beweisende Vorschreiten durch
Gleichheiten ist ein Zusammenfassen, welches doch wohl als
eine Art Subsumtion anzusehen ist. Und so dürfte die Mathematik
schon deswegen unter die subsumirende Apperception
zu stellen sein, noch abgesehen davon, dass es sich bei der
Schöpfung ihrer Lehrsätze noch um ganz andres handelt. Auch
bezüglich der beschreibenden Naturwissenschaften kann ja nicht
unbeachtet bleiben, dass auch die höhern Apperceptions-Formen
in ihnen zur Anwendung gelangen, wie noch gezeigt werden
wird. Denn wenn sie bei dem Einzelnen oder der Art stehn
blieben, wären sie keine Wissenschaft.

209. Wie die Mathematik dürften dann auch die vergleichenden
Wissenschaften, namentlich die ausgesprochensten
und entwickeltsten, die vergleichende Anatomie und die Sprachwissenschaft,
selbst insofern sie wirklich nur gleichsetzen oder
gar identificiren, doch besser als subsumirende Apperceptionen
anzusehen sein. Insofern aber auch sie constructiv werden,
gehen sie ebenfalls weiter.

210. Wir kommen nun zu einer dritten Form der Apperception,
welche in Ermangelung eines bessern Namens die harmonisirende,
und als Negation die disharmonisirende heißen
mag. Die Begriffe nämlich stehen nicht bloß nach ihrem Umfange
im Verhältniss der Über- und Unterordnung, sondern sie sind auch
nach ihrem Inhalte einander entgegengesetzt, widersprechend oder
mit einander übereinstimmend, oder indifferent gegen einander.
Bei zwei Begriffen P und A ist nicht bloß zu beachten, dass beide
entweder Einzelbegriffe sind, oder eines ein solcher, das andre
ein allgemeiner ist, überhaupt aber, wenn beide allgemein sind,
eins allgemeiner als das andre sein kann; sondern sie stehn
auch sonst inhaltlich in Beziehung zu einander. Man nimmt
213z. B. wohl einen Ausspruch an oder lehnt ihn ab, glaubt
Gesagtes oder nicht, nicht weil dieses Einzelne sich unter einen
allgemeinen Satz nach logischer Subsumtion fügt oder weigert,
sondern weil es zusagt, anspricht oder nicht; man entschließt
sich wohl zu einer Handlung oder billigt die Handlung eines
andern, nicht weil sie einer allgemeinen sittlichen Maxime
gemäß ist, sondern weil sie eine bestimmte Absicht fördert,
welche selbst wiederum auch keinen unmittelbar sittlichen Charakter
trägt. Man glaubt nicht die Ewigkeit der Höllenstrafe,
weil sie der Liebe Gottes widerspricht; ein andrer aber glaubt
sie, weil sie einmal als Dogma gelehrt wird. Dieser vermag
die Harmonie des All nicht anders zu appercipiren als durch
einen allweisen Schöpfer; jener glaubt, solcher Hypothese nicht
zu bedürfen. Der eine geht gern ins Schauspiel, der andre
lieber in die Oper; dieser in die Tragödie, jener in die Komödie.
Dieser schenkt sehr viel an seine Freunde, die seiner Geschenke
nicht bedürfen; jener tut es nicht und gibt lieber den Armen.
Dieser treibt Philosophie, jener empirische Naturwissenschaft
u. s. w. Jemand hat einen großen Verlust erlitten, z. B. eine
geliebte Person ist ihm gestorben; er sagt: ich kann es noch
nicht fassen, d. h. appercipiren. Zu subsumiren vermag er es
recht wohl, aber nicht mit seinem Gemüte zu harmonisiren; er
ist noch voll von Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken, Vorhaben,
Wünschen, welche das Leben des verstorbenen Geliebten voraussetzen.

211. Hierher scheint auch zu gehören, wenn wir aus den
Gesichtszügen einer Person erkennen, dass sie zornig, freudig,
mild, hartherzig u. s. w. ist.

212. Ein mächtiger Factor für die Apperception der
Lebensverhältnisse ist die Stimmung. Derselbe Tatbestand,
dieselbe Sachlage wird von dem Optimisten anders angesehen
als vom Pessimisten. Der eine weiß nur anzuklagen und zu
beklagen; der andre findet nur zu belachen. Der eine durchsucht
die Geschichte der Menschheit nach etwas Großem und
kann kaum etwas finden; der andre blickt um sich und sieht
die Größe in allem Kleinen. Ja, jeder einzelne denkt oft über
dasselbe heute anders als gestern. Unsere Lage schien uns
gestern ganz befriedigend, unsre Arbeit gelungen, unsre Zukunft
hoffnungsreich; heute fühlen wir uns unglücklich: unsre Arbeit
214wenig gelungen, unsre Zukunft trostlos — obwohl an der
Sache sich nichts geändert hat.

213. Diese harmonisirende Apperception scheint sich von
der subsumirenden nur dadurch zu unterscheiden, dass sie nicht
vollkommne Schlüsse, sondern nur Enthymemata liefert. Indessen
sind diese von jenen psychologisch wirklich verschieden.
Davon aber abgesehen, ist für die eigentümliche Stellung der
uns hier beschäftigenden Form der Apperception folgendes
entscheidend. Es gibt ein weites wissenschaftliches Gebiet, wo
das Einzelne weder beschrieben, noch unter das Allgemeine
gebracht wird. Dies ist das Gebiet der Geschichte. Die geschichtliche
Erkenntniss, im Gegensatze zu den rationalen
Wissenschaften, geht nicht auf das Allgemeine. Sie bleibt
allerdings nicht beim Einzelnen stehn, denn sonst wäre sie nicht
Wissenschaft; aber sie sucht das Einzelne dadurch zu verstehn,
dass sie es zu einem Ganzen, zur geschlossenen Gesammtheit
eines Bildes oder einer Entwicklung zusammenfasst (vergl.
Lazarus in der Zeitschr. f. Völkerpsych. und Sprachw. III, 408).
Wer z. B. in der dorischen Säule den Charakter des dorischen
Stammes erkennt, oder wer aus den Bauten, der Lyrik, der
Verfassung, der Geschichte der dorischen Städte die Eigentümlichkeit
des dorischen Geistes entwickelt, der stellt nicht
ein Einzelnes unter ein Allgemeines, sondern in ein Ganzes zusammengehörender
Bestimmtheiten. Hier ist also harmonisirende
Apperception. Eben so wird, denke ich, niemand in der philologischen
Tätigkeit, aus verderbten Handschriften den ursprünglichen
Text herzustellen, eine Subsumtion sehen, während
in dem Verständniss des Textes teils die identificirende, teils
(insofern es sich um Anwendung von Regeln handelt) die
subsumirende Apperception klar vorliegt. Auch der beschreibenden
Wissenschaften, insofern sie das Ganze eines Natur-Reiches
zusammenfassen, ist wohl hier zu gedenken.

214. Diese Bestimmung der harmonisirenden Apperception
für die Naturgeschichte und geistige Geschichte folgt eben daraus,
dass es sich in ihr nicht um einander über- und untergeordnete
Begriffe, sondern um das Verhältniss einander beigeordneter
oder verschiedenen Gattungen angehörender Begriffe (210) handelt.
Das Ganze mit seinen constitutiven Momenten kann man
doch nur sehr gezwungen unter die Kategorie des Allgemeinen
215und Besondern bringen. Dies gilt aber auch von Ursache und
Wirkung, Grund und Folge. Wer irgend etwas Gegebenes
sich dadurch begreiflich macht, dass er es als Wirkung einer
bestimmten Ursache ansieht, dass er dazu als zur Folge einen
Grund hinzudenkt, der mag dabei mannichfach subsumiren:
diese besondre Tätigkeit jedoch, das Hinzudenken eines bestimmten
Umstandes als Ursache oder Grund zum Gegebenen
ist keine Subsumtion.

215. Ich komme zur letzten Form der Apperception, die
ich aufzustellen weiss, zur vierten, die wir die eigentlich
schöpferische oder gestaltende nennen wollen, weil ihr eben
der Umstand eigentümlich ist, dass in den betreffenden Fällen
das appercipirende Moment selbst erst geschaffen wird; hierher
gehört das Erraten, Vermuten, Ahnen. Gegeben ist eine
geringfügige oder vereinzelte Warnehmung; oder es sind Vorstellungen
gegeben, die an sich unverständlich, weil zusammenhangslos
oder einander widersprechend sind. Hierzu werden
Vorstellungen von innen her gefügt, durch welche das Gegebene
ergänzt, vermittelt, verständlich gemacht wird: dieses wird von
jenen appercipirt. Da dieser Process sehr verwickelt sein kann,
so werden hier oft die andern Formen der Apperception zu dem
Gesammtergebniss beitragen.

216. Für die psychologisch rationale Betrachtung, welche
nur die Vollziehung eines Gedankens, aber weder seine Richtigkeit
und Wahrheit, noch auch seine Würde berücksichtigt, tritt
hier das Ahnen der Gottheit und einer unsterblichen Seele zusammen
mit jenen geringfügigen Vermutungen, an denen Frauen
so fruchtbar sind. Vorzugsweise aber nennen wir hier die Induction.
Sie appercipirt das Allgemeine, indem sie es aus dem
Einzelnen schafft, also mittelst des Einzelnen, und appercipirt
in demselben Acte durch dieses Allgemeine das Einzelne. Aber
nicht minder gehört die Deduction hierher, wenn sie das
Einzelne durch das Allgemeine begreift, z. B. den Blitz und
alle meteorologischen Ereignisse durch die Gesetze der Physik.
Wer den Blitz durch Elektricität appercipirte, der hatte für uns
ein neues Wesen oder einen neuen Vorgang im All geschaffen,
dabei auch ein altes vernichtet.

217. Beispiele für die Form der Apperception, die uns
hier beschäftigt, bieten uns alle jene großen Combinationen, auf
216denen ganz eigentlich die Förderung der Wissenschaft und die
fortschreitende Einrichtung des menschlichen Lebens beruht:
wie die Drehung der Erde um die Sonne, die Gleichheit des
Rechts. Ebenso die großen Conceptionen der Dichter. — Neben
der Lichtseite des menschlichen Geistes aber stoßen wir hier
auf seine Nachtseite, die nicht minder schöpferisch ist. In der
Illusion, der Hallucination, der Monomanie werden aus wenigen
Sinnes-Reizen, wenigen Vorstellungen volle Gestalten und Bewegungen,
Vorgänge, Gedanken gebildet. Don Quixote rüstet sich zu
einem Kampfe mit Riesen und besteht ihn, wo wir Windmülen
sehen. Aus dem Staube, den eine Schafherde aufwirbelt, erschließt
er die Ankunft eines Kriegsheeres. Er appercipirt das
was ihm sein Auge eben so bot wie es uns das unsrige gibt,
anders als wir, und darum sieht er Andres als wir.

218. Die Herschaft der Monomanie (d. h. der Apperception
jedes Gegebenen, mag es noch so verschieden sein,
durch dieselbige Vorstellungsgruppe) in der Wissenschaft ist
nicht geringer als im Leben; und dann schrumpft freilich die
Fülle der Gestaltungen zu den dürftigsten Kategorien zusammen.
Der eine sieht in der Geschichte (des Mittelalters und der
neuern Zeit) nur zwei Charaktere, die ihm im theoretischen wie
im praktischen Leben immer wieder begegnen: es ist dies
Siegfried (als Germane) und Don Juan (als Romane); weiter
gibt es nichts in Leben und Dichtung. Der andre hat nur
zwei Kategorien für die Auffassung der Geschichte: jüdisch
und christlich; jüdisch heißt unfrei, reactionär, neidisch, zerstörend;
christlich heißt frei, revolutionär, schöpferisch. Andre
haben ungefähr denselben Gegensatz, nennen ihn aber anders:
Teufel und Gott.

219. Der Mythos ist hier zu nennen als Illusion. Denn
das ist er, nicht Poesie, wie Don Quixote's erwähnte Apperceptionen
Illusionen sind. Der Dichter aber hat keine Illusion,
sondern Gleichnisse, von denen später. Übrigens vermag ich
die Fülle der hierher gehörenden Tatsachen selbst in den weitesten
Umrissen nicht zu zeichnen (s. 318—322).

γ) Macht der Vorstellungen.

220. Unter Macht der Vorstellungen verstehn wir nichts
andres als ihre Apperceptions-Fähigkeit. Da die Vorstellungen
217gar keine andre Aufgabe haben als zu appercipiren, so bezeichnen
wir mit ihrer Apperceptions-Macht nur den Grad der
Betätigung ihres Wesens.

221. Gelangen zwei größere oder kleinere Vorstellungsmassen
im Bewusstsein zusammen, so geraten sie auch notwendig
in einen Process; und wenn dieser nicht rein negativer
Art ist, d. h. so, dass eben nur die eine Masse die andre verdrängt,
so vollziehen sich mit Notwendigkeit die Vorgänge,
welche wir als mittelbare Reproduction, Verschmelzung und
Hemmung näher kennen gelernt haben. In diesen ganz mechanischen
Vorgängen aber liegt die Apperception.

222. Die Apperceptionsfähigkeit oder Macht der Vorstellungsgruppen
beruht also auf zwei Umständen:

1) darauf, dass die Gruppen leicht reproducirbar sind;

2) sie müssen so constituirt oder organisirt sein, dass sie,
einmal reproducirt, nicht ohne weitere Berührung durch
das Bewusstsein ziehen, sondern dass jede, sei es mit
der vorangehenden, durch welche sie hervorgerufen ist,
sei es mit der folgenden, welche von ihr gerufen wird,
in innige Berührung gelangt.

223. Beide Umstände zusammen bilden die Reizbarkeit
und Beweglichkeit der Vorstellungsgruppen gegen einander,
und hierauf beruht jede Gesundheit des Geistes, Objectivität
der Erkenntniss. Krankheit allemal und Irrtum, wo nicht etwa
die Mittel zur richtigen Einsicht fehlen, beruhen auf einer
Stockung in den Massen statt jener Beweglichkeit, auf einer
Stumpfheit und gegenseitigen Gleichgültigkeit statt jener Reizbarkeit.
Neben dieser Verstocktheit und Stumpfheit in den
meisten Gruppen kann eine erhöhte Reizbarkeit in einer einzigen
oder in einzelnen statthaben. Die Krankheit ist so gesetzmäßig
wie die Gesundheit. Was jener immer fehlt, und dieser
nicht immer in erwünschtem Grade zukommt, ist: Harmonie,
d. h. Allseitigkeit und dadurch von selbst Abstufung der Reizbarkeit
sämmtlicher Gruppen. Don Quixote besitzt einen nicht
geringen Gedanken-Schatz, der zugleich auch die größte Reizbarkeit
hat. Bloß diejenigen Vorstellungsgruppen, die sich auf
das Alltägliche, das Gegenwärtige beziehen, auf das Handgreifliche,
sind nur in dürftigen Massen in ihm vorhanden und ohne
alle Regsamkeit. Essen und Trinken erquickt ihn so wenig,
218als Hunger und Durst ihn plagt, oder als Schläge und Wunden
seines Leibes ihn schmerzen. Dass die Reize, welche sein
Auge von den sich drehenden Windmülen-Flügeln erhält, als
die ausschlagenden Arme eines Riesen gesehen werden, ist gesetzlich
notwendig, wenn die romantischen Vorstellungsgruppen,
die Riesenkämpfe, so reizbar, und daneben alle andern Massen
so völlig träge sind. Bevor diese in irgend welche Bewegung
geraten, wodurch sie appercipiren könnten, haben jene die
Arbeit nicht nur vollbracht, sondern auch schon andre homogene
Massen zu weitern, ergänzenden Apperceptionen veranlasst.

224. Worauf beruht nun die Reizbarkeit der Vorstellungs-Massen?
d. h. also woher stammt ihre größere oder geringere
Leichtigkeit, auf Sinnes-Reize zu reagiren? und welche Constitution
oder Organisation ist diejenige, welche die Übertragung
der Erregung ermöglicht, oder umgekehrt, welche die schwerere
oder leichtere Aufnahme der Erregung von einer andern Masse,
kurz die gute oder schlechte Leitung der Erregtheit bewirkt?
— Wir wollen aber, bevor wir an die Antwort gehn, zur Erläuterung
noch einen Blick auf die Tatsachen werfen, damit
wir besser sehen, um was es sich handelt.

Mir ist von einem fünf- bis sechsjährigen Knaben erzählt
worden, der, in einer größern Mittelstadt aufgewachsen, einige
wenige Vögel-Arten, wie Sperling, Schwalbe wohl kannte, aber
nicht wusste, dass dies Vögel sind. Mit dem Namen Vogel
bezeichnete er vielmehr einige andre Arten Vögel, deren
besondre Namen er nicht kannte. Er war nicht so unbegabt,
als verwarlost. Er appercipirte den Sperling als solchen, die
Schwalbe als solche, d. h. mit einer besonders für sie bestimmten
Masse. Das tut jeder Knabe; aber außerdem appercipirt er
jede dieser Arten und sie alle zusammen durch die Masse für
Vogel. Warum tat das jener Knabe nicht? Solche Masse hatte
sich in ihm nicht gebildet. Warum nicht? Der Knabe, welcher
den Begriff Vogel aus den Arten der Vögel bildet, vollzieht
unbewusst eine Induction, er schafft aus Besonderm Allgemeineres.
Wir wissen schon, wie bauschig diese Induction ausfällt; dass
sie nicht zu einem bestimmten Inhalte dringt, sondern nur in
der Verflechtung der besondern Gruppen besteht. Wir müssten
demnach sagen, dass in jenem Knaben, der vom Begriff Vogel
auch noch nicht einmal die Rudimente hat, wie sonst jeder,
219die Vorstellungs-Gruppen von den Arten nicht mit einander
verflochten, und darum nicht gegen einander reizbar waren. —
Vielleicht aber lag in ihm alles so wie in allen andern Knaben.
Auch diese würden aus eignen Mitteln nicht zum Begriff Vogel
kommen, wenn sie nicht das Wort dazu empfingen. Von der
schöpferischen Kraft des Wortes haben wir uns schon überzeugt
(110 f.) Jener Knabe aber hatte ja auch das Wort Vogel
gehört, aber nicht richtig appercipirt; er hat es zur Benennung
einer besondern Art herabgesetzt, und in dieser lagen vielmehr
mehrere Arten nicht unterschieden, wahrscheinlich weil er ihren
Namen nie gehört hatte. Warum fragte er aber nicht nach
dem Namen, und woher die falsche Verwendung des Wortes
Vogel? Bloß weil es seinen Vorstellungmassen an Reizbarkeit
gefehlt hat.

225. Unterricht, Erziehung konnte bald jenen Knaben
befähigen, den Begriff Vogel zu bilden. Es konnte also seinen
Vorstellungsmassen eine Reizbarkeit angebildet werden, die sie
noch nicht hatten; und es kann überhaupt eine Bewegung der
Gruppen absichtlich gelehrt und gelernt werden. Was sollte
denn überhaupt Erziehung und Unterricht, wenn nicht eben
dies: Reizbarkeit stiften, wo sie fehlt; sie mäßigen, wo sie zu
stark ist; sie lenken, wo sie nicht den rechten Weg nimmt.
Der Erzieher und Lehrer hat also Verbindungen und Verflechtungen
herzustellen, wo sie sich nicht von selbst bilden. In
derselben Lage, wie jener Knabe vor dem Begriffe Vogel, befindet
sich jeder Mensch vor den niedrigsten Tier- und Pflanzen-Formen,
bevor er es gelernt hat, sie als solche zu erkennen. Es
kann es aber jeder lernen, indem man ihm zeigt, wie die
wesentlichen Merkmale des Tieres und der Pflanze sich auch
in jenen Wesen wiederfinden. Man kann also einem Menschen
zeigen, d. h. ihn sehen machen, was er von selbst nicht sieht;
man kann seinen Blick, nämlich den innern Blick, so gut wie
den äußern lenken; man kann seine Aufmerksamkeit wecken
und leiten; das heißt: man kann eine bestimmte Apperceptions-Möglichkeit,
eine bestimmte Reizbarkeit einpflanzen oder erwecken,
wo vorher Stumpfheit die Massen regungslos hielt.
Man kann jemanden denken machen, wo er vorher wie die
Kuh vor dem neuen Tor stand (198), ja, wo er, niedriger als
solche Kuh, regungslos vorüberging.220

226. Es hat eine Zeit gegeben, wo niemand wusste, dass
der sogenannte Schimmel auf dem Brode eine Pflanze ist, und
wo noch niemand die Koralltiere kannte. Irgend jemand
musste dieses Wissen erst schaffen. Er musste suchen, untersuchen,
und finden; oder er fand zwar, ohne absichtlich gesucht
zu haben; aber immerhin musste er auf etwas aufmerksam sein,
was vorher der Aufmerksamkeit aller entgangen war. Man
kann also appercipiren, indem man in sich selbst in dem Augenblicke
der Apperception die notwendige Reizbarkeit und Beweglichkeit
erst schafft. Das tut jeder, der eine bis dahin
unbekannte Induction vollzieht oder kennen lernt, einen neuen
Begriff erzeugt (216, 217).

227. Wir wollen uns hier auch wieder der Anekdote erinnern,
von der wir ausgingen (128). Dort war eine Rätselfrage
gegeben. Es sollte eine schwer begreifliche, weil der
Natur des Daseins widersprechende, Eigenschaft dennoch als
wirklich vorhandene Eigentümlichkeit eines Wesens appercipirt
werden, und zwar dadurch, dass man das Wesen fand, dem
in der Tat diese Eigentümlichkeit zukomme. Warum gab jeder
aus der Gesellschaft eine andre Antwort? Die Anekdote ist
erfunden — mag sein: Wir können sie sogleich wirklich machen,
haben sie wahrscheinlich schon wirklich gemacht. Als die
Leser die aufgegebene Frage lasen, werden sie in überwiegender
Mehrheit die Antwort „Revolution” bereit gehabt haben. Sehr
bald wird manchem von ihnen auch Kronos eingefallen sein,
an den andre wohl zuerst gedacht haben mögen. Ob unter
den Lesern dieser Seite auch mir ein einziger an den Saubären
gedacht hat? Der Erfinder der Anekdote aber hat fünf Antworten
erdacht. Warum ist ihm die Penelope nicht eingefallen,
die des Nachts auflöst, was sie am Tage gewoben? Warum
kat keiner aus der Gesellschaft geantwortet: das Spiel oder
das Kind? Es muss keine Kindergärtnerin darunter gewesen
sein. — Wenn aber jemand auf solche Frage mehrere Antworten
zu geben weiß, so findet er sie doch nicht mit einem
Schlage, sondern nach einander in bestimmter Reihenfolge;,
warum gerade in dieser und nicht in einer andern Folge? —
Die jedesmalige Antwort ist eine Apperception der gegebenen
Frage durch irgend eine Vorstellungsgruppe; die Verschiedenheit
der Antwort wird durch die der Gruppe bedingt. Wir
221stoßen also hier auf das Problem: warum appercipirt jeder aus
der Gesellschaft mit einer andern Gruppe, Dieser mit dieser;
Jener mit jener, und warum appercipirte derjenige, welcher
mehrere Antworten gab, mit mehreren Gruppen, und warum
waren die Gruppen in solcher Reihenfolge tätig?

228. Wir müssen das Problem, das uns hier entgegentritt,
noch durch folgende Betrachtung vervollständigen. Da in jedem
Menschen jede Vorstellungsmasse mit mehreren und sogar, wenn
sie etwas zusammengesetzter ist, mit vielen Verbänden und
Massen von Vorstellungen verflochten ist, warum erweckt sie,
wenn sie producirt ist, gerade diese Masse zur Apperception
und nicht eine andre? Der Leser mag es leicht oder schwer
finden zu sagen, warum Don Quixote, der doch wohl Windmülen
kannte, wenigstens hätte kennen sollen, den Anblick
derselben nicht mit der Vorstellungsmasse von den Mülen,
sondern mit einer, wie uns scheint, sehr fernen, sehr wenig
congruenten Masse appercipirt hat. Es kommt aber darauf an,
allgemein zu bestimmen, worauf die Apperceptions-Macht der
Vorstellungen beruht; und es ist uns wichtiger, die gesunden
Apperceptionen zu begreifen, als die kranken. Wir fragen dies:
nicht bloß bei der Vergleichung mehrer Personen beobachten
wir, dass das ihnen in gleicher Weise Gegebene oder Vorliegende,
von jedem mit einer andern Masse appercipirt werden
kann, sondern dass auch in demselben Menschen, obwohl doch
notwendig mehrere Massen in ihm angeregt werden müssten,
doch nur eine von diesen appercipirend wirkt, und dass in ihm
zu dieser Stunde diese Gruppe, zu einer andern eine andre zur
Apperception desselben Gegebenen bereit ist.

229. Indem wir nun diese Aufgabe zu lösen suchen, wollen
wir damit beginnen, anzuerkennen, dass die gegebenen Vorstellungen
ihre reproducirende Kraft an jeder Gruppe ausüben,
mit welcher sie verflochten sind. So liegt der Fall von 92 vor
uns. Denn hier wie dort muss ein Xz, das gegeben ist, die
Gruppen Az, Bz... Nz zur Reproduction reizen, weil es mit
allen diesen verflochten ist; da aber die Elemente A, B … N
dieser Gruppen einander hemmen, so könnte es dennoch zu
keiner wirklichen Reproduction gelangen, und es müsste alles
im Streben bleiben. Schon dort jedoch hatten wir bemerkt,
dass es sich tatsächlich nicht so verhalte; wir hatten dann (100)
222eine ungleiche Macht der Vorstellungen vorausgesetzt und an
die größere Macht appellirt. Hier nun, nachdem uns soeben
die mannichfachsten Tatsachen bewiesen haben, dass solche
verschiedenen Grade der Macht der Vorstellungsgruppen wirklich
vorhanden sind, ist der Ort, wo gezeigt werden muss,
worauf diese Macht und ihre verschiedene Größe beruht.

230. Wir bemerken nun:

1) Je reicher eine Gruppe ist, um so häufiger wird sie
Gelegenheit finden zu appercipiren; denn um so häufiger werden
sich in ihr Bestandteile finden, welche mit Bestandteilen des
Gegebenen congruent sind.

2) Je öfter eine Gruppe reproducirt wird, um so leichter
wird sie sich reproduciren lassen. Dies ist die Macht der
Gewohnheit, der Vertrautheit, der Übung.

Diese beiden Punkte stehen offenbar in Wechselwirkung.
Eine Gruppe wächst um so mehr, je öfter sie zu Apperceptionen
hervorgerufen wird; und je reicher sie wird, um so öfter bietet
sie Veranlassung hervorgerufen und verwendet zu werden.
Daher sind die Vorstellungs-Gruppen, welche sich auf den
Beruf, die Lebensweise, die alltägliche Beschäftigung des Menschen
beziehen, für jeden sowohl die reichsten als auch die am
leichtesten in Wirksamkeit geratenden.

3) In den beiden genannten Punkten wirkt die Gruppe als
bloße Masse. Je größer die Masse, desto größer ihre Attractionskraft.
Alles aber was wir Bildung nennen, beruht auf der
Gliederung, der Organisation der Massen, auf dem Verhalten
ihrer Bestandteile gegen einander.

In der letzten Beziehung, wobei große Gruppen vorausgesetzt
werden, gilt das Gesetz:

Eine Gruppe ist um so mächtiger, je gebildeter
sie ist.

231. Bildung erzeugt Vielseitigkeit der Verbindungen oder
Beziehungen der Bestandteile unter einander, so dass z. B. ein
Teil K nicht bloß an I und L hängt und damit ein Glied der
Reihe A … Z wird, sondern dass dieses K auch unmittelbar
auf G und H und P bezogen ist. Solche Gruppe ist

a) reizbarer, weil die Erregung irgend eines Punktes, welche
an sich zu schwach wäre, um die Gruppe steigen zu lassen,
schnell noch andre Punkte und so die ganze Masse weckt.223

b) Die gegliederte Gruppe ist nicht bloß reizbarer, also
schneller zur Apperception bereit, sondern auch beweglicher,
und darum wirksamer, kräftiger. Jeder Teil bildet, indem er
auf den Haupt-Mittelpunkt und auf mehrere kleine Mittelpunkte
bezogen ist, auch selbst einen Mittelpunkt, auf den die andern
Teile bezogen sind. Solche Gruppe wirkt also nicht bloß als
einförmiges oder einartiges Ganzes, sondern kann mit jedem
Teile appercipiren, und so vermag sie nicht nur mehr, sondern
auch feineres zu leisten.

232. Hieraus folgt:

1) Es wird einerseits jeder Mensch das ihm Vorliegende
am leichtesten, am schnellsten, am gehaltvollsten und am liebsten
mit derjenigen Gruppe appercipiren, die in ihm die reichste,
geübteste, gebildetste ist. Was er mit dieser nicht zu appercipiren
vermag, wird er mit einer andern Gruppe ungern, schwer,
langsam und mangelhaft appercipiren.

2) Und da nun andrerseits in verschiedenen Menschen die
apperceptionsfähigste Gruppe immer eine andre ist, so wird
dasselbe mehreren Menschen Vorliegende von jedem mit einer
verschiedenen Gruppe appercipirt werden.

3) Sind aber in einer Person mehrere Gruppen für dasselbe
Vorliegende apperceptionsfähig, so wird die, welche die höhere
Macht besitzt, am schnellsten an die Arbeit gehen, und meist
auch wohl sie am leichtesten und besten ausführen, wonach
dann erst die andern Grupen sich in Bewegung setzen werden.
Doch sind hier der Möglichkeiten mancherlei. Es könnte eine
Gruppe die weniger fähige sein, im vorliegenden Falle aber
dem Gegebenen angemessener u. s. w.

233. Die angegebenen Bedingungen zur Apperceptionsfähigkeit
schließen nämlich noch nicht alles in sich, was für
jeden Fall die ausreichende Erklärung dafür geben könnte,
warum gerade diese Gruppe und nicht eine andre sich zur
Apperception eingestellt hat. Wir wollen bald weitere Bedingungen
suchen, zunächst aber das schon Gefundene noch weiter
erläutern.

234. Die Bedingungen für die höchste Apperceptionsfähigkeit
finden sich, wie schon bemerkt, bei den verschiedenen
Personen in immer andern Gruppen verwirklicht; es wird aber
auch in der Tat in jeder Person ein Kreis von Vorstellungen
224sich befinden, und zwar nur einer, für den in bevorzugter Weise
die Apperceptionsbedingungen vorhanden sind, und welcher der
mächtigste ist. Diesen Kreis, auf welchem die Eigentümlichkeit,
die Kraft und die Beschränktheit, und wenn er sich krankhaft
verengt (in seiner Wirksamkeit aber krankhaft erweitert),
die Monomanie einer Person beruht, wollen wir (mit Lazarus,
Leben der Seele I, 221) die herschende Gruppe nennen.
Sie ist bei dem einen eine theoretische, beim andern eine
praktische; bei dem einen mathematisch, beim andern ästhetisch
u. s. w.

235. Demnach ist es leicht begreiflich, wie in unserer
Anekdote einerseits jedes Mitglied der Gesellschaft mit der in
ihm herschenden Gruppe eine vorgelegte Frage appercipirte,
und wie andrerseits aus der Antwort, d. h. dem Ergebniss der
Apperception zunächst auf die appercipirende Gruppe und von
dieser als der herschenden auf den Stand jedes Einzelnen geschlossen
werden konnte. — Eben so leicht ist die Klugheit
jenes Hirtenknaben begreiflich. Er saß unter einer Eiche. Es
geht jemand vorüber, der mit einem Blicke auf dieselbe unwillkürlich
vor sich her sagt: „Prächtiges Bauholz!” „Guten
Tag, Zimmermeister”, ruft der Knabe. Ein andrer kommt:
„Schöne Borke”! Der Knabe darauf: „Guten Tag, Gerber”!
Ein Dritter bricht in den Ruf aus: „Welch herrliche Krone”!
„Guten Tag, Maler”.

236. Die Herrschaft der herschenden Gruppe ist nicht
in allen Personen gleich. Sie kann, so zu sagen, absolut monarchisch
sein. Es werden zumeist wohl dürftige Köpfe sein,
in denen solcher Absolutismus herrscht. Reuter in seiner
Stromtid zeichnet den Hans Jochen, der für alles was ihm begegnet,
nur eine Redensart hat, mit der er alles abmacht.
Immermann hat ähnliche Charaktere, und sie fehlen weder
andern Roman-Dichtern noch auch der Wirklichkeit. — Hier
ist der Absolutismus so auffallend, weil er von einem so dürftigen
Momente geübt wird. Er zeigt sich aber auch ausgehend von
einer reichen und gediegenen Gruppe in jenen einseitigen, wenn
auch in dieser einen Richtung sehr tüchtigen Geistern. Sie
sehen jedes Ding entweder nur von einem Gesichtspunkt aus
oder gar nicht. Sie geraten darum auch nicht leicht in Zweifel;
ihr Urteil ist schnell, scharf und bestimmt. Sie sind starr und
225unnachgiebig. Sie wissen was sie wollen; und das fordern sie
ohne Nachsicht, und das leisten sie ohne Abzug: denn alles
dies wird nur von einer Gruppe abhängig gemacht. — In diesen
Fällen ist die eine Gruppe vorzüglich entwickelt, und es gibt
keine andre, die ihr durch Reichtum oder Reizbarkeit und
Beweglichkeit an Macht nahe käme. Die andren sind an sich
schwach und träge und arbeiten nur mit Unterstützung (man
möchte sagen auf Befehl oder mindestens mit Genehmigung)
der herschenden Gruppe.

237. In andern Fällen ist die Herrschaft nicht so absolut.
Neben der mächtigsten Gruppe bestehen andre, weniger mächtige
zwar, die aber doch unter gewissen günstigen Umständen
auch ohne Hülfe der herschenden Gruppe wirksam werden,
und gelegentlich selbst gegen diese. Hier findet sich eine viel
mannichfaltigere Bewegung in Folge mehrseitiger Förderung
und Hemmung. Ist das Gegebene etwas einfaches, von geringem
Belang, so wirkt es hier zuweilen wohl nur auf irgend eine der
weniger mächtigen Gruppen, und die herschende lässt dieser
freies Spiel. Ist das Vorliegende aber zusammengesetzt und
mehrseitig, so sind für seinen Reiz außer der herschenden
Gruppe doch auch noch andre empfänglich. Jene mag den
Vortritt haben und das erste Wort reden; dann macht sie doch
den andern Platz und lässt auch sie zu Worte kommen. Von
den fünf Personen unserer Anekdote war gewiss keine so
monistisch, dass sie nicht nach einigem Besinnen auch noch
eine andre Antwort gefunden hätte, d. h. dass nicht, nachdem
die herschende Gruppe ihre Ansicht geäußert, auch noch eine
andre Gruppe ihre unmaßgebliche Meinung verraten hätte.
Dann könnte sogar gelegentlich eine dritte Gruppe die Richtigkeit
der letztern mit so eindringlicher Beredsamkeit darlegen,
dass die herschende nachgibt. Psychologisch wäre dies das
Ideal geistiger Constitution, dass jedes Gegebene möglich viele
Gruppen erregt, welche sich in abgestufter Macht zur Geltung
bringen: obwohl auch dies noch nicht vor Irrtum schützen kann.

238. Letzteres Verhältniss kann in einen völligen Mangel
an einer herschenden Gruppe ausarten. So stellt es sich dar
in Krankheiten (Blödsinn und Narrheit), wo es entweder auch
nichts gibt was zu beherschen wäre (Gedanken-Leere), oder
wo die Vorstellungen ungeordnet und vereinzelt durch das
226Bewusstsein jagen. Dies ist ein Analogon der individualistischen
Ochlokratie. — Es kann jedoch der Mangel einer monarchischen
Gruppe auch eine sehr edle Gestalt annehmen. Man denke an
gewisse Personen, welche auf jedem Gebiete zu Hause sind,
theoretisch wie praktisch, überall neben Kenntnissen auch ein
geistreiches Urteil haben; denen es aber eben darum an einem
Centrum fehlt. Es sind aristokratische Naturen, deren geistige
Organisation auch das Bild einer Aristokratie gibt. Sie produciren
nichts und sind vorzugsweise zum Genusse befähigt.
Sind sie glücklich, so sind sie auch wohlwollend. Sie sind
dankbar für das, was ihnen andre zum Genusse bieten, und
begünstigen alle, welche produciren können. Es sind die
Mäcene. Sie können aber ihr Glück nur dem Geschicke verdanken;
und wehe ihnen, wenn sie ohne Glück geboren sind.
Denn ringen, kämpfen ist nicht ihre Sache. Sie versuchen
dies und jenes ohne Ausdauer; denn hinter nichts steckt die
Energie einer bevorzugten, anspornenden, regierenden, befehlenden
Gruppe. So will auch nichts entschiedenen Erfolg erringen.
Nun bleiben sie zurück in ihrer Stellung. So gewinnt
der Zweifel an der Richtung wie an dem Grade ihrer Befähigung
Raum. Jetzt kommt es darauf an, wie stark die ethische Vorstellungs-Gruppe
ist. Ist sie schwach, so entsteht leicht Blasirtheit.
Das anfängliche Wohlwollen für jede Bestrebung andrer schlägt
um in Mäkelei gegen alle Leistungen; und richten sie ihre Kritik
gegen sich selbst, so wird diese zur Skepsis, und sie zehren
sich auf in ewigem Wollen, Produciren und Selbst-Verurteilen
und Vernichten der eigenen Arbeit. Auch sie bilden eine Antwort
auf das Rätsel unserer Anekdote. [Heine=Zerrissenheit.]

239. Endlich ist noch der Fall möglich und wohl zu
beachten, dass zwei absolut herschende Gruppen ohne Kampf
neben einander bestehn — ohne Kampf, weil sie das Gebiet
unter sich geteilt haben. Namentlich beachtenswert ist die
Verfassung, in welcher eine religiöse und eine weltliche Gruppe
friedlich neben einander herschen und selbst da nicht in Streit
geraten, wo sie sich an demselben Orte berühren und ihre
widersprechenden Aussprüche abgeben. In England sind Personen,
deren Bewusstsein so organisirt ist, nicht selten; sie
fehlen auch in Deutschland nicht. Es kann also vorkommen,
und es ist psychologisch begreiflich, dass ein ausgezeichneter
227Anatom und Physiolog zu den ausgestellten Gebeinen eines
Heiligen wallfartet, und die Erbauung, welche er hier findet,
dadurch nicht gestört wird, dass er die gezeigten Heiligtümer
als Tier-Knochen erkennt. Normal ist ein solches Verhältniss
nicht, aber begreiflich; und wir sind nicht berechtigt, mit dem
Vorwurfe der Verstellung und Heuchelei um uns zu werfen.
Selbst in den Fällen, die in Deutschland so häufig sind, wo
die beiden herschenden Massen, die religiöse und die wissenschaftliche,
einander widerstreben und bekämpfen, und der Friede
nur dadurch hergestellt ist, dass der wissenschaftlichen Gruppe
in dem Kampfe nicht gestattet wird, ihre volle Macht zu entfalten:
selbst da werden der Religion meistenteils Hülfsmächte
beigestanden haben, die wir nicht bedingungslos als unberechtigt
mitzustreiten verurteilen können.

240. Wir wollen nicht genauer zusehen, in wie vielen
Formen die Friedens-Verträge zwischen zwei herschenden
Gruppen zu Stande kommen können. Als günstiger muss das
Verhältniss, rein psychologisch genommen, anerkannt werden,
wenn zwar eine einzige Gruppe ihre Macht überallhin erstreckt,
und keine Bewegung ohne ihre Mitwissenschaft vollzogen wird,
aber doch so, dass jede Gruppe ihre volle Eigentümlichkeit des
Wirkens bewart, dass der Inhalt des Apperceptions-Ergebnisses
durch jene Herrschaft nicht entstellt wird, sondern nur
der ganze Vorgang einen gewissen Duft und ein gewisses Licht
von der herschenden Gruppe erhält, weil mit dieser jede andre
nach irgend einer Seite oder nach mehreren Seiten verflochten
ist. Von der Würde der herschenden Gruppe hängt es ab,
ob wir auch anders als psychologisch solches Verhältniss billigen
sollen. Denn gerade nichts andres als dies ist z. B. der Schwung
und die Erhabenheit mancher Charaktere; nicht daher rührt der
Eindruck solcher Personen, dass sie immer in der Höhe leben,
sondern bloß dass immer ein Licht von oben sie umwebt. Tiefe
religiöse Gemüter, idealistische Charaktere werden keine sinnliche
Lust verschmähen und verdammen, aber jeden Genuss
idealistisch umweben; und die heilige Sitte aller sittlichen
Völker hat in der Ehe das Gemeinste mit dem Höchsten
getraut — nach dem Vorbilde der Natur, welche die Erhaltung
der Gattung an den höchsten Selbst-Genuss zu knüpfen, ich
möchte sagen, vorsichtig genug war.228

241. Alle Individualität beruht darauf, dass eine herschende
Gruppe vorhanden ist, und sie wird bestimmt durch den Inhalt
dieser Gruppe und durch ihr Verhältniss zu den andern.
Dies gilt nicht bloß von der Individualität der einzelnen Menschen,
sondern auch ganzer Gemeinden, religiöser und politischer,
ganzer Schulen, literarischer, wissenschaftlicher und
artistischer, ja ganzer Zeiten. Rubens hat anders appercipirt
als Raphael, d. h. er hat eine andre herschende Apperceptions-Gruppe;
und dasselbe gilt vom Griechen und vom Römer, vom
Juden und vom Christen, vom Mittel-Alter und dem 18. Jahrhundert
u. s. w.

242. Die herschende Gruppe ist aber, abgesehen von
krankhaften Fällen, keineswegs die allein wirksame; wir appercipiren
oft genug mit den schwächern und schwächsten. Es
gibt also Bedingungen, unter denen auch die letztern die zur
Apperception notwendige Macht erlangen. Mit dieser Betrachtung
kehren wir zu 230—233 zurück und füllen wir die oben
(100. 120. 179 f.) angedeuteten Lücken unserer Darlegung aus
(296 ff.).

Es kommt hier vor allem der Fall in Betracht, dass das
Gegebene mit der herschenden Gruppe nichts oder wenigstens
nicht soviel gemein hat, dass es nicht weit überwogen werden
sollte durch die Beziehung zu einer andern Gruppe. Alle fünf
Typen unserer Anekdote, und welche Gruppe auch sonst noch
die herschende sein mag, werden z. B. mit Ergötzen einen
schönen Wasserfall oder irgend ein Drama sehen u. s. w. Nur
Don Quixote sieht keine Windmüle, aber jeder von uns, was
er auch sei, und wie gleichgültig sie ihm auch sein mag. Wir
sagen also:

Die Congruenz des sinnfällig Gegebenen mit irgend
einer Vorstellungsgruppe verleiht dieser eine besondre
überwiegende Macht für den vorliegenden Fall.

Oder:

Je congruenter eine Gruppe dem Gegebenen ist, um so
mächtiger ist sie für diesen Fall, und überläuft andre Gruppen,
denen sie sonst an Macht bei weitem nachsteht.

243. Weiter gehend erinnern wir uns, dass die Frage nicht
bloß sein darf: mit welcher von mehren Gruppen wird ein Gegebenes
229appercipirt? sondern auch: welches von mehren Gegebenen
(da ja dem Menschen fast in keinem Augenblick nur
eins gegeben ist) wird appercipirt? Auf diese Frage lautet
die nächste Antwort:

Im allgemeinen hat das sinnlich Gegebene eine größere
Macht, als das bloß in der Vorstellung Gegebene.
Besonders sind es Reize auf das Gehör und den Geruch,
die so stark sein können, dass sie sich uns mit unabweisbarer
Macht aufdrängen. Das Licht erhält solche
Gewalt erst, wenn es schmerzhaft auf das Auge wirkt,
ist aber immerhin sehr mächtig.

Zur Bestätigung dieses Satzes erinnre ich daran, wie wir von
Gerüchen überfallen werden; ferner, dass wir bei der Arbeit
der mächtigsten Gruppen, z. B. wenn wir studiren, durch
Plaudern, Lärmen, Zischeln u. s. w. gestört werden; auch daran,
dass man wohl, um unzerstreut nachzudenken, das Auge zudrückt
oder ihm die Richtung auf einen Platz gibt, wo nichts
zu bemerken ist.

244. Immerhin aber kann auch umgekehrt eine mächtig
wirkende Gruppe, welche in einer Stunde in unserm Bewusstsein
ist, die Wirkung der Sinnes-Reize auf die congruente
Gruppe völlig lähmen. Mit irgend welchen Gedanken beschäftigt,
die uns interessiren, d. h. bei der Tätigkeit mächtiger
Gruppen, sehen und hören wir tausend Dinge nicht, die um
uns her vorgehen.

245. Wir definiren also als eine der wichtigsten Bedingungen
für die relative Macht der Gruppen

das Interesse: es ist die Bereitwilligkeit einer Vorstellungsgruppe
zu appercipirender Tätigkeit.

Das Interesse wirkt sowohl darauf, was appercipirt werden
soll, wenn mehres gegeben ist, als auch womit appercipirt
werden soll. Überhaupt wird auf beide Fragen schließlich die
eine und selbige Antwort gegeben:

Es wird allemal diejenige Apperception von mehreren
möglich gemeinten vollzogen, in welcher die mächtigere
Gruppe, sei es die absolut oder nur die für den besondern
Fall mächtigere, in Wirksamkeit kommt.

Nur wer eine mächtige mathematische Vorstellungsgruppe
hat, interessirt sich für einen neuen Fund auf dem Gebiete der
230Mathematik u. s. w. Knaben plaudern mit einander während
des Unterrichts und hören nichts von dem was der Lehrer sagt.
Jetzt aber streut dieser ein amüsantes Geschichtchen ein, und
dieselben Knaben horchen auf. Für den Lehrgegenstand hatten
sie nicht die bereitwillige Masse, aber für das Histörchen.

246. Interesse erweckt Aufmerksamkeit, und in Folge
dieser bemerkt man. Aufmerken bedeutet die Bewegung auf
das Object, bemerken die Ankunft bei demselben; d. h. eine
Gruppe gerät in einen Process als appercipirende und hat
schließlich ein Ergebniss. Es liegt jedoch im Merken mehr
als das bloße Appercipiren. Wir haben schon gesehen, dass
man auch ohne zu merken appercipiren kann (125. 139 f.). Im
Merken liegt noch, dass man das Apperceptions-Ergebniss als
gewonnenes Eigentum bezeichnet und damit dessen Besitz
sichert und befestigt, während es ohne dies verschwinden kann,
als wäre es nie gewesen. Doch ist dies Merken nicht ein besondrer
Act einer besondern Kraft der Seele, sondern nur eine
vollere Apperception oder eine Neben-Apperception, welche
eine Beziehung stiftet, die mit der Auffassung des Gegenstandes
an sich noch nicht gegeben ist. Man bemerkt, dass Jemand
einen grauen Bart hat, indem man nicht bloß die graue Farbe
des Bartes sieht, sondern, nachdem diese Apperception vollzogen
ist, auch noch den grauen Bart mit dem schwarzen
Haupthaar oder mit der früher gesehenen und jetzt wieder erwarteten
Farbe des Bartes vergleicht, also nochmals appercipirt
(Vergl. 184. 289).

247. Interesse, war soeben gesagt, erweckt Aufmerksamkeit;
d. h. Bereitwilligkeit bewirkt Bereitschaft.

248. Interesse, so schien es (245), setzt Macht voraus.
Genauer wollen wir jetzt sagen:

Interesse setzt ein mächtiges Bedürfniss voraus.

Dieses Bedürfniss kann, wie schon ausgedrückt, das bloße
Bedürfniss nach Betätigung sein: hierauf beruht das Vergnügen
am Spiel. Es kann aber auch ein Bedürfniss nach Ergänzung
sein; d. h. die Unfähigkeit einer Gruppe etwas zu appercipiren,
wovon sie doch gereizt wird.

249. Im erstem Falle kommt doch noch etwas hinzu.
Denn eine große Macht ist gegen alles, was sie mit Leichtigkeit
ausführen kann, und was sie schon unzählige male ausgeführt
231hat, gleichgültig. Gewohnheit stumpft ab. Es ist wirklich der
Gegensatz anzuerkennen, dass einerseits Interesse auf Macht
beruht, und dennoch durch Macht geschwächt wird. Der Widerspruch
wird wohl dadurch ausgeglichen, dass bei der Betätigung
doch immer eine Abwechslung eintritt, und der Vorgang heute
doch nie der ganz gleiche wie gestern ist. Es macht sich für
jeden Act eine andre erschwerende Bedingung geltend. Es erscheint
nicht die reine Wiederholung. Oder es reizt die Hoffnung
immer vollkommnerer Ausführung. Wo beides nicht stattfindet,
da wird auch die Macht das Interesse töten.

250. In dem andern Falle aber, wo eine Ergänzung erstrebt
wird, kann es sich leicht fügen, dass das Interesse für
einen Gegenstand gar nicht von derjenigen Masse ausgeht,
welche zur Apperception berufen ist. Ein Sprachforscher stößt
auf die Wichtigkeit der Kategorie „Gegensatz”; er hat Interesse
für diese, welche aber zunächst nicht mit der grammatischen, sondern
mit der metaphysischen Gruppe zu appercipiren ist; letztere
jedoch hat vielleicht sehr geringe Macht. Er stärkt diese
durch Studium der Metaphysik und versenkt sich in Speculationen.
In der Unterhaltung mit einem Physiologen macht
ihm dieser ganz gelegentlich einige Mitteilungen über die
embryonische Entwickelung der Geschlechtsteile. Dem metaphysicirenden
Sprachforscher kommt wie ein Blitz der Gedanke,
dass diese Entwickelung des die ganze organische Natur beherschenden
Gegensatzes das hellste Licht auf das eigentliche
Wesen des Gegensatzes überhaupt werfen müsse, und er hat
plötzlich Interesse für Anatomie, obwohl er kaum eine Gruppe
hat, die man anatomisch nennen kann. — Wenn man vom
Streben nach etwas fehlendem spricht, so gerät wohl die Sophistik
(auch die natürliche; denn das natürliche Denken, der
Gefahr unbewusst, kann sich am wenigsten vor Sophistik
schützen) zu der Behauptung, hier wirke ein Mangel, ein
Nichts. Es wirkt aber überall eine Macht, wenn auch oft
versteckt.

251. Das Interesse sitzt also am stärksten in der herschenden
Gruppe (234); und wie die Form der Herrschaft
(236—241), so zeigt sich auch das Interesse verschieden, nämlich
ein-, mehr- und vielseitig. Wenn nun in einer Person
eine entschieden herschende Gruppe fehlt, wenn also das
232Interesse in mehren Gruppen gleich groß ist, und obenein diese
Gruppen unter sich nicht verflochten, so wird gar leicht aus
der Vielseitigkeit des Interesses eine störende Zerfahrenheit.
Wahrhafte Vielseitigkeit einer Individualität fordert allemal
Concentration; d. h. sie fordert, dass einerseits zwar außer der
herschenden Gruppe noch mehre, durch sich mächtige Gruppen
bestehen, welche aber andrerseits sowohl unter sich, als auch
besonders mit der herschenden Gruppe aufs mannichfachste
verflochten sind. Aus dieser Verflechtung geht sowohl eine
gesteigerte Macht für jede einzelne Gruppe hervor, als auch in
jeder derselben sich gar leicht ein Bedürfniss erhebt, weil sie
nicht nur für sich und durch sich besteht, sondern auch für
und durch die andre. Sie muss sich und den andern Gruppen
genügen. Je schwerer dies gelingt, um so leichter entsteht das
Gefühl des Bedürfnisses.

252. Interesse beruht demnach auf dem gefühlten oder
erwarteten Behagen an Betätigung; und dieses Behagen als
bevorstehend geweckt bewirkt unmittelbar Bereitschaft (245. 247).

253. Bereitschaft einer Gruppe zur Apperception ist
ihre unvollkommne Reizung.

Die Unvollkommenheit liegt zunächst darin, dass nur die
allgemeineren oder allgemeinsten Elemente einer Gruppe erregt
sind, aber kein besonderes, das doch zur Ergänzung des allgemeineren
hinzutreten muss. Da nun dieses mit jenem associirt
ist, so muss von diesem auch jenes reproducirt werden;
da aber jedes Allgemeinere mit mehreren Besonderheiten associirt
ist, welche sich einander ausschließen, so kann es gar
keine Besonderheit reproduciren, also auch selbst nicht reproducirt
werden. Der Erfolg ist nun wiederum nicht Nichts,
sondern (wie 92 ff.) eine eigentümliche Spannung unter den
Bestandteilen der Gruppe — ein allseitiges Streben in das Bewusstsein
zu gelangen, also ein allseitiges Drängen, das sich
selbst daran verhindert, ans Ziel zu dringen. So ist jedes
Element bereit zur Reproduction und wird wirklich reproducirt
werden, wenn es von irgendwo her zu seiner Macht, die es
jetzt im Drange gegen andre aufzehrt, einen solchen Zuwachs
erhält, dass es die anderen Elemente zurückdrängen und untätig
machen kann. Dann steigt es mit voller Macht und die Bereitschaft
wird Wirklichkeit.233

254. Eine Gruppe, die schon in Bereitschaft geraten ist,
ist mächtiger als manche andre, oft als jede andre, die
an sich genommen, mächtiger wäre.

255. Hiernach begreifen wir die Macht gewisser ganz allgemeiner
Verhältnisse auf unsre Vorstellungen; sie erzeugen
nämlich eine Bereitschaft in gewissen Gruppen, und allerdings
um so leichter, je mächtiger sie schon an sich sind. So wird
das Dunkel und die Stille der Nacht bei den meisten Menschen
den Lauf der Vorstellungen beeinflussen. Schon die Wirkung
aller die Nacht begleitenden Natur-Verhältnisse auf die Nerven
ist nicht gleichgültig, die Wirksamkeit derselben bald herabdrückend,
bald steigernd. Das Meiste jedoch tut das menschliche
Leben, Gewohnheit, Bestrebungen und Aberglaube hinzu. Durch
den Wald in finsterer Nacht schreitend, sieht der Abergläubische
Gespenster, d. h. er appercipirt den faulenden Baumstumpf
oder was sonst in hellerer Färbung sein Auge reizt,
mit der in Bereitschaft geratenen abergläubischen Masse von
Gespenstern und übernatürlichen Wesen — mit einer Masse,
die während des ganzen Tages in tiefem Schlafe liegt. Der
Geldliebende hört in jedem Säuseln oder Rasseln des Laubes
sich verbergende, hervorspringende Räuber. Dagegen pfeift
sich der wohlgemute Wanderbursche ruhig sein Lied. Das
Unbehagen, die Furcht der ersteren ist Folge der Bereitschaft
der Vorstellungs-Masse, welche zur Tätigkeit drängt.

256. Sind die Verhältnisse bestimmterer Art, so wird es
nicht immer gerade die herschende Vorstellungsmasse sein,
die in Bereitschaft gerät, sondern die den Verhältnissen analoge,
wenn diese überhaupt vorhanden ist und einige Reizbarkeit
besitzt. Jeder Geschäftsmann, Künstler oder Gelehrte, wenn
er religiösen Stimmungen zugänglich ist, wird, welche Masse
in ihm auch die herschende ist, beim Eintritt in die Kirche
andächtig, d. h. die religiöse Gruppe seiner Vorstellungen tritt
in Bereitschaft. Wer aber die Geschichte der Baukunst studiren
will, wird beim Eintritt in die Kirche gar nicht andächtig,
sondern die Gruppe der Kunstgeschichte ist bereit.

257. Eine andre Ursache der Bereitschaft ist in folgendem.
Wenn jemand sieht: morbos dentium et oris, so kann es ihm
wohl begegnen, dass er versteht: Zahn- und Ohr-Krankheiten;
aber dies kann nur unter besondern Bedingungen geschehen,
234z. B. unbedingt nicht, möchte ich behaupten dem Arzte; aber
auch dem Laien nur wenn er bloß diese Wörter außer jedem
weitern Zusammenhange liest, unaufmerksam ist, weil er mit
andern Gedanken beschäftigt oder abgespannt ist. Dann nämlich
kann oris die fast congruente Lautgruppe der Muttersprache
reproduciren, da ja ein Wort der Muttersprache eine ungleich
größere Reizbarkeit hat, als das der fremden. Woher aber
kommt es, dass trotz dieser leichtern Reproductionsfähigkeit der
Laute der Muttersprache vielleicht kein einziger Leser dieser
Zeilen bei oris an „Ohres” gedacht hat? Warum ist dies nur
bei Zerstreutheit möglich? und selbst dann wahrscheinlich unter
Mitwirkung des ähnlich lautenden auris? — Die Erklärung
scheint mir darin zu liegen, dass die ganze Kenntniss des Latein,
so weit jemand lexikalisch nach Laut, Form und Charakter sie
besitzt, eine große gut gegliederte Gruppe bildet, und dass,
wenn ein einziges Element derselben reproducirt wird, die ganze
Gruppe in eine Bewegung gerät, wodurch eine Bereitschaft
bewirkt wird, in Folge deren bei allem Gegebenen die Elemente
dieser bereit stehenden Gruppe leichter und schneller reproducirt
werden, als die irgend einer andern Sprache, selbst der Muttersprache.
Natürlich ist diese Bereitschaft größer, wenn drei
Zeilen Latein gegeben sind, als wenn bloß drei Wörter vorliegen.
Für den Arzt dagegen ist morbos dentium et oris nur ein Begriff,
daher kann in ihm oris gar keine besondre Wirkung haben: während
in Laien gerade der Zahn- und der Ohren-Arzt als Specialitäten
mit einander associirt sind. — Ebenso ist es jedem Gebildeten
möglich, gewisse Gedanken ohne Vermittelung der Muttersprache
in der fremden zu denken. Die Absicht, französisch, lateinisch
sprechen oder schreiben zu wollen, erzeugt (wie die Nacht 255) augenblicklich
eine Bereitschaft in der bestimmten Sprachgruppe, durch
welche selbst die Reizbarkeit der Muttersprache unterdrückt wird.

258. So zeigt sich überhaupt Absicht, Anlass und Gelegenheit,
Ort und Zeit als allgemeine Macht, welche einer
analogen Gruppe Bereitschaft und damit bevorzugte Apperceptionsfähigkeit
verleiht. Im gut geordneten Kopfe eines
Knaben, der eben mit einem Spiel beschäftigt ist, schwindet
beim Eintritt des Lehrers in die Klasse augenblicklich die Spielgruppe,
und, soll Geographie getrieben werden, so ist es die
geographische Gruppe, soll Arithmetik der Lehrgegenstand sein,
235so ist es die arithmetische Gruppe, welche wie mit einem Ruck
in Bereitschaft gestellt wird.

259. Je bestimmter die Motive werden, um so kleiner
wird der Kreis des Bereitstehenden, aber um so größer die
Bereitschaft. Wer sich auf Sprichwörter besinnt, setzt die
Gruppe derselben in Bereitschaft, d. h. alle Sprüchwörter mit
gleicher Macht. Wer aber solche sucht, in denen von Tieren
die Rede ist, beschränkt die Bereitschaft auf einen Teil jener
Gruppe, bewirkt sie aber hier in höherm Grade. Natürlich
bleiben die andern Sprichwörter wegen ihrer Association mit
den gesuchten immer noch bevorzugt (114).

260. Übrigens weiß man, dass die größte Bereitschaft
Störungen, d. h. das Auftreten einer ganz entgegengesetzten
Masse, nicht unmöglich macht. Bereitschaft, insofern sie nur
durch allgemeine Verhältnisse wie Absicht, Gelegenheit, Stimmung,
verursacht wird, sinkt mit ihrer Dauer fast gleichmäßig.
So ermattet die Teilnahme für Redner und Dichter. Soll sich die
Bereitschaft in gleichmäßiger Stärke erhalten, so bedarf sie der
besondern Unterstüzung dadurch, dass man die Bereitwilligkeit
erhält (252), dass man interessirt. Über kurz oder lang erlahmt
jede Aufmerksamkeit, schwindet jede Bereitschaft einer Masse.
Sie bedarf der Erholung. Hat sie sich erholt, so können die
allgemeinen Verhältnisse und besondre Motive neu wirken.

261. Bereitschaft entsteht aber auch überall da, wo mehrere
Gruppen gleichzeitig und gleich stark gereizt werden, und sich
daher einander an der Wirksamkeit hindern. Dies ist der Fall,
wo wir wissen oder glauben, es werde entweder x oder y oder
z eintreten. Nachsehen, Beobachten lehrt dann später, was
eingetreten ist, Die dem Auge sich bietende Wirklichkeit verstärkt
die Erregung der congruenten Gruppe, sie sei x, derartig,
dass die Tätigkeit von y und z völlig aufgehoben wird,
wonach x ohne Hemmung wirkt.

262. Es könnte aber sein, dass weder x noch y noch z
eintritt, sondern ein n, an welches gar nicht gedacht worden.
Dann wird es darauf ankommen, ob dieses n in dem Beobachter
eine angemessene Gruppe findet, welche auch mächtig genug
ist, obwohl sie gar nicht bereit war, auf den Reiz von n hin,
die bereit stehenden Gruppen zu verdrängen. Ist dies nicht der
Fall, weil n noch keine angemessene Masse vorfindet, wenigstens
236keine leicht reizbare, so kann leicht n von einer der bereit stehenden
Massen erfasst (102) und so falsch beobachtet werden.

263. Die wirklich appercipirenden Massen müssen mehr
sein als bereit; aber sie brauchen, wie wir nun schon so häufig
gesehen haben, nicht bewusst zu sein (125. 139 f. 202 f.) Vorstellungen
nun, welche ohne bewusst zu sein, dennoch wirken,
appercipiren, nennen wir schwingende Vorstellungen. Der
größte Teil unserer theoretischen und praktischen Tätigkeit wird
nicht mit bewussten, sondern nur mit schwingenden Vorstellungen
vollzogen. Man denke an die Enge des Bewusstseins (73—78).
Wie wäre bei solcher Enge ein verwickelter Apperceptions-Prozess
möglich! Er ist dadurch möglich, das er sich gar nicht
im Bewusstsein, sondern nur durch schwingende Vorstellungen
vollzieht (Zeitschr. f. Völkerpsych. 1, 108—112).

264. Nur noch wenige Tatsachen wollen wir zur Bestätigung
für die Wirksamkeit unbewusster, also für schwingende
Vorstellungen vorführen. Zunächst liegt uns der Fall,
den jeder Leser in diesem Augenblicke in sich beobachten
kann. Jeder erweiterte Satz, jede Periode, möge sie gehört
oder gelesen und auch gesprochen oder geschrieben werden,
verläuft zeitlich punctuell durch unser Bewusstsein; und in
jedem Falle wird nicht geleugnet werden können, dass am Ende
der Periode die ersten Worte nicht mehr im Bewusstsein sind,
und dass wir nicht den ganzen Satz mit seinen sämmtlichen
Wörtern als eine Einheit gleichzeitig im Bewusstsein haben.
Noch weniger haben wir einen ganzen Absatz, ein Kapitel, ein
Buch als Ganzes mit allen Teilen im Bewusstsein. Verständniss
aber fordert, dass alle Teile nicht vereinzelt gedacht oder bewusst
worden sind, sondern dass sie in Zusammenhang erfasst,
auf einander und auf einen Mittelpunkt bezogen, als kleinere
Ganze zu einem größern und noch großem vereinigt werden.
Psychologisch sagen wir, das Subjcct am Anfange der Periode
z. B. müsse durch das Verbum am Ende, der ganze Satz durch
den folgenden u. s. w. appercipirt werden. Solche Apperception
geschieht durch Vorstellungen im Zustande der Schwingung.

265. Aber noch mehr. Wenn ich z. B. nur zu Jemandem
sage: „ich bin von 4—5 Uhr zu sprechen”: so gehört zum
Verständniss nicht nur, dass „ich” und „sprechen” in Zusammenhang
gebracht werden, also „ich” noch nicht wieder latent
237geworden ist, bevor „sprechen” gehört ist; sondern welche
Massen von Vorstellungen erfordert das Verständniss des Ausdruckes
„vier Uhr”, und auch „sprechen”, und des ganzen
Satzes, der ja sehr ausgebildete Lebensformen voraussetzt. Von
allen jenen Massen kommt nichts in das Bewusstsein.

266. Warum versteht denn ein Kind so viele Sätze aus
dem gewöhnlichen Leben noch nicht? Die drei, vier Wörter
könnte es wohl combiniren, aber jedes dieser Wörter verlangt
eine Vorstellungs-Masse, welche das Kind noch nicht hat. Wer
aber dieselbe hat, appercipirt mit ihr, ohne dass er sich ihrer
dazu bewusst werden müsste.

267. Es schwingen Vorstellungen, welche früher einmal
und oft bewusst waren und auch jetzt noch in jedem Augenblicke,
wo es gefordert wird, bewusst werden können. Es
schwingen aber auch Vorstellungen, die niemals die Klarheit
gehabt haben, welche als Bewusstheit erscheint, die nur schwingend
erzeugt und immer nur so reproducirt wurden. Es gibt
beim Kinde und beim Ungebildeten eine Stufe des Bewusstseins,
wo man spricht, aber die Vorstellung von der Tätigkeit
des Sprechens nur eine schwingende ist. Sie wird dann bewusst,
wenn man die Sprache als unterscheidendes Merkmal
des Menschen gegen das Tier erfasst. Dann aber bleibt zunächst
immer noch die Sprache an sich mit ihren Stoffen und Formen
bloß schwingend, eine mit Absicht geübte, aber über ihr Verfahren
unbewusste Function. Die ganze Sprache als Schall
und Ton ist für den Ungebildeten nur im Zustande des Schwingens;
bewusst wird ihm nur die Bedeutung. Der eigentümliche
Klang der Stimme und Sprache eines Menschen aber kommt
ihm wohl zu Bewusstsein, wenn er sagt: den X erkenne ich
an der Stimme, bevor ich ihn sehe. Ebenso der Hall seines
Tritts. Aber mit diesem Bewusstsein ist doch noch nicht das
vom Alphabet oder vom Rhythmus gegeben. Man kann die
Aufmerksamkeit des Ungebildeten auf den bloßen Schall der
Sprache, auf den Wortlaut, abgesehen von der Bedeutung, lenken,
immer noch ohne Alphabet. Dass aber im Volksgeiste
dennoch die Elementar-Laute, oder, wie wir zu sagen pflegen,
die Buchstaben, vor aller Schrift und Bildung als schwingende
Vorstellungen vorhanden sind, das beweist sowohl die Gesetzmäßigkeit
der Laut-Verhältnisse, der Rhythmus und das Metrum
238der Volkspoesie, ihre Allitteration und ihr Reim, als auch die
Entstellung der Fremdwörter.

268. Wir buchstabiren nicht, wenn wir uns einen Namen
merken. Dass aber in jedem, der zu buchstabiren versteht, die
einzelnen Laute in solchem Falle wirklich schwingen, zeigt sich
dann, wenn wir uns später nur unvollständig auf den Namen
besinnen können, und wenn wir dann sagen: es kommt ein i
drin vor, er beginnt mit k u. s. w.

269. Wie sehr die schwingenden Vorstellungen selbst in
die niedrigsten geistigen Tätigkeiten eingreifen, möge folgender
Fall zeigen. Wir erkennen Zucker durch den bloßen Anblick
oder den bloßen Geschmack nach 188, weil das a die b c d,
und c die a b d reproducirt. Die reproducirten Vorstellungen
a b d aber werden nicht ins Bewusstsein gehoben, sondern treten
bloß schwingend auf. Wer Zucker als solchen erkennt, hat
nicht alle Qualitäten, die er an demselben unterschieden hat,
im Bewusstsein.

270. Welche Macht aber schwingende Vorstellungen als
appercipirende haben können, dass zeigt sich sogleich, wenn man
daran denkt, dass der einheitliche Charakter einer Künstler-Schule,
der Zeitgeist u. s. w. (241) in den Seelen derer, die ihn
in sich tragen und aus ihm schaffen, nur in schwingenden Vorstellungen
besteht, die niemals bewusst waren. — So beruht
auch die sprachschöpferische Kraft sowohl in der Urzeit, wie
heute nur auf schwingenden Vorstellungen. Vergl. hierzu 285 f.

271. Es ist schon daran erinnert (263), wie die Schwingung
der Vorstellungen die Enge des Bewusstseins ergänzt. Sie ist
eben die Arbeit der Vorstellungen außerhalb des Bewusstseins
und ohne dasselbe. Sie ermöglicht also nicht nur, dass große
Massen von Vorstellungen in Tätigkeit gesetzt werden können,
sondern sogar, dass zwei Reihen von Vorstellungen gleichzeitig
neben einander laufen können. Wir gehen und reden oder
denken dabei, und ich sehe keine Veranlassung zu der Annahme,
dass hier unaufhörlich zwei Reihen durch einander
laufen: AaBbCc u. s. w. Um sich aber vorzuhalten, welche
Arbeit das Gehen ist, erinnere man sich, wie man in Licht und
wie in Finsterniss geht oder mit verbundenen Augen. Noch
abgesehen von der Umgehung von Hindernissen, vom Kraft-Maß
und von der Körperhaltung beim Auf- oder Absteigen, ist es ohne
239Licht jedem, selbst in den bekanntesten Räumen unmöglich,
eine Richtung zu wählen und inne zu halten, ein Ziel zu erreichen,
wenn dieses nur etwas entfernt ist, etwa wie die Länge
eines Zimmers. Und so sind alle jene Arbeiten, die wir mit
so exacter Berechnung und doch ohne Bewusstsein vollziehen
(123), Producte schwingender Vorstellungen. Ohne vom Bau
des Kehlkopfes das Geringste zu ahnen, weiß man die Stimmbänder
mit unsäglicher Feinheit zu spannen u. s. w.

272. Ein lebendiges Beispiel für eine gleichzeitige Doppel-Apperception
bietet das Lesen. Allerdings ist der Sache nach
das Lesen vom Sprechen-Hören nicht verschieden. Nur der
Umstand, dass das Lesen eine weniger ursprüngliche Tätigkeit
ist als das Hören, auch dass das Hörbare sich energischer aufdrängt
als das Sichtbare, macht einen Unterschied. Noch klarer,
obwohl ebenfalls wesentlich gleich ist der Fall des Sprechens
und des Schreibens. Überall hier läuft eine innere Vorstellungs-Reihe
und neben ihr eine davon ganz verschiedene, mehr äußere,
sinnliche Reihe ab. Die Laut-Reihe, gesprochen oder gesehen
oder geschrieben; durchdringt wahrlich nicht die Vorstellungs-Reihe;
aber sie bleibt eben bloß schwingend. Ja, noch mehr:
im Reden laufen drei Reihen gleichzeitig neben einander ab,
wie wir im Allgemeinen schon wissen: der Inhalt, die innere
Sprache, der Laut. Nur eine von diesen Reihen ist im Bewusstsein
(Vergl. Zeitschr. f. Völkerpsych. I. 104—107).

273. Es sei hier nur kurz erwähnt, was anderwärts (a. a. O.)
ausführlicher erläutert ist, dass weil die Laut-Reihe bloß schwingt,
sie allerdings leicht in Verwirrung gerät, dass man sich verspricht
oder verschreibt. Hier ist dieser Mannichfaltigkeit
gleichzeitiger innerer Tätigkeit (Vergl. a. a. O.) nur gedacht,
um überhaupt ihre Möglichkeit hervorzuheben, andrerseits aber
um auch hier auf einen Unterschied in der Macht der appercipirenden
Vorstellungs-Gruppe hinzuweisen. Bekannt ist, dass
Kinder in der ersten Zeit des Lese-Unterrichts einen ihrer
Fassung wohl zugänglichen Inhalt, etwa eine Geschichte, dennoch
lesend nicht verstehen, aber wohl wenn sie ihnen, wenn
auch mit denselben Worten, erzählt wird. Sie erfassen hörend,
was sie lesend nicht erfassen. Warum? Weil sie die gehörten
Laute nur schwingen lassen, die Buchstaben aber bewusst aufnehmen.
Nun können gerade die schwingenden Laut-Vorstellungen
240weiter auf die inhaltlichen Vorstellungen wirken,
dieselben ins Bewusstsein rufen; und so wird das Gehörte verstanden.
Die bewusst aufgenommenen Buchstaben dagegen
lassen nichts weiter in das Bewusstsein dringen, schließen das
Verständniss aus. Wir verstehen Gelesenes erst dann, wenn
die Buchstaben nicht klarer werden, als zum Schwingen
nötig ist.

274. Beim Gebildeten, und zwar beim Lesen schwierigerer
Gedanken, dreht sich häufig die Sache um: er appercipirt besser
lesend als hörend. Die Schwingung der gehörten Laute ist zu
schwach, zu flüchtig; er bedarf der stärker schwingenden Buchstaben.
Hierbei mag freilich noch mitwirken, dass beim Lesen
das Auge doch gleichzeitig mehres auffasst, mit Blitzes Schnelle
wiederholt (was beim Hören ganz unmöglich ist) und dadurch
das Schwingen der innern Sprachform fördert. Da die Sprache
doch nur Mittel ist für das Denken, so darf sie sich weder zu
stark vordrängen, noch zu fern von Bewusstheit zurück bleiben.

275. Die größere Apperceptions-Macht des Ohres in Verhältniss
zum Auge bleibt aber doch unbestreitbar. Ich meine
nicht die Extension, sondern die Intension der Macht, ihre
Energie. Das zeigen jene im Lesen wenig geübten Personen,
die doch darum nicht ungebildet, sicherlich nicht geistig schwach
sind, und welche nur so zu lesen vermögen, dass sie Schrift
nicht schweigend auffassen, sondern in Laut übersetzen, dass
sie sich selbst vorlesen. Freilich ist die Ursache klar. Die
Vorstellungen sind beim Vollsinnigen, wenigstens für die Muttersprache,
unmittelbar an den Laut, erst mittelbar an das Schriftzeichen
geknüpft. Der schweigend Lesende überspringt also
eine Vermittelung; zu solchem Sprung aber gehört eine besondre
Übung, welche jenen Personen fehlt. Hierdurch aber wird die
intensivere Apperceptions-Macht des Ohres nicht geläugnet,
sondern vielmehr zugestanden und erklärt. Es ist der Zusammenhang
mit der Sprache, welcher, bei der hohen Wichtigkeit
der Sprache für alles Denken, dem Ohre seinen Wert für das
Denken gibt.

276. Und dieser Wert macht sich doch auch für den
Gebildeten geltend. Denn erstlich erfährt es wohl jeder, auch
der Gebildetste, wie er manches Schriftstück, sei es wegen der
Schwierigkeit der Gedanken oder der Undeutlichkeit der Darstellung,
241besser, leichter versteht, wenn er es sich laut vorliest,
als wenn er bloß das Auge arbeiten lässt. Zweitens aber wird
er zwar wohl jedes Buch, wenn es darauf ankommt, und wenn
es ihm überhaupt zugänglich ist, auch stillschweigend lesen und
verstehn können; genießen aber wird mancher sehr Gebildete
einen Schriftsteller wie Jean Paul doch nur, wenn ihm derselbe
gut vorgelesen wird. Jedes Drama genießen wir alle besser,
wenn es gut aufgeführt, künstlerisch vorgelesen wird, als wenn
wir es still mit dem Auge aufnehmen. Ebenso wird durch
Vorlesen der Genuss der Lyrik, und noch mehr der Genuss
der Litteratur in der Volksmundart, wie Reuter's, bedeutend,
ja wesentlich gehoben. Der Grund davon ist nicht schwer zu
finden; aber er bestätigt was wir hier meinen.

277. Endlich noch eins. Der Corrector der Druckbogen,
je besser er ist, erfasst desto weniger vom Inhalt. Er setzt
sich, was nicht ohne Energie und viel Übung geschieht, auf
den Standpunkt des Buchstabirenden zurück. Er appercipirt
nur Buchstaben, keine Gedanken; in ihm schwingen die Typen
nicht bloß, sondern werden bewusst.

278. Hieraus ergibt sich eine Regel, wie mich dünkt, für
den Lehrer. Um die Orthographie einzuüben, oder vielmehr
um die Orthographie der Schüler zu überwachen, so lange dies
nötig ist, muss dictirt werden; es kann nicht bei Gelegenheit
der Styl-Übungen vorgenommen werden. Denn sobald der
Lehrer auf den Inhalt oder auf die grammatische Correctheit
oder auf die richtige Subsumtion des Beispiels unter die Regel
zu achten hat, wird ihm die Aufmerksamkeit auf die Rechtschreibung
sehr erschwert. Leicht aber wird sie beim Dictat,
wo alle Hefte denselben Inhalt bieten, den er selbst dictirt hat;
hier kann er ganz Auge sein für große und kleine Buchstaben
für fehlende und überflüssige h u. s. w.; denn nichts zieht ihn
ab. Er appercipirt die Striche, welche da sind und welche
fehlen, obwohl sie durch seinen Kopf bloß schwingen.

δ) Die Constitution der Massen, die Verteilung von Action und Passion
und das Product.

279. Das Product ist das, was sich aus der Vereinigung
der beiden Factoren der Apperception ergibt. Es hat kein
von diesen Factoren abgesondertes Dasein, noch auch bleiben
diese außerhalb des Productes für sich bestehn.242

280. Wird ein neues Ding wargenommen, so entsteht
scheinbar ein doppeltes Product (193—197), insofern als einerseits
die passive, andrerseits aber auch die active Masse geändert
und bereichert wird. Doch das ist nur Schein. Da nichts
weiter vorgeht als eine Verbindung zweier Massen, so kann
nach Vollendung dieses Vorganges nur eins da sein. Allerdings
aber bleiben folgende Punkte zu beachten. In dem Falle der
Warnehmung eines einzelnen Dinges gehört es zum Product,
dass es projicirt werde, das heißt, dass ein Ding als ein äußeres,
wirkliches und gegenwärtiges erkannt werde. Indem eben dies
geschieht, wird der Inhalt des Products einerseits nach außen
in die Wirklichkeit gesetzt, während er andrerseits doch als
Vorstellung und Gedachtes innerlich bleibt. So ist der Schein
einer Doppelheit gegeben. Dazu kommt, dass zwar die passive
Masse (weil sie für sich noch wertlos ist und erst durch die
Vereinigung mit der activen Wert für das Bewusstsein erhält,
und weil sie völlig im Product aufgeht) sobald sie appercipirt
ist, ihr gesondertes Sein verliert; die active Masse dagegen, als
alter Besitz des Bewusstseins, bleibt zunächst wenigstens immer
noch als besondre Masse. Sie bleibt es sogar dauernd und
unverändert, wenn sie durch den Process gar nicht bereichert,
noch auch abgeändert (192) ist. Sie sinkt dann nur aus der
Tätigkeit in den Schlaf zurück. Im Falle aber, dass die Vereinigung
der beiden Massen erst nach Hemmungen mancher
Elemente der activen Masse vorgegangen ist, so dass diese gar
nicht mit allen ihren Elementen in die Verbindung eingegangen
ist, die Verbindung aber oder das Product etwas enthält, was
nicht in der activen Masse lag — in diesem Falle bildet sich
ja geradezu ein Gegensatz zwischen der alten activen Masse
und dem Product, welcher eine Vergleichung dieser beiden veranlassen
kann. In Folge dieser Vergleichung kann dann das
Product in den Verband der alten Masse eintreten, und so wird
diese bereichert (193 ff.) Wenn hier ein doppelter Erfolg wirklich
vorliegt, so ist er auch durch doppelte Apperception bewirkt.
Denn die Vergleichung der activen Masse in ihrem alten
Bestande, z. B. der Vorstellungsmasse (weißer) Schwan, mit
dem Apperceptions-Product schwarzer Schwan ist eine Apperception
der erstern, deren Product dies ist, dass es auch
schwarze Schwäne gibt, und dass fortan die Masse Schwan
243zwei mögliche Farben weiß und schwarz in sich schließt. Dies ist
weiter zu verfolgen.

281. Nachdem also die Masse weißer Schwan appercipirend
aufgetreten ist und das Product „schwarzen Schwan” projiciirt
hat (nachdem ein schwarzer Schwan wargenommen ist), steht
der altern Masse weißer Schwan eine neue Vorstellungsmasse
schwarzer Schwan gegenüber. Was wird sich zwischen diesen
beiden Massen ereignen, welche beide, die eine wie die andre,
als innerer Besitz bestehn? (300)

282. Erweitern oder verallgemeinern wir diese Aufgabe
sogleich dahin: welche Verhältnisse und Vorgänge treten ein,
wenn nicht Sinnes-Reize eine geeignete Masse zur Apperception
hervorrufen, sondern wenn irgend ein Besitz der Seele, z. B.
der Inhalt einer Warnehmung, einer alten oder jungen, einer
oft wiederholten oder einmaligen, mit einem andern Besitze der
Seele, mit irgend einer Vorstellungsmasse, sich begegnet? Da
hier große und alte Massen mit großen und alten zusammenstoßen
können, so werden nicht nur die Producte mannichfaltiger
werden, sondern auch die Verteilung der Action und Passion
wird aus tiefern Ursachen erfolgen, und der ganze Vorgang
eine verwickeltere Form annehmen. Bevor wir an diese Untersuchung
gehn, müssen wir die Constitution der Massen (und
damit ihren metaphysischen Wert) betrachten.

283. Vorstellungsmassen bilden sich erstlich, indem sich
die kleinern Verbände nach objectiver und subjectiver Verwantschaft
an einander lagern. Was irgendwie associirt oder
verflochten ist, bildet eine Masse. Sie sind das Product zufälliger
Begegnungen, gemeiner Lebenserfahrungen. Es sind
unorganische Haufen von ungesuchten und ungeprüften Erkenntnissen,
welche durch Sinnestätigkeit und geselligen Verkehr
gewonnen sind. Sie sind formlose Massen, deren Teile nur
stofflich susammenhängen.

284. Wenn dagegen, zweitens, innerhalb einer Vorstellungsmasse
irgend eine Erkenntniss, ein Gedanke, einen Mittelpunkt
bildet, um welchen sich andere Vorstellungen in näherm
und weiterm Abstande lagern, so bildet sich eine gegliederte,
organisirte Vorstellungsgruppe. Solche Gliederung kann mehr
oder weniger mannichfaltig sein; sie macht eben die größere
oder geringere, feinere oder gröbere, gediegnere oder oberflächlichere
244Bildung aus. Hier gelten die Bestandteile der Masse
als mehr oder weniger wichtig, als höher und niedriger, als
nähere und weitere Folgen aus einem Grundgedanken, der den
Mittelpunkt bildet und das Ganze trägt. So ist Ordnung hergestellt
und es sind Haupt und Glieder gewonnen. Nun hängen
die Bestandteile nicht mehr bloß stofflich zusammen, sondern
sie sind nach vielfachen Rücksichten auf einander bezogen, und
dadurch an einander gebunden. Es ist schon bemerkt (231)}
dass so gegliederte Massen nach Maßgabe ihrer Gliederung
auch mächtiger sind. Dazu wirkt auch dies mit, dass mehre
solcher Gruppen selbst wiederum nicht bloß mit einander verflochten
sind, sondern zu einander in inhaltsvoller Beziehung
stehn können, indem sie sich um ein gemeinsames Centrum
bewegen. Ja, schließlich werden in einer gebildeten Weltanschauung
alle organisirten Gruppen auf eine centrale Gruppe
bezogen sein.

285. Ihrer Eigentümlichkeit und Wichtigkeit wegen besonders
zu beachten sind drittens diejenigen Gruppen, welche
weder durch ihren Stoff und Beziehungen der Stoffe, noch auch
bloß subjectiv gebildet sind, sondern lediglich durch die gleichartige
Form der Stoffe, durch Analogie, durch ein sie alle beherschendes
Gesetz. Alle Substantiva derselben Declination,
alle durch dasselbe Suffix gebildeten Wörter, die möglichen
Verbindungen von Subject und Prädicat, alle möglichen Fälle
der Anwendung von entwederoder, obgleichdennoch, mit
und durch und aller Präpositionen u. s. w. bilden je eine Gruppe.

286. Die Gesetze, Analogien, Kategorien, durch welche
diese Gruppen gebildet werden, für welche jeder Bestandteil
dieser Gruppe ein Beispiel abgibt, können ganz unbewusst
bleiben, wie sie es ursprünglich immer sind. Wir lernen hier
die merkwürdige Tatsache begreifen, dass eine Kategorie wirksam
sein kann, sicher, richtig und schöpferisch wirksam, obwohl
sie gar nicht zum geistigen Besitz gehört. Ohne also dass das
Kind von Ursache wüsste, denkt es nach der Kategorie der
Causalität. Es hört z. B.: weil du das getan hast, sollst du…;
weil es regnet, musst du…; weil…, werde ich u. s. w. Alle
diese Sätze, so wenig sie ihrem Stoffe nach verwant sein
mögen, tragen dieselbe Bildungsform an sich, weil ihre Bestandteile
analog combinirt sind. Indem das Kind diese Satzform
245verstehn lernt, bilden solche Sätze eine Gruppe. Mit dieser
Gruppe, die ja nur insofern eine ist, als sie analog geformte
Bestandteile hat, appercipirt dann das Kind jeden Satz, der
nach derselben Analogie gebaut ist, ohne dass es von dieser
Analogie selbst etwas wüsste. Solche Gruppe appercipirt immer
im schwingenden Zustande. Da die Bestandteile derselben von
einander durchaus verschieden sind, ihrem Stoffe nach nichts
Gemeinsames haben, so hindert jeder den andern an der Bewusstheit;
aber jeder verstärkt die Schwingung des andern.
Daher wirkt die Gruppe um so mächtiger (um so schneller und
sicherer und fester), je mehr Bestandteile sie umfasst.

287. Wir haben hier drei Constitutionen von Vorstellungsgruppen
als bestehende erkannt, ohne uns auf ihren Ursprung
einzulassen, was wir nun aber tun müssen. Zwar von der
ersten braucht gar nicht geredet zu werden; und von der
dritten, wie merkwürdig sie auch ist, und wie rätselhaft ihre
Wirkungen bisher erschienen, ist doch nur wenig zu sagen. Es
kann freilich ganz unerklärlich scheinen, wie folgende zwei Sätze:
wenn es regnet, wird es nass; wenn du artig bist, bekommst du
Kuchen
; (wenn du unartig bist, bekommst du Prügel) sollten mit
einander verschmelzen oder auch nur sich verflechten können.
Ihr Stoff freilich hat gar nichts gemein, und also könnte von
da aus keiner den andern reproduciren. Es muss aber eben
anerkannt werden, dass, wenn ein Kind einen Satz verstehn
gelernt hat, es nicht nur den Stoff desselben mit Bewusstheit
erfasst, sondern dass auch seine Form schwingend wird. Denn
nicht die Vorstellung Regen und die Vorstellung nass neben
einander ergeben den Inhalt jenes Satzes; sie liefern nur den
Stoff: der Inhalt liegt in dem geformten Stoff. Es müssen jene
beiden Vorstellungen in bestimmter Form auf einander bezogen
werden. Das tut das Kind früher oder später; und dann sind
die Stoffe bewusst und die Form bleibt schwingend am Stoffe.
Kommt nun ein dritter, vierter u. s. w. Satz mit ganz anderm
Stoffe, aber derselben Form, so mag der Stoff reproduciren was
ihm angemessen ist; nebenher aber reproducirt die schwingende
Form die gleiche Form, die schon vorher einmal geschwungen
hat und verschmilzt mit ihr. So entstehen diese wunderbaren
Gruppen, die nach ihrem Stoffe gar nicht wirken, und die einen
solchen nur haben, um daran einen Träger zu besitzen für die
246schwingende Form, welche allein den Inhalt, die Bedeutung,
dieser Gruppe ausmacht. So ist der Ursprung dieser höchst
wichtigen Gruppen sogar leicht erklärt, und nur dies ist hinzuzufügen,
dass hier eigentlich gar nicht die Gruppe, sondern
das Verbindungs-Merkmal appercipirt; denn die Analogie der
Bestandteile, welche dieselben zur Gruppe verbindet, ist das
Verbindungsmerkmal (49 ff.).

288. Vom gemeinen Begriffe war oben (101) die Rede.
Weil er kein festes Gebilde ist, so fehlt ihm auch die Über-und
Unter-Ordnung. Es wird nicht dieses Individuum unter
die Art Pferd, dieses unter die Classe Säugetier, diese unter
Tier gesetzt; sondern man sagt: dies ist ein Pferd, und auch:
dies ist ein Tier von demselben Individuum, und beides schlechthin,
beziehungslos. — Solche Begriffe bilden also einerseits den
entschiedensten Gegensatz zu den Vorstellungsgruppen, die wir
hier besprechen. Denn sie haben nur einen Umfang und keinen
Inhalt; in unsern Gruppen aber kommt der Inhalt gar nicht,
sondern nur die Form in Betracht. Wir wissen aber andrerseits,
dass in jenen Begriffen tatsächlich der Typus der unter
ihn fallenden Dinge den Inhalt bildet. Dass nicht aus den
gemeinsamen Merkmalen die gemeinen Begriffe geschaffen werden,
beweist wohl am klarsten der Begriff Farbe, wie er im
gemeinen Bewusstsein ist. Was haben in letzterm Rot, Gelb,
Blau, Schwarz, Weiß gemeinsam? Doch wohl nicht mehr als die
Sätze mit entwederoder; und der Begriff Farbe hat auch
nur denselben psychologischen Wert. Es verhält sich mit Pferd,
Tier nicht anders. Es sind nur Typen, Formen, Functionen,
wie die Partikel durch; sie sind verschiedne Dinge mit gleicher
Beziehung. Im Gebildeten nnterscheiden wir Begriffe der zweiten
Constitution, wie Pferd, Tier, welche einen Inhalt und einen
Umfang haben, Stoff-Begriffe, und dann solche, welche eine
Gruppe verschiedener Dinge mit gleicher Beziehung bedeuten,
Beziehungsbegriffe, wie Schuld, schön u. s. w. Dies sind Begriffe
der dritten Constitution.

289. Oben (246) erklärten wir, etwas merken bestehe in
einer besondern Nach-Apperception der Apperception. Wir sagen
aber auch: sich etwas merken, z. B. eine Regel zur Anwendung
im Einzelnen, oder auch eine Tatsache zur Belohnung oder
Bestrafung, d. h. zur Erfüllung einer Maxime, der Gerechtigkeit
247oder Rache. Solches Sich Merken kann ohne Erfolg bleiben-,
die gelernte, richtig verstandene Regel bleibt unangewant. Der
Erfolg tritt ein, wenn die Regel wirksam, d. h. apperceptionsfähig
geworden ist. Das ist sie zunächst noch nicht; sie ist
appercipirt, hat aber noch nicht die Kraft, den einzelnen unter
sie gehörenden Fall zu appercipiren, d. h. zu gestalten. Wie
erlangt die Regel solche Kraft? Die praktische Antwort lautet:
sie muss an vielen Beispielen eingeübt werden. Richtiger würde
man sagen: sie muss in viele Beispiele hineingeübt werden.
Das Wahre ist; es muss eine Gruppe (von Sätzen) nach der
dritten Constitution gebildet werden, deren schwingende Form
eben die Regel ist, und welche dann jeden Satz von gleicher
Form appercipirt.

290. Schwieriger ist der Ursprung der zu zweit genannten
Constitution. Hier gilt es Sub- und Coordinationen herzustellen,
also von unten auf immer umfassendere, allgemeinere Begriffe
herzustellen und nach den Verhältnissen der Causalität Tatsachen
und Gedanken auf einander zu beziehen. Die hier gestiftete
Ordnung kann sich in vielen Punkten auf bloße Schwingungen
gründen; das Meiste und Beste muss aber doch mit Bewusstheit
geleistet werden. Die Unterscheidung von Tieren und Pflanzen
als zwei großen Natur-Reichen könnte so vollzogen sein, dass
die Merkmale, nach denen sie gemacht ist, bloß in schwingenden
Vorstellungen gedacht werden, und damit bliebe sie selbst
bloß eine schwingende Vorstellung. Nicht nur klar aber, sondern
auch fest und sicher kann sie erst werden, wenn die beiden
Begriffe Tier und Pflanze bewusst sind und einen Namen in
der Sprache tragen. Als der Grieche das Wort ζῶον bildete,
das Homer noch nicht kannte, da ward ihm jener Unterschied
ein bewusster, während er bis dahin nur ein schwingender war.

291. Alle Bildung von mehr oder weniger allgemeinen
Begriffen, wie auch aller Gebrauch von Kategorien, Analogien,
Gesetzen und Regeln, beruht auf Vergleichung der unter jenen
zusammengefassten Einzelheiten oder Unter-Arten u. s. w. Diese
Vergleichung wird zunächst mit schwingenden Vorstellungen
vollzogen und ergibt ein schwingendes Product. Letzteres erweist
sich zunächst bloß als eine Verschiedenheit des Gesammt-Eindruckes,
den jedes Object macht. Dieser Gesammt-Eindruck
ist die Summe der schwingenden Übereinstimmungen und
248Abweichungen. Wie jede einzelne Differenz und Gleichheit, so
ist auch die Summe derselben nur schwingend. Soll nun hierüber
Bewusstsein eintreten, sollen die Classen, Gattungen, Arten
bewusst unterschieden werden, so müssen sie appercipirt werden;
und sollen ihre specifischen Merkmale, überhaupt ihre
Differenzen aus dem Zustande des unklaren Schwingens in klare
Bewusstheit erhoben werden, so müssen sie einzeln appercipirt
werden (67. 197). Woher kommen aber die geeigneten activen
Massen für solche Apperceptionen? Wir kommen hier auf die
Aufgaben zurück, denen wir schon oben (224—226) begegnet
waren.

292. Wir kommen aber hier auch auf die frühere Erörterung
von 166—178 zurück. Wir haben dort behauptet, dass
ein Wechsel im Vorstellen ohne Weiteres auch eine Vorstellung
dieses Wechsels, einer Veränderung, ist. Man könnte für die
entgegengesetzte Behauptung, Gleiches und Verschiedenes in
den Vorstellungen haben sei an sich noch nicht eine Vorstellung
von dem Gleichen und Verschiedenen, als Beweis den Knaben
anführen, von dem wir oben (224) sprachen, der den Begriff
Vogel nicht hatte. Dieser besaß die Vorstellungen von Sperling,
Schwalbe und wohl noch von einigen wenigen Vogel-Arten;
er hatte also Vorstellungen, in denen Gleiches und Ungleiches
war, ohne eine Vorstellung von diesem Gleichen und Ungleichen
zu haben. Er würde aber, entgegnen wir, diese Vorstellungen
augenblicklich bekommen haben, wenn Jemand in seiner Gegenwart
die Schwalbe einen Sperling genannt hätte; er würde dann
sicherlich die Differenzen genügend scharf angegeben haben.

293. Er hatte nämlich die Differenzen als schwingende
Vorstellungen in sich, und es bedurfte wohl nur des Anstoßes,
das Schwingende bewusst zu machen. Wir können also nicht
kurzweg sagen, er habe keine Vorstellung von dem Gleichen
und Ungleichen der ihm bekannten Vogel-Arten gehabt; sondern
er hat nur keine klar bewusste, aber wohl schwingende,
Vorstellungen davon gehabt. Gleiches oder Ungleiches aber
vorstellen, ohne zu wissen, dass man Gleiches oder Ungleiches
vorstellt, ist unmöglich. Denn die Verschmelzung in dem einen,
die Hemmung in dem andern Falle erzeugt allemal den unausweichlichen
Zwang, in dem einen Falle denselben Inhalt zwei
Mal zu setzen, oder mit doppelter Setzung nur dasselbe wie
249mit einfacher zu bewirken, und dagegen in dem andern Falle
mehre Taten zu vollziehen: dies ist aber tatsächlich vom Ungleichen
und Gleichen eine Vorstellung haben. — Nur das ist
möglich: wo wirklich Ungleiches vorliegt, die Ungleichheit nicht
erkennen und Gleiches sehen. Wie das Kindern begegnet, wo
sie vom Worte verlassen werden, ist oben (110) erwähnt. Und
auch jener Knabe, von dem zuletzt die Rede war, hatte ja mehre
Vogel-Arten zu einer Art zusammenfassend Vogel genannt.
Von einem taubstummen Mädchen aus der Stadt lese ich, dass
es (als es eben erst zum Unterricht kam) das Bild einer Kuh
für eine Ziege erklärte. Hier ist Ungleiches nicht erkannt.

294. Wie kommt nun dies beides, dass bald mehrere Arten
nicht nach ihrer Gleichheit erfasst und zur höhern Allgemeinheit
zusammengeschaut werden, bald die Ungleichheit übersehen
wird und verschiedne Arten zu einer zusammenfallen? — Die
Ansicht, dass alle allgemeinen Begriffe nur dadurch entstanden
seien, dass man die Differenzen nicht gesehen habe, und dass
sie früher waren als die Erkenntniss der besondern Arten, dass
also die Allgemeinheiten ursprünglich nur das Erzeugniss der
Unfähigkeit der Anschauung sind: diese Ansicht, obwohl neuerlich
wieder aufgetischt, kann doch nicht eher berücksichtigt
werden, als bis sie wenigstens einen Schein hat.

295. Indem wir an die Beantwortung der eben (293) aufgeworfenen
Frage gehn, haben wir doch, scheint mir, erst die
Tatsache genauer festzustellen. Wenn von einem Kinde die Kuh
Ziege genannt wird oder umgekehrt, so ist doch damit noch
gar nicht bewiesen, dass es nicht den Unterschied zwischen
beiden ziemlich klar gesehen hätte. Es wird ihn gesehen haben
und gibt trotzdem beiden denselben Namen, weil es keinen andern
hat. Nennt es die Kuh Ziege, so hätte es vielleicht lieber Hornvieh
gesagt, (wenn es diesen Namen gekannt hätte!) weil es
von der Gleichheit beider Tiere in dieser Beziehung stark betroffen
war, ohne doch zu übersehen, wie verschieden sie sonst
und selbst in der Form der Hörner sich erweisen.

296. Ferner aber wird es darauf ankommen, ob ein wirklich
bemerkter Unterschied für so wichtig gehalten wird, dass
er das Zusammenfallen zu einer Art verhindert. Da das Kind
nun doch einmal Tiere, welche einander nicht ganz gleich waren,
mit Recht gleichmäßig Ziege genannt hat, so nennt es nun ein
250Tier, dessen Verschiedenheit es gar nicht übersieht, ebenfalls
Ziege trotz der Verschiedenheit, weil ihm diese nicht wichtig
genug scheint, um sie nicht so nennen zu dürfen. Die Frage
ist also: was heißt wichtig in psychologischer Hinsicht? oder
wie wirkt ein Moment in der Seele, wenn es als wichtig wirken
und gelten soll? Wir kommen hier auf 67. 100 zurück, um
die dort gelassene Lücke auszufüllen (242).

297. Beginnen wir mit der letzten Frage in ihrer Beschränkung
auf die uns hier beschäftigenden Fälle, so dürfen
wir wohl sagen:

Bei der Vergleichung zweier Vorstellungsverbände, mag
sie bewusst oder unbewusst vollzogen werden, gilt ein
Moment für wichtig, d. h. es wirkt dahin, dass die
beiden Verbände trotz der verschiedenen Momente doch
verschmelzen, und also als gleich gelten, oder im Gegenteil,
dass sie trotz der gleichen Momente sich doch
nur verflechten, also als verschiedene gelten: wenn es
noch einen andern Verband wenigstens bis zum Schwingen
reproducirt und mit diesem eine beiläufige Vergleichung
veranlasst; und es wirkt in der Vergleichung
mit dem Gegebenen in entgegengesetztem Sinne als in
der beiläufigen mit dem von ihm reproducirten Verbande.
Bewirkt es hier Verschmelzung, so bewirkt es dort
Trennung; stellt es aber zum Reproducirten im Gegensatz,
so bewirkt es Verbindung mit dem Gegebenen.

298. Die hier erklärte Wichtigkeit einer Vorstellung ist die
rein theoretische. Manche Vorstellung aber ist praktisch oder
ästhetisch wichtig: praktisch, weil das damit Vorgestellte uns
viel Nutzen bringt oder wenigstens einem schmerzlich gefühlten
Bedürfniss abhilft; ästhetisch, weil es ein starkes Gefallen erregt,
oder auch, weil es einen mächtigen Empfindungs-Reiz übt.
Letzteres führt am ursprünglichsten Wichtigkeit herbei.

299. Einem Bewusstsein mit der Anschauung Pferd begegne
ein noch nie gesehenes von schwarzer Farbe. Diese ist
entweder unwichtig, weil sie nichts Schwarzes reproduciren
kann; dann verschmilzt das schwarze Pferd mit dem braunen
und weißen. Oder die Farbe ist wichtig, sie reproducirt etwa
eine Reiterstatue, so tritt die Warnehmung des lebendigen
Pferdes zum toten Bilde in Gegensatz. Die Farbe wird also
251auch dann nicht verhindern, dass das Wargenommene mit der
Anschauung Pferd verschmelze und damit als solches erkannt
werde.

300. In dem Bewusstsein aber habe oder gewinne die
schwarze Färbung ein ästhetisches Interesse, so wird der Anblick
des schwarzen Pferdes ein eigentümliches Wohlgefallen
erwecken, welches anders gefärbte Pferde nicht erregen, aber
wohl andre gleich gefärbte Tiere, wie der Rabe. Dann reproducirt
die Warnehmung des Pferdes den Raben, mit dem es
durch das mächtige ästhetische Interesse verflochten ist, und in
demselben Maße, als das Interesse von hier und dort verschmilzt,
bewirkt es eine Trennung von der Anschauung Pferd und bildet
eine besondre Masse, welche viele oder die meisten Elemente
von Pferd und einige von Rabe enthält. Nun ist es nicht die
Masse von Pferd, noch die von Rabe, sondern die neu zusammengeratene,
welche appercipirend der Warnehmung entgegentritt.
So ist der neue Begriff Rappe enstanden, der alles
Wesentliche von Pferd und die Farbe von Rabe enthält. So
oder ähnlich verhält es sich, wenn innerhalb einer Allgemeinheit
eine untergeordnete Besonderheit, eine Unter-Art appercipirt
wird; und z. B. auch bei den Schwänen (280 f.). Hier ist
die weiße Farbe wichtig, denn erstlich war bis dahin die weiße
Farbe die einzig herschende, und zweitens ruhte ein starker
ästhetischer Zauber in ihr. Nun plötzlich wird der schwarze
Schwan erblickt. Die volle Übereinstimmung beider mit Ausschluss
ihrer Farbe überwand den Unterschied. Die Schwärze
war aber auch doppelt wichtig, erstlich durch ihren Gegensatz
zur Weiße und zweitens durch den auch ihr wiederum eigenen
ästhetischen Reiz. Man sah in ihm nicht einen unschönen
Schwan, sondern einen anders schönen. Man erkannte beide
als gleich und als verschieden, d. h. als Variationen einer Art.

301. Jetzt können wir auch sagen, was dazu gehört, wenn
ein allgemeiner Begriff, z. B. der Begriff Vogel aus den untergeordneten
Arten gebildet werden soll. Wir wissen, dass die
Vorstellungsmasse von einer Vogel-Art erstlich Momente enthält,
welche sich in allen Vögeln finden: Flügel und Federn
und eine eigentümliche Bewegung, dazu ein gewisser Typus in
der Form des Leibes und zwei Beine. Diese Momente, die
dem ganzen Geschlechte der Vögel gehören, wollen wir mit G
252bezeichnen. Es hat aber auch jede Art ihren besonderen Typus
innerhalb der in G enthaltenen Merkmale, ihr specifisches Merkmal.
Dieses sei s. Wir reden natürlich hier nur von dem
unwissenschaftlichen Blick, mit welchem das gemeine Bewusstsein
sowohl den Vogel überhaupt, als den Sperling, Taube,
Schwalbe, Canarien-Vogel u. s. w. unterscheidet; und wir geben
hier eine Analyse, von der das gemeine Bewusstsein nichts
weiß. Jede Art also hat innerhalb G ihren speciellen Typus s.
Daher könnte als Formel für den gemeinen Artbegriff Gs dienen;
die Formel für das ganze Geschlecht Vogel aber wäre (nach 197)

image

302. So ist es aber noch nicht, so lange G noch gar nicht
gebildet ist. Da ist nicht bloß G, sondern auch s noch nicht,
sondern statt des letztern, welches in G eingeschlossen ist, gibt
es lauter selbständige Typen: L, N, R u. s. w. Der Sperling
ist eine Art Wesen für sich, die Taube, die Schwalbe ebenfalls
u. s. w. Innerhalb des unterscheidenden Typus jener Begriffe
liegen (obwohl unbewusst) auch gemeinsame Merkmale M, neben
deren Gleichheit aber teils schon in ihnen selbst durch den Zusammenhang
mit den verschiedenen. Typen L, N, R, teils durch
sonstige Verschiedenheiten sich auch Ungleichheiten befinden:
yz, ux, tw u. s. w. Die Artbegriffe des niedrigen Bewusstseins
bezeichnen wir also: Lmyz, Nmux, Rmtw etc. Wirklich bewusst
sind diese Massen als Ganze; die einzelnen Momente dieser
Massen sind nur schwingend. Auch sind sie nur schwach verflochten;
die abstoßenden Elemente überwiegen. Eine Zusammenfassung
ist unmöglich.

303. Es kommt also nun darauf an, das gemeinsame M so zu
stärken, dass nicht nur yz, ux, tw zur Untätigkeit herabgedrückt
würden, was nicht schwer wäre, sondern auch in dem L, N, R das
M zur überwiegenden Macht zu erheben und aus Lm, Nm, Rm
unsere s, d. h. unsere Gs zu bilden. G und M aber einerseits
und L, N, R und s andrerseits sind dem Inhalte nach gleich; denn

Lm+Nm + Rm = Gs+Gs+ Gs

oder

image

also

M = G und LNR = SSS253

nur in ihrer Lage oder Combination sind sie verschieden: G
umfasst s, d. h. es umfasst viele s; M aber ist in jedem der s
eingeschlossen; also Sm = Gs. Wie vollzieht sich nun die
Umgestaltung von Sm in Gs? oder da G = m, in Ms?

305. Zunächst dürfte es wohl nicht gleichgültig sein, wie
vielfach das S im Bewusstsein vertreten ist. Wenn wirklich
bloß durch L, N, R, so wäre es wohl schwer, dass eine Änderung
der Combination einträte. Setzen wir also eine Bekanntschaft
mit mehr, mit vielen Arten voraus, so werden erstlich die tw,
ux, yz.... mn in ihrer Wirksamkeit, da sie sich hemmen,
sehr geschwächt; es kann das eine oder das andre Glied dieser
Reihe nur unter besonderer Begünstigung wirken; ja, abgesehen
vom Falle der Warnehmimg, kann ihm nur von m her Reizung
zukommen. Dass nun dieses m selbst sehr schwach ist, kommt
uns zwar für die Tilgung der unwesentlichen tw, ux, yz... mn
sehr zu statten; aber andrerseits ist es um so schwieriger, ihm
solche Macht zu gewinnen, dass es sich das s zu unterwerfen
vermag. Wenn wir nun aber viele S setzen, so begreift sich,
dass m um so stärker wird, je mehrfacher S wird. Denn aus
Lm, Nm, Rm... Xm gewinnt m eine große Verschmelzungssumme,
während sich im Gegenteil L, N, R... X hemmen, m behält
aber jeden Zuwachs an Macht für sich; es gibt nichts ab an
tw... mn; denn es gewinnt durch einen Umstand, durch welchen
diese sich einander zu erdrücken gezwungen werden.

305. m wird nichts einfaches sein; aber es könnte es auch
sein. Es kommt darauf an, dass es einen in primärer Weise
wichtigen (298) Factor enthält. Denn wir haben es ja mit einem
primitiven Bewusstsein zu tun. A priori lässt sich für den einzelnen
Fall nichts ausmachen. In Bezug auf unser Beispiel,
den Vogel, lehrt die Erfahrung (die Etymologie), dass die Bewegungsweise,
der Flug, sich als so wichtig erwiesen hat, um
das Verlangte zu leisten. Wir begreifen, denke ich, wie der
Flug der Vögel die Sinne mächtig ergreift, das Gesicht und
das Gehör. Denkt man daran, dass in jener Reihe des Urmenschen
L... X noch ganz andre Vögel waren, als wir
kennen, nämlich die mythischen, vor allem der Sturm, aber
auch der Blitz und die Seele, so wird die Wirkung des Fluges
um so begreiflicher. Wenn also auch m nur die Vorstellung
vom Fluge enthielt, so ist es nicht schwer einzusehen, wie es
254die L, N, R … X, die nur einander ähnliche, aber doch verschiedene
Typen sichtbarer Gestalten in sich schlössen, überwinden
musste. Ja, eine so mächtig die Sinne erregende Vorstellung
wie die vom Fluge konnte gerade, wenn sie Verschiedenheiten
in sich schloss, nur um so mächtiger werden,
weil sie selbst zu einer kleinen Gruppe entfaltet war. Das
Flattern der Taube und des Sperlings und die wie ein Pfeil im
reizenden Schwunge hinschießende Schwalbe, die steigende Lerche
und der herabstürzende Raubvogel waren m + m + m + m...
= Mn. So riss sich dieses los aus den Verbänden Lm, Nm, Rm,
Xm, aber nicht um sich ihnen zu entfremden; sondern bei jedem
verbleibend ward es G, welches die L, N, R, X beherrschte.
Ich meine nicht, dass das allgemeine m sich in die besondern
m m... spaltete. Sondern diese waren ursprünglich im Bewusstsein.
Aber weil jedes besondre m in Lm, Nm, Rm... Xm so
mächtig den Sinn ergriff, hob es sich im Bewusstsein über die
andern Momente der Verbände L, N, R … X, so dass sich eine
Verschmelzungssumme Mn bildete, die unmittelbar und an sich
G ward, weil trotz der Verschmelzung doch jedes besondre m
in seinem Verbande blieb.

306. Wir fassen zusammen. Von den vereinzelten Art-Verbänden

Lmyz
Nmux
Rmtw
Xmab

werden die unwesentlichen yz, ux, tw... durch sie selbst getilgt;
und die m verschmelzen zu Mn:

image

Das heisst: Mn appercipirt die lnrx jedes einzeln, wodurch
diese zu s, es selbst aber zu G wird; es entsteht also
ein Doppelproduct: Ml u. s. w. aus der passiven Masse, Gs
aus der activen. (Näheres wird später noch folgen.)

307. Weiß Jemand nicht, dass ein wargenommenes Wesen
ein Vogel ist, weil er es für einen Sperling hält, oder weil er
diese Vogel-Art noch nicht kennt, so kann man das Moment
m durch Vergleichung mit Taube, Schwalbe u. s. w. einerseits
255und mit Pferd, Hund andrerseits verstärken; und ihn so veranlassen,
den Sperling oder den neuen Vogel durch m zu appercipiren.

308. Eben so belehren wir jemanden, der die Zoophyten
noch nicht kennt, indem wir einerseits ihn veranlassen, ein
Mn = Tier zu bilden, womit er das vorliegende Wesen appercipiren
könne, und indem wir ihm andrerseits an letzterem gewisse
Momente aufweisen, durch welche es mit M verflochten
ist und sich also appercipiren lassen kann.

309. Man kann oft genug bei Kindern beobachten, wenn
man ihnen klar macht, inwiefern ein Wort das Gegenwärtige
bezeichnet, wie sie darauf selbsttätig auch ein Abwesendes
richtig herbeiziehen; d. h. nachdem man ihnen für X das M
gegeben hat, womit sie jenes appercipiren können, so appercipiren
sie von selbst ein L oder R richtig mit demselben M.
Sie sagen sich gewissermaßen: wenn das ein M ist, so ist auch
jenes ein M. Denn wie das m mit dem X verflochten ist, so ist
es auch mit L und R verflochten und ruft diese in das Bewusstsein,
um sie sogleich zu appercipiren: R + m wird Mr u. s. w.

310. Die sokratische Methode, in psychologischer Sprache
definirt, besteht darin, durch Vergleichung innerhalb der im
Schüler vorhandenen Verbände Trennungen zu bewirken und
damit sogleich neue Verbände zu gestalten, welche fähig sind,
die alten Verbände zu appercipiren.

311. Wir wollen diese Untersuchung noch durch einen
Blick auf das Rätsel erläutern. Dasselbe besteht aus einem
oder mehreren Sätzen, die jeder in sich einen Widerspruch
tragen, wenigstens etwas Unerwartetes, Unerhörtes enthalten.
Solche Sätze können also nicht verstanden werden, weil das
Prädicat nicht das Subject appercipiren kann. Oder jeder Satz
ist zwar an sich verständlich; aber sie alle in ihrer Gesammtheit
finden keine appercipirende Masse, jeder einzelne Satz
bleibt vereinzelt im Bewusstsein. Die Lösung des Rätsels ist
nicht etwa im Lösungswort gegeben; sondern dieses ist das
Product der Apperception des Rätsels als eines Ganzen *)22. Bei
Sylben-Rätseln und ähnlichen gibt es mehrere Producte. Dies
256hängt davon ab, ob verschiedene Teile des Rätsels von verschiedenen
Massen, oder sie sämmtlich von einer appercipirt
werden. Denn lösen heisst appercipiren. Freilich, wenn ich
jemand, der ein Rätsel nicht appercipiren konnte, das Product
gebe, so wird ihm dieses zum Organ um damit den erzeugenden
Process auszuführen. Doch ist dies nicht immer der Fall, d. h.
man begreift nicht, wie dies die Lösung des Rätsels sein könne.
— Häufig dienen zur Grundlage des Rätsels mehrdeutige Wörter.
Wenn nun gar diese Bedeutungen sich widersprechen, so gibt
dies ein schönes Spiel mit Widersprüchen. So ermöglicht der
Doppelsinn von verschieden die Behauptung, dass nicht die
Lebenden, sondern die Toten es sind, und dass doch gerade
diese es nicht sind, sondern nur jene. Gehaltvoller wird
das Rätsel, wenn nur die verschiedenen Beziehungen den
Widerspruch erzeugen. Den Buß-Psalm 51, den David in
Reue über seinen Ehebruch gedichtet haben soll, lässt ein
französisches Rätsel sprechen und etwa so beginnen: ich bin
durch Ehebruch gezeugt und dennoch legitim. Die Schillerschen
Rätsel tragen den Charakter der primitivsten: sie
sind Beschreibungen eines Gegenstandes, der ganz widersprechende
oder wunderbare Eigenschaften hat. Diese werden
appercipirt durch die Vorstellungsgruppen von dem Gegenstande,
an dem sich wohl solche Eigenschaften zeigen, oder dessen
Eigenschaften so angesehen werden können. Wenn ich höre:
„Unter allen Schlangen ist eine Auf Erden nicht gezeugt,...
Und dieses Ungeheuer hat zweimal nie gedroht — Es stirbt
im eignen Feuer; Wie's tödtet, ist es todt” so verstehe ich die
Sätze, wenn ich sie als Beschreibung des Blitzes fasse. Die
Glieder der Vorstellungsgruppe, welche den Blitz nach seinem
Ursprung und der Form seines Erscheinens enthalten, stellen
sich als appercipirend ein. Der Reiz solcher Rätsel beruht
besonders darauf, dass, indem sich uns die Lösung ergibt, wir
einen bekannten Gegenstand in anziehendster Weise appercipiren
lernen. Denn bisher waren wir noch nicht dazu gelangt,
diesen Gegenstand durch die im Rätsel gegebene Vorstellungsgruppe
meist poetisch, wenigstens geistreich zu erfassen. Durch
die Vorstellungen vom Blitz also wird Schiller's Gedicht verständlich;
durch Schiller's Gedicht aber lernen wir, den Blitz poetisch
appercipiren. Diese Processe sind, wie man leicht sieht, der
257mannichfaltigsten Gestaltung fähig. Daher Rätsel bilden und
lösen das verbreitetste, beliebteste Spiel. Wenn das Grundwesen
alles Spiels die schaukelnde Bewegung ist (Lazarus,
Leben der Seele II), so ist diese hier damit gegeben, dass jede
der beiden Gruppen, die im Rätsel gegebene und die lösende,
in eigentlicher Wechselwirkung die andre appercipirt und von
ihr appercipirt wird, also Action und Passion über beide gleichmäßig
verteilt ist.

312. Es gilt im Allgemeinen von jeder im Bewusstsein
befindlichen Vorstellungsmasse in Bezug auf Apperception, was
von der Warnehmung gilt; denn diese ist in Wahrheit auch
nichts andres als eine im Bewusstsein befindliche Vorstellungsmasse,
nur anders hervorgerufen. Die Warnehmimg ruft zuweilen
eine Masse hervor, welche unmittelbar andre Massen in
Bewegung setzt und mit ihnen Processe eingeht, so dass die
Warnehmung kaum in Betracht kommt. Auch kann, wie jeder
weiß, eine Masse aus ganz unerklärbaren Ursachen plötzlich in
uns aufsteigen. Diese reproducirt dann weiter eine andre. So
kann, mag der Anfang eine Warnehmung sein, oder ein Gehörtes
und Gelesenes, oder ein ohne erkennbare Ursache Auftauchendes,
immer eine Masse die andre nach dem Gesetze der
Association reproduciren, ohne dass es zu einem Apperceptions-Processe
und einem Producte käme: ein leeres Wogen im Meere
des Gemüts oder in der See der Seele.

313. Das ist ein ganz passives Verhalten. Es geht ein
Sturm über die Seele, gleichgültig woher und wohin. Anders
wenn wir Zusammenhängendes hören oder lesen. Der Laut
oder Buchstabe erweckt in uns bestimmte Vorstellungsmassen
und erregt unter diesen Massen Apperceptions-Processe, die
durch Ordnung und Gestaltung der Sätze bestimmt werden.
Wenn wir mit den angeregten Massen vertraut sind, und ebenso
die veranlassten Proccsse vielfältig von uns geübt sind, so laufen
beim Hören und Lesen lange Gedanken-Reihen ab, welche eine
doppelseitige Förderung genießen. Denn einerseits werden sie
durch äußere Reize in uns hervorgerufen; andrerseits aber würde
selbst ohne dies die einmal hervorgerufene Masse gar leicht die
andre nach sich ziehen und mit ihr einen Process eingehen:
dies geschieht also nun durch doppelte Kraft, durch die innere
und die äußere. Darauf ruht das Vergnügen beim Lesen und
258Hören — aber auch die Qual, wenn nämlich die innere Kraft,
welche von der Association der einen Masse mit der andern in
uns herrührt, nicht übereinstimmt mit den Reproductionen, zu
denen uns der Buchstabe oder der Laut zwingt.

314. So ergeht es uns bei schlechten Schriftstellern oder
Rednern; sie zwingen uns durch Einwirkung auf unsre Sinne
zu Gedanken-Verbindungen, denen die in unsern Gedanken
liegenden Triebe widersprechen. Aber auch bei der Lesung
der besten Schriften, beim Hören der besten Reden kann es
kommen, dass es uns schnell lästig wird, ihnen zu folgen, und
dass wir sogar bald nicht mehr folgen. Das kann geschehen,
weil wir in den geforderten Gedankenverbindungen nicht geübt
sind: dann fehlt ebenfalls der Nötigung von außen die Unterstützung
von innen; oder weil wir ermüdet, krank sind; oder
weil wir zerstreut, abwesend sind, so dass die Gedanken-Reihe,
welche der Redner oder Schriftsteller in uns hervorruft, durchbrochen
und gestört wird durch eine vielleicht plötzlich in uns
auftauchende oder schon vor Beginn des Lesens in uns wirkende
Masse, welche mit dem Inhalte der Rede und Schrift in
keinem Zusammenhange steht.

315. Es gibt zeitweise Vorstellungen in uns, die so vielfältig
und namentlich mit der unser eigenstes Ich bedingenden
Vorstellungsgruppe so innig verflochten sind, dass sie gar nicht
aus dem Zustande der Schwingung geraten. Diese können
natürlich, in jedem Augenblicke ihre volle Gegenwart im Bewusstsein
erlangen und alles was sie darin vorfinden leicht verdrängen.
Solch eine Vorstellung ist z. B. die Erinnerung an
den Verlust einer geliebten Person. Auch für sie nimmt die
Empfänglichkeit ab, das Auge weint sich aus, und sie schwindet
auf eine Stunde, bleibt aber schwingend und wird wieder wirklich,
sobald Erholung eingetreten ist. So ist auch im Liebenden
der Gedanke an die geliebte Person immer schwingend und gibt
allem, was er im Bewusstsein duldet, den eigentümlichen Schwung.
Es kommt allerdings darauf an, ob diese ununterbrochen schwingende
Gruppe sich gegen die anderen rein negativ, bloß verdrängend
verhält, so dass sie keine andre aufkommen lässt, jeden
angesponnenen Gedanken-Faden schnell abreißt, oder ob sie
sonstige Apperceptionen zulässt, aber sie alle begleitet und an
ihnen Teil nimmt. In letzterem Falle ist sie nach 240 zu
259beurteilen; in ersterem dagegen nach Analogie der Verhältnisse
in 236. Es treten hier die Erscheinungen des Vertieft-Seins
oder der Zerstreutheit auf. Solche Personen sind geistig abwesen;
sie stehn unter der Herrschaft einer Gedanken-Gruppe,
den Denker lässt irgend ein Problem nicht los. Er geht in
Gesellschaft; aber er hört nicht, was um ihn und mit ihm gesprochen
wird (vgl. 244). Der Liebende ist ebenso ein Dichter
oder zerstreut. Der verspielte Knabe sitzt auf der Schulbank;
aber sein Bewusstsein ist auf dem Spielplatz. Dann freilich
tritt 258 nicht ein. *)23

316. Wir können aber unsere Erinnerungen und Gedanken
absichtlich leiten, wir können etwas in uns suchen, wie wir
außen suchen (201 ff). Irgend eine Masse reproducirt nach einander
alles, was sie reproduciren kann, womit immer sie associirt
ist. Dieselbe oder eine andre Masse aber steht bereit, jedes
so Reproducirte positiv oder negativ (attrahirend oder repellirend)
zu appercipiren. Diese bereit gehaltenen Massen, die natürlich
doch nur in Schwingung gehalten werden können, verlangen,
wenn sie sicher und angemessen wirken sollen, eine sehr sorgfältige
Gliederung, ich möchte sagen, eine Beseelung jedes
kleinsten Teiles.

317. Besonders merkwürdig ist die Wirksamkeit der Vorstellungsgruppen,
deren 285 gedacht ist, welche gar nicht nach
ihrem Inhalte wirken, sondern bloß als ein Verhältniss, welches
zwischen den verschiedensten Punkten stattfindet. Bald ist die
Einzelheit gegeben, von welcher dieses allgemeine Verhältniss
(oder diese Gruppe) reproducirt wird, und sie wird dann von
ihm appercipirt; bald ist das Verhältniss gegeben, und dieses
reproducirt eine Einzelheit, um sie sogleich zu appercipiren.
260Unsere Kätselfrage z. B., von der wir bei unsrer Betrachtung
der Apperception ausgingen, ist solch ein allgemeines Verhältniss.
Es ist in diesem Falle das Gegebene. Die Antwort zeigt,
dass und wie es reproduciren konnte. Als ich aber neulich
las, dass die Vulcane Inseln im Meere heben und später, wenn
diese mit Leben bedeckt sind, sie wieder in den bodenlosen
Abgrund versinken lassen, da fiel mir plötzlich unser Rätsel
ein, und ich appercipirte den Vulcan mit demselben (vgl. auch
250.) Indem ich aber den Vulcan durch ein Wesen appercipirte,
welches das was es hervorbringt, selbst wieder vernichtet,
appercipirte ich zugleich dieses Wesen durch den Vulcan (227.)

318. Da es immer Verhältnisse sind, welche in solchen
Fällen die appercipirende Macht besitzen, so sind in diesem
Zusammenhange auch die Gleichnisse und Bilder zu begreifen;
denn auch sie sind, wie schon Aristoteles bemerkte, immer
Proportionen: α : β = γ : δ. Z. B. der Morgen : Tag = die
Kindheit : Leben. Statt der vollen Form jedoch setzt man oft
die Abkürzung: die Kindheit ist wie ein Morgen; oder noch
kürzer sagt man etwa: Sein Morgen war trübe, sein Mittag
heiß. Hier werden Lebensabschnitte durch eine Analogie, durch
Verhältnisse des Tages appercipirt — der Ausdruck mag der
volle oder der abgekürzte sein, das sogenannte Tertium Comparationis
oder vielmehr die Quintessenz der Vergleichung bleibt
immer noch unausgesprochen und wird nur hinzugedacht. Von
den αβγδ ist keins dem andern gleich; nur das im Zeichen:
Angedeutete, gewissermaßen der Exponent,, dies Tertium oder
Quintum ist gleich.

319. Ob die Abschnitte des Tages oder die des Lebens
das active oder das passive Moment der Apperception sind,
hängt vom besondern Falle ab; und überall wo oder inwiefern
Gleichheit der Momente herscht, kann jedes das andre appercipiren.
Schildert man den Tag und nennt ihn jung, so ist er
das passive Moment; ist vom Alter die Rede und nennt man
es den Abend des Lebens, so ist der Tag das active Moment.
Das Product aber ist nicht dies, dass das eine Moment das
andre in sich aufnähme, wie die Art das Individuum; denn sie
sind einander fremd. Es ist aber auch gar nicht das active
Moment an sich, das appercipirt, sondern es ist ein in ihm obwaltendes
Verhaltniss. Nicht der Abend appercipirt das Alter,
261sondern das Verhältniss des Abends zum Tage. Das Product
ist also dies, dass das passive Moment in ein Verhältniss gestellt
Avird, das einem Verhältnisse der activen Masse analog ist. Es
wird 7 appercipirt durch α : β, und das Product ist γ : δ. Was
man das Tertium Comparationis nennt ist ein doppeltes; es ist,
wenn wir vom Gleichheits-Zeichen absehen, ein drittes und
sechstes Moment, welche beiden durch das doppelte: oder den
Exponenten vertreten werden. Als Tertium ist es das wahrhaft
appercipirende, als Sextum das Product oder Teil des Products.
Sagt man „Das Hellenentum ist die Kindheit oder der
Morgen der Menschheit”, so ist das Hellenentum das passive
Element γ, das in ein Verhältniss zur Menschheit δ gebracht
wird, welches Verhältniss γ : δ appercipirt wird durch das Verhältniss
α : β. Das : zwischen α β ist das gegebene active Moment;
das : zwischen γ δ ist das Product. Denn vor der Apperception
ist γ ein unbekanntes x, jetzt ist x = α : β. Kennt
man nun den Exponenten von α : β, so versteht man auch γ : δ
und erkennt damit γ. — Entwickelt ist die Proportion, wenn
Homer singt, Agamemnon stürze sich auf die Troer, wie der
Löwe auf die Rehe; verdichtet ist sie, wenn er von Apollon
sagt: „wie die Nacht”. Noch dichter sagt man: da kommt
mein Engel.

320. Wenn in allen diesen Fällen der Exponent verschwiegen
bleibt, so wird er doch häufig auch ausgesprochen:
echt wie Gold, fest wie der Fels. Die Proportion ist halb verschwiegen;
nur α und γ sind gegeben, β und δ müssen ergänzt
werden; dafür aber ist der Exponent da, und somit sind letztere
hinlänglich klar angedeutet. Um so leichter ist gerade hier zu
begreifen, dass das Tertium Comparationis oder der Exponent
nicht im passiven Moment mitgegeben ist, sondern nur im
activen; dass er also nicht zu den Elementen gehört, welche
sich in den beiden Massen gemeinsam finden und den Process einleiten *)24;
sondern, nur in der activen gegeben, wird er durch
den Process auch der passiven mitgeteilt; indem γ durch den
Exponenten von α : β appercipirt wird, wird dem γ derselbe
Exponent und damit das Verhältniss zu δ gegeben.262

321. Dies ist der Unterschied zwischen Poesie und Illusion.
In letzterer wird eine Warnehmung γ unmittelbar durch α appercipirt;
und gerade so ist es auch im Mythos. Die Morgenröthe
γ ist selbst das neugeborene Götterkind α; das Abendrot
ist selbst der verblutende Held. Der Dichter dagegen bildet
nur eine Proportion; nicht α=γ behauptet er, sondern er schafft
einen Exponenten und ein Verhältniss. Der Himmel ist weithin
rot (γ): die Sonne geht unter, der Tag ist zu Ende (δ) = es verblutet
(α): der Held (β). Er appercipirt nicht γ durch α; sondern
γ zu δ in Beziehung setzend appercipirt er γ : δ durch α : β,
also durch den Exponenten einer Proportion. Die Illusion und
der Mythos appercipirt substantiell, durch einen wirklichen Inhalt,
der Dichter bloß formal, durch Inhalts-Verhältnisse.

322. Die schmale, weithin sich erstreckende Röte ist der
gegebene Empfindungsstoff, welcher der Apperception harrt. Er
erweckt zur Illusion und zur Poesie die Vorstellung des Blutes
(aber nicht beim Meteorologen; in ihm als solchem ist Blut
keine Vorstellung, welche irgend welche Macht hätte). In der
Illusion nun verschmilzt die Röte mit dem hinströmenden Blute;
in der Poesie dagegen bleiben sie getrennt, werden aber in
Verhältniss zu einander gesetzt.

So weit reicht meine psychologische Mechanik, mit der sich
hoffentlich die geistige Entwicklung vollständiger wird begreifen
lassen, als bisher möglich war. Bevor wir jedoch dieser Entwicklung
näher treten, haben wir noch ein Kapitel der Physiologie
zu entlehnen, das von principieller Wichtigkeit für die
Psychologie ist, weil es die Beherschung des Körpers durch
den Geist betrifft.

V.
Leibliche Bewegung.

323. Man unterscheidet für das Tier vegetative Bewegungen,
d. h. solche, welche zur Erhaltung des lebendigen
Leibes in seinem organischen Bestande wirken, und animale,
welche eine Veränderung entweder des Ortes des ganzen Leibes
263oder der Lage einzelner Glieder desselben hervorbringen. Zu
den vegetativen Bewegungen gehören alle chemischen und morphologischen
Processe, die sich im tierischen Leibe vollziehen,
und auch die physikalischen Vorgänge an und in den inneren
Organen, wie z. B. die Erweiterungen und Verengerungen des
Brustkastens, durch welche ein- und ausgeatmet wird, die Zusammenziehungen
und Ausdehnungen des Herzens und der
Adern, durch welche das Blut in einem Kreislaufe durch den
Körper getrieben wird u. s. w. Zu den animalen Bewegungen
gehört das Gehen in allen seinen Formen, gelassenes Ausschreiten,
Laufen, Springen, Tragen, aber auch das Stehen in
den möglichen Stellungen, wozu auch das Knieen und Sitzen zu
rechnen. Ferner aber sind animale Bewegungen die Streckungen
und Beugungen und Drehungen der Gliedmaßen und des Rumpfes
wie auch des Kopfes.

324. Es ist klar, dass auch das Sprechen eine animale
Bewegung ist, freilich eine solche, welche mit der vegetativen
des Atmens in engem Zusammenhange steht. Im Allgemeinen
sind die vegetativen Bewegungen der Willkür entzogen; jedoch
hat der Wille auf einige derselben bis auf ein gewisses Maß
eine regelnde Kraft, kann dieselben beschleunigen oder hemmen
und verlangsamen, so z. B. gerade das Atmen. Wir können
langsamer und tiefer, schneller und oberflächlicher und unregelmäßig
oder regelmäßig atmen, wenn auch innerhalb nicht eben
weiter Grenzen. Dies und namentlich die Kraft und Stärke,
überhaupt die Modification des Ausatmens macht sich besonders
beim Sprechen (noch mehr beim Singen) geltend. Außerdem
aber dass das Sprechen durch ein modificirtes Atmen zu
Stande kommt, beruht es ja auf Bewegungen der sogenannten
Sprach-Organe. Wie kommen diese Bewegungen zu
Stande?

325. Der Träger des menschlichen Leibes, was seiner Gestalt
den festen Gehalt gewährt, und wie die Mauern und Wände
eines Gebäudes den Plan zu seiner Einrichtung darstellt, ist
das Skelett, das Beingerüst. Es ist hart und starr, aber aus
Gliedern zusammengesetzt, welche in einander gelenkt, und durch
Bänder mit einander verbunden, gegen einander beweglich sind.

326. Es besteht hauptsächlich aus drei Teilen: der Wirbelsäule
(mit dem Halse), dem Schädel und den Gliedern.264

Die Wirbelsäule besteht aus 24 über einander liegenden
ringförmigen Knochen (Wirbeln), so dass diese Säule zugleich
eine Röhre oder einen Canal bildet. Oben auf ihr steht der
Schädel, welcher als ein besonders entwickelter Wirbel angesehen
werden kann, und welcher die Röhre der Rücken- und Hals-Wirbel
fortsetzt und abschließt, indem er eben selbst eine weite
Höhlung (etwa eine hohle Halbkugel) darstellt. An die beiden
Seiten der Rücken-Wirbel legen sich die Rippen an, und unten
ist die Säule mit dem Becken fest verwachsen.

327. So bildet das Knochengerüst eine doppelte Höhle:
eine hintere, engere, welche durch die ganze Wirbelsäule läuft
und in dem Schädel endet, und in welcher sich das Rückenmark
und das Gehirn befinden, und eine weitere, vordere, durch
die Rippen und das Becken gebildet und vorn teils durch den
Brustknochen, teils durch die Bauchwand geschlossen, in welcher
sich oben (im Brustkasten) die Lunge und das Herz, unten die
der Verdauung dienenden Eingeweide befinden. Die erstere
ist die geschütztere, rundum von sehr festen Knochen-Gebilden
umschlossen; die andre ist weniger fest, und namentlich der
Bauch-Teil nach vorn ganz ohne Knochen. Es liegt auf der
Hand, wie dieser verschiedene Grad des Schutzes ganz der
größern und geringem Wichtigkeit und Verletzlichkeit der Organe
in diesen Höhlen entspricht.

328. Diese Einrichtung einer Doppel-Höhle ist das Charakteristische
an dem Bau aller Wirbel-Tiere, d. h. der Säugetiere,
Vögel, Amphibien, Fische. Alle übrigen Tiere, wie die
Insecten, Würmer u. s. w. sind nach einem ganz anderen Plane
gebaut.

329. Das Bein-Gerüst ist ganz passiv, fähig der Bewegung,
aber nicht bewegend, nur bewegt. Die active Bewegung
geschieht durch die Muskeln. Sie sind das, was man im
Leben das Fleisch nennt. Das Fleisch ist nicht etwa eine formlose
Masse, nicht etwa ein Wulst, der die Knochen umkleidet;
sondern es besteht aus mikroskopisch feinen Fasern, welche sich
zunächst zu Bündeln vereinen, welche dann den Muskel in
mannichfachster Größe, meist aber in spindelförmiger Gestalt
bilden. An den Knochen, die von mehr oder weniger starkem
Fleisch bedeckt erscheinen, sitzen mehrere Muskeln, deren jeder
seine besondere Tätigkeit übt. Der Muskel hat nämlich nur
265die eine Leistung zu vollbringen: sich zusammenzuziehen und
zu verkürzen, wonach er wieder in den Zustand der Erschlaffung
zurückkehrt. Nun denke man sich zwei Knochen fähig,
wie die Schenkel eines Zirkels, sich einander zu nähern und
von einander zu entfernen. Ferner stelle man sich vor, an dem
einen Schenkel sitze ein Muskel, welcher mit einem Bande
(einer Sehne) endet, das an dem anderen Schenkel befestigt ist.
So begreift man wohl, wie durch Verkürzung des Muskels dieser
andre Schenkel dem ersteren genähert wird. Und so wird überhaupt
ein Muskel, der an einem unbeweglichen oder ruhenden
Teil des Körpers angebracht ist, und dessen Sehne sich an das
Ende eines eingelenkten Knochenhebels befestigt, durch Zusammenziehung
und also Verkürzung den Hebel oder den
Knochen der Stelle nähern, wo er sich befindet. So wird eine
Beugung bewirkt. Dann vermag ein an entgegengesetzter Stelle
wirkender Muskel einen Zug nach entgegengesetzter Richtung,
also eine Streckung hervorzubringen. So gibt es antagonistische
Muskeln. In anderer Lage vermögen diese eine Drehung hin
und her hervorzubringen. Die Muskeln haben nur Zugkraft,
und jeder nur nach einer Richtung. Soll also ein Glied dem
andern genähert und wieder entfernt werden, so verrichten dies
zwei Muskeln durch entgegengesetzten Zug. So vielfältig die
Richtung der Bewegung, so viel Muskeln; ohne besondern Muskel
ist eine Bewegung unmöglich. Nun gibt es aber auch combinirte
Bewegungen, an denen mehrere Muskeln zugleich mitwirken.

330. Muskeln können auch auf Häuten sitzen. Durch
ihre Verkürzung werden sie dann gewölbte Häute platt drücken,
Röhren von Haut, z. B. die Adern, verengen und dadurch den
in diesen Röhren befindlichen Inhalt wegdrängen und durch
dieselben fortbewegen; und wenn sie selbst einen Raum einschließen,
wie zur Bildung des Herzens, so werden durch ihre
Zusammenziehung die Räume verkleinert, und der in diesen
befindliche Stoff, wie das Blut, wird ausgetrieben.

331. So kann man sich wohl vorstellen, wie alle Bewegungen
des Leibes, die vegetativen wie die animalen, Bewegungen
der Knochenhebel, wie Spannung der Häute, Strömung
der Flüssigkeiten, Wegschaffung fester Excremente, durch Muskel-Zusammenziehung
bewirkt werden.266

332. Es ist hier keine Veranlassung, von der Verdauung
und dem Kreislaufe des Blutes zu reden. Vom Atmen wird
passender dort zu reden sein, wo von der Bildung der Sprachlaute
gesprochen werden wird. Hier kann es genügen, zu bemerken,
dass die Erweiterung und Verengerung des Brustkastens,
worauf das Atmen beruht, dass namentlich das Heben und
Senken des Brustknochens und der Rippen durch sehr viele
vereint wirkende Muskeln bewirkt wird. — Und so kommen wir
zu den Nerven.

333. Die Nerven sind Fäden, welche vom Central-Organ,
d. h. dem Rückenmark und dem Gehirn, entspringend sich nach
allen Teilen des Körpers hin erstrecken und eine Vermittelung
zwischen dem Centrum und der Peripherie des Leibes herstellen.
Wo sie aus dem Central-Organ heraustreten, erscheinen sie als
ziemlich starke Fäden, welche sich in ihrem Verlaufe immer
weiter spalten und dünner werden, und so in den Teilen des
Leibes verzweigen. Manche haben einen weitem, manche einen
kürzern Verlauf. Anatomisch, chemisch und physikalisch verhalten
sie sich alle gleich; physiologisch aber zerfallen sie in
zwei Hauptabteilungen: in solche, welche Gefühle und Empfindungen,
und in solche, welche Bewegungen verursachen.
Die Nerven der einen wie der andern Art sind Leiter: sie leiten
entweder die Eindrücke der Oberfläche des Körpers zum Centrum,
und sind dann sensitive Nerven; oder sie leiten Erregungen vom
Centrum in die Muskeln und sind motorische Nerven; sie wirken
also teils centripetal, teils centrifugal. Ohne Nerv keine
Empfindung und kein Gefühl, und ohne Nerv keine Bewegung:
denn der Muskel für sich würde sich nicht zusammenziehen; es
ist vielmehr nur der Nerv, der ihn dazu nötigt. Und bei der
völligen Gleichheit aller Nerven wird die Verschiedenheit ihrer
Wirksamkeit nur durch die Art und Weise des Ursprungs im
Centrum und die Art und Weise ihrer Endigung bedingt. Die
motorischen Nerven endigen in Muskeln, die sensitiven breiten
sich in den Sinnes-Organen, über die Haut und überall da aus,
wo wir Gefühle haben.

334. In der Anatomie benennt man einen Nervenfaden, wie er
aus dem Centrum tritt, mit allen Zweigen, die er allmählich
abgibt, als anatomische Einheit mit einem Namen. Physiologisch
aber, d. h. mit Rücksicht auf die Wirksamkeit des Nerves,
267verhält sich die Sache nicht so einfach. Solch ein Nerv im
gemeinen anatomischen Sinne ist so wenig ein einfaches Organ,
dass darin häufig ein motorischer und ein sensitiver Nerv vereinigt
sind. Er ist nämlich allemal ein Bündel mikroskopisch
feiner Nerven-Fasern, und solch eine Faser ist das eigentliche
Organ. In einem Nerven-Faden oder Nerven-Bündel sind aber
oft motorische und sensitive Fasern zusammen neben einander;
und so spricht man außer von motorischen und von sensitiven
Nerven, d. h. von solchen Nerven-Bündeln, welche nur solche
oder solche Fasern haben, auch von gemischten Nerven, d. h.
von solchen Bündeln, welche sowohl solche als auch andre
Fasern in sich schließen. Niemals aber kann wirklich ein centripetales
Organ auch centrifugal leiten, noch auch umgekehrt.
Es kommt auch vor, dass Fasern aus dem einen Nerven in
einen andern übergehen (Anastomosen): hieraus aber ergibt sich
weiter keine Gemeinsamkeit beider Nerven; denn es leitet immer
eine Faser nur für sich.

335. Jede Nerven-Faser also muss eigentlich als ein Organ
für sich angesehen werden; denn sie leitet entweder von der
Peripherie zum Centrum oder umgekehrt (je nachdem sie sensitiv
oder motorisch ist) durchaus isolirt, ohne in ihrem Verlaufe
eine empfangene Erregung seitwärts abzugeben und ohne eine
Erregung seitwärts zu empfangen. Damit soll nicht gesagt sein,
dass nicht ein Nerv mitten in seinem Verlaufe gereizt werden
könne; dann leitet er aber ebenso entweder nur zum Centrum
oder nur zur Peripherie, und gibt nichts davon auch nur der
nächstliegenden Faser ab, mit der er in demselben Bündel liegt,
weswegen ihm auch eine Anastomose ganz gleichgültig ist. Wo
und was eine Faser auch aufnimmt, sie gibt nur an ihrem Endpunkte
ab. Sie erfüllt also eine volle Leistung für sich. Und
sie erfüllt sie nur, wenn sie vom Ursprung bis zur Endigung
unverletzt ist. Ist ein Nerv durchschnitten, so bleibt nur der
Teil lebendig wirksam, der noch mit dem Centrum zusammenhängt;
der abgelöste Teil dagegen kann weder aus einem äußern
Reize der Peripherie ein Gefühl bilden, noch vom Gehirn aus oder
psychisch eine Bewegung erzeugen. S. den Anhang über Aphasie.

336. Wenn aber auch jede Nerven-Faser ein ganzes Organ
ist, so ist doch begreiflich, dass ihre Leistung als motorische
nur schwach, als sensitive nur beschränkt ist. Einen
268Muskel, der den Oberschenkel bewegen soll, kann eine Nerven-Faser
nicht zur Zusammenziehung bewegen. Eine motorische
Nerven-Faser mag eine ausreichende Wirkung auf eine Muskelfaser,
vielleicht auf zwei oder gar drei, üben; der ganze Muskel
aber verlangt als genügenden Reiz wohl halb so viel Nerven-Fasern
als er aus Muskel-Fasern besteht. Und ebenso vermag
das, was das Gehör-Organ leistet, nicht durch eine sensitive
Faser bestritten zu werden. Wir haben in Wahrheit nicht
einen Nervus Acusticus, sondern etwa zehntausend. Demnach
liegt die Sache etwa so. Eine Orgel-Pfeife ist ein Organon,
wenn auch ein nur eintöniges, und darum ist es eben noch keine
Orgel, welche viele solcher Pfeifen verlangt. Eine Saite ist ein
Instrument, ein Monochord; eine Harfe, ein Klavier ist eine
Zusammensetzung aus vielen solcher Instrumente. In gleichem
Sinne hat jedes leibliche Organ viele Nerven. Nicht leicht,
vielleicht nie mag es vorkommen, dass eine motorische Nerven-Faser
allein eine Wirkung übt; sie arbeitet wohl immer nur in
Gemeinsamkeit mit vielen. Die Arbeit der motorischen Fasern
ist die größere. Die Leistungen der sensitiven Nerven der
höhern Sinne, des Gehörs, Gefühls und des Tastens, ist ungleich
feiner und erfordert die vereinzelte Wirksamkeit der
Fasern.

337. Um diese allgemeinen Bemerkungen über die Nerven
abzuschließen, sei nur noch dies bemerkt. Wie motorische und
sensitive Nerven nicht an sich durch besondre Qualitäten, sondern
nur durch ihre beiden Enden verschieden sind, so ist auch
die specifische Wirksamkeit der sensitiven Nerven, das Sehen,
Tasten u. s. w. nur durch die eigentümliche Weise ihrer Verbreitung
in den Organen und auch wohl ihres Ursprungs im
Gehirn bedingt. Die anatomische und physikalische Gleichheit
aller Nerven erscheint um so wichtiger, als jeder Verschiedenheit
der Function auch eine der Organisation entspricht; z. B.
unterscheiden sich die Muskeln der vegetativen Bewegung von
denen der animalen.

338. Dem Knochen gegenüber ist der Muskel das active
Organ der Bewegung; gegenüber dem motorischen Nerven ist
auch er ein passives Organ. Aber auch der motorische Nerv
empfängt erst einen Anstoß; auch er wirkt nicht primär, sondern
269secundär; er wird erregt durch die Sensation, d. h. durch sensitive
Nerven oder den sensitiven Teil des Gehirns und Rückenmarks.
Erfolgt diese Erregung und dann die Bewegung, ohne
gewünscht oder beabsichtigt zu sein, so nennt man sie Reflex-Bewegung,
eben im Gegensatze zu den mit Wunsch und
Absicht begleiteten Bewegungen, den sogenannten willkürlichen.
Eine Reflex - Bewegung ist z. B. das Husten, das durch einen
Reiz in den Luftwegen hervorgebracht wird; das Niesen, das
durch einen Kitzel in der Schleimhaut der Nase entsteht; das
Anziehen des Beines beim Kitzel an der Sohle des Fußes; das
Schlucken, wenn der hintere Teil der Zunge gereizt wird. Zu
den Bewegungen gehören auch die Aus- und Absonderungen.
Also ist auch das Weinen, wie das Schluchzen in Folge von
Schmerz, und das Lachen infolge mannichfacher Sensation Reflexbewegung.
Denn alles dies erfolgt unwillkürlich, und oft
gegen unsern Willen und Wunsch. Wenn wir erschrecken,
fahren wir zusammen, namentlich wenn wir einen starken Schall
hören, z. B. beim Abfeuern einer Kanone. Schwächere Menschen
erschrecken schon, wenn der Pfropfen einer Flasche mit
Soda-Wasser abspringt. Nichts andres als Reflexbewegung ist
das gesammte Spiel der Gesichtszüge und der Gesichtsausdruck.
Das Erröten und Erbleichen, d. h. das Vorschießen oder Rückdrängen
des Blutes, das Zusammenziehen der Stirn und das
Anschwellen der Ader, das Verziehen der Lippen, die Modification
des Blickes u. s. w., wie es bei Scham, Schreck, Zorn,
Verlegenheit u. s. w. erfolgt, das alles ist Reflexbewegung.

339. Wir definiren also die Reflexbewegung als eine Bewegung,
welche erfolgt, wenn die Erregung eines sensitiven
Nerven, nachdem sie zum Central-Organ geleitet ist und hier
eine Sensation bewirkt hat, durch das Central-Organ hindurch
auf einen motorischen Nerven übergeht und eine Bewegung auslöst.
Auch Erregungen sensitiver Teile des Central-Organs
übertragen sich häufig unwillkürlich auf motorische Teile und
Nerven und lösen Bewegungen aus. Es ist überhaupt zu dieser
Definition noch folgendes anzumerken. Der beschränkteste sensible
Reiz, durch den nur eine oder wenige sensible Nerven-Fasern
in Erregungszustand versetzt werden, erregt stets eine
beträchtliche Anzahl motorischer Fasern. Die Übertragung der
Erregung verbreitet sich also stets über größere Gruppen von
270Bewegungsnerven, welche physiologisch zusammengehören. Es
werden also erstlich alle zu einem Muskel gehenden Fasern
gleichzeitig erregt, so dass nicht etwa partielle Zuckungen des
Muskels entstehen; aber nicht nur dies, sondern es werden
auch zweitens mehrere Muskeln, welche zu einer gemeinsamen
Function wirken, zusammen ergriffen, ja selbst complicirtere
Muskelsysteme, deren combinirte Tätigkeit gewisse physiologische
Wirkungen hervorbringt, wie die Exspirations - Muskeln. Dies
(wie manche andre durch Experiment oder Krankheit herbeigeführte
Tatsache) führt zu der Annahme von beschränktern
Central-Organen im Gehirn zur Erzeugung zusammengesetzter
Bewegungen, welche durch die Sensation erregt werden und
diese Erregungen auf die ihm untergeordneten, von ihm ausgehenden
und abhängigen motorischen Fasern übertragen. Diese
engern Centra stehen wieder unter sich in Verbindung. So
dürfen wir z. B. oder müssen für die Bewegungen der Sprach-Organe
ein gemeinsames Centrum im Gehirn annehmen, dessen
Lage sich sogar genau und bestimmt angeben lässt, und dieses
muss mit dem Centrum für das Ausatmen in Verbindung stehn.
Und so begreifen sich die zum Teil sehr vielfältig und zweckmäßig
zusammengesetzten Bewegungen, welche durch Sensationen
ausgelöst werden.

340. Genau genommen sind alle Bewegungen Reflex-Bewegungen;
denn sie sind sämmtlich Auslösungen, also Reflexe
von Sensationen. Auch die vegetativen Bewegungen einerseits
sind durch Reizungen sensitiver Teile veranlasst; und die Absicht
andererseits fällt nicht minder unter den Begriff der Sensation
im weitesten Sinne. Also, wie schon bemerkt (338),
alle Bewegungen sind secundär; die Sensation ist allemal
das Primäre. Dass man nun aber den Ausdruck Reflex-Bewegung
auf die unwillkürlichen animalischen Bewegungen
beschränkt hat, das liegt an der alten Ansicht, als wären
alle animalischen Bewegungen freiwillige, beabsichtigte, von
der Seele und dem Bewusstsein ausgehende. Man hob also
einen Teil der Bewegungen heraus, indem man sie als unfreiwillige,
und dennoch animalische, erkannte. Auch liegt die
Sache gerade bei diesen am klarsten vor, weil sie am besten
durch das Experiment erwiesen und von jedem an sich selbst
erfahren werden kann. Aber man darf nicht meinen, die besonders
271sogenannten Reflex-Bewegungen seien dadurch vor den
beabsichtigten Bewegungen ausgezeichnet, dass sie nach bloßen
Naturgesetzen, rein nach der Einrichtung des Nerven-Mechanismus
erfolgen. Denn ganz dasselbe gilt auch von den absichtlichen
Bewegungen. Die Absicht muss durchaus als eine Erregung
gewisser Teile des Gehirns angesehen werden, welche
nach der Mechanik des Central-Apparats Bewegungen auslöst.
Überhaupt aber darf Absicht und Willkür und Freiheit niemals
als außerhalb des Mechanismus stehend gedacht werden. Ohne
physische Vorbereitung kann die Absicht kein Glied rühren.

341. Sind einerseits Bewegungen Folgen von Sensationen,
so veranlassen sie andererseits auch wieder Sensationen, und
zwar zunächst Bewegungsempfindungen, welche durch sensitive
Nerven in den bewegten Gliedern erregt werden. Jede Bewegung
verursacht je einen Druck oder eine Spannung gewisser
Teile, und da in diesen sensitive Nerven sind, so wird der
Druck oder die Spannung und damit eben die Bewegung empfunden
und gefühlt. Auch hat der Muskel das Gefühl seiner
Zusammenziehungen. Dann aber werden die Bewegungen gesehen;
und wenn ein Glied bis zur Berührung des andern oder
eines Gegenstandes bewegt wird, so entsteht wiederum eine
Warnehmung durch den Tastsinn.

342. Wir kennen also:

I. Vegetative Bewegungen, sämmtlich von unserer
Willkür unabhängig und von derselben nur innerhalb
enger Grenzen modificirbar,

II. Animalische Bewegungen

A) absichtliche

B) unabsichtliche.

Hierbei ist abgesehen worden von gewissen Bewegungen einiger
Elementarteile (Pigmentkörnchen und Flimmerhärchen), welche
allenfalls zu den vegetativen Bewegungen als besondre Unterart
derselben oder als mit ihnen in Zusammenhang stehend gerechnet
werden könnten.

Den Ausdruck Reflex-Bewegungen, obwohl er seinem
Inhalte nach auf alle Arten eigentlicher Bewegung des tierischen
Organismus passen würde, wollen wir in hergebrachter Weise
auf die unabsichtlichen animalischen Bewegungen und
die unabsichtlichen Modificationen der vegetativen
272Bewegungen beschränken. Dagegen sollen die vegetativen Bewegungen
in ihrem normalen Ablauf unter Reflexbewegung nicht
mitverstanden sein, und der Eingriff der Absicht in dieselben,
sei er hemmend oder fördernd, als animalisch gelten.

343. Über den Wert der Reflexbewegung (denn auch bei
rein causaler Betrachtung kann oder muss der Wert einer
Function betrachtet werden; ohne sich in Teleologie zu versteigen,
muss erkannt werden, was eine Function für den Bestand
des Organismus leistet, und diese Leistung ist ihr Wert) sei
folgendes bemerkt *)25. Wer eine immaterielle Seele annimmt,
kann sich die Frage vorlegen, welchen Anteil sie an der Entstehung,
Bildung und Erhaltung des organischen Leibes nimmt.
Wir gehen hierauf nicht ein. Uns ist gewiss, dass, wenn und
insofern die Seele, immateriell oder materiell oder wie immer
gedacht, in die körperlichen Processe dauernd oder zu bestimmten
Phasen eingreift, dies nach reiner Mechanik ohne Bewusstsein
geschehen müsse. Dies widerspricht nicht unserer obigen
Bemerkung (2); denn z. B. sich Nahrung Schäften ist freilich
Aufgabe des Bewusstseins; aber sicherlich nicht Verdauen etc.
Der Mensch aber wird nicht mit Bewusstsein geboren. Wer
oder was leistet nun dem Kinde das, was zu beschaffen Sache
des Bewusstseins ist? Die Mutter natürlich. Was kann sie denn
aber tun? Sie kann das Tränkchen herbeibringen; kann sie das
Kind Schlucken lehren? so wenig wie Atmen. Sie kann die
Brust hinreichen; kann sie das Kind saugen lehren? Kann sie
es lehren, Arm und Hand und Bein bewegen? oder Schreien?
so wenig wie Sehen und Hören. Die Natur selbst, die Mechanik
des eigenen Körpers ist Lehrerin des Kindes. Sie tut
so lange alles Nötige unbewusst, bis das Bewusstsein erwacht.
Man hat die Flüssigkeit nur tiefer in den Mund zu gießen; der
dadurch entstehende Gefühls-Reiz löst die Schluckbewegung aus.
Man hat nur die Lippen des Kindes und die Zungenspitze zu
berühren, so drücken sich jene zusammen und die Zunge macht
die zum Saugen nötige Bewegung, das Kind macht aus seinem
Munde ein Pumpwerk. So schreit und strampelt ein Kind,
verzieht das Gesicht, dreht das Auge hin und her, kurz, vollzieht
273alle Bewegungen in Folge äußerer und innerer Reize als
bloße Maschine. — Zu den Gegenständen nun, die allmählich
das Bewusstsein erfasst, zum Wissen, welches das Kind nachgerade
erlangt, gehören vorzüglich auch die Vorstellungen vom
eigenen Leibe. Es lernt allmählich die Hand nach einer bestimmten
Richtung zu einem besimmten Ziele führen, nachdem
es tausendmal die Hand unwillkürlich bewegt hat; es lernt den
Teil des Körpers kennen, von wo ein Gefühl ausgeht. Es lernt
dies alles, indem sich Eindrücke des Gesichts und des Gefühls,
der Anblick der Bewegung und die Gefühle, welche die Bewegung
begleiten, und die Ursache (der Reiz) und der Erfolg
der Bewegung (gesehene Gegenstände und gesehene Veränderungen),
mit einander verbinden. Durch vielfache Verbindung
entsteht Bewusstsein; und die Begleitung von Bewusstsein unterscheidet
die willkürliche, die absichtliche Bewegung von der
unwillkürlichen. Will ich z. B. ein Glas Wasser ergreifen, so
ist die Vorstellung des Trinkens und der nötigen Bewegung
des Armes (d. h. die Anschauung, wie dieser den Raum durchmisst)
eine Erregung gewisser Gehirnteile, welche sich auf motorische
Teile des Central-Organs überträgt und die betreffende
Bewegung auslöst. Dieser Process selbst der Übertragung und
der Erregung der motorischen Nerven und der Contraction der
Muskel wird nicht gedacht; er bleibt für das ganze Leben bloßer
Reflex. Ich wiederhole also: jede Bewegung ist ein Reflex,
entweder auf Gefühls-Reize = unwillkürliche Bewegung oder
auf vorgestellte Absicht = willkürliche Bewegung. Das Bewusstsein
an sich, die Vorstellung, kann den Arm nicht heben,
weiß auch nicht, wie er zu heben ist. Es wird aber durch die
leibliche Mechanik auf die motorischen Organe geleitet; und so
wird der Körper ganz mechanisch mit Bewusstsein und der
Absicht gemäß gelenkt. Die Absicht richtet sich nicht auf
jede motorische Faser, die gerade in Betracht kommt, sondern
nur auf jene kleinern Centra (339), von denen alle betreffenden
Nerven ausgehen.

344. Wir sehen also wie die Reflexbewegung, ich möchte
sagen, der Lehrgang der Natur ist, durch welchen sie zur bewussten
Bewegung die Anleitung gibt. Sie ist auch das Mittel,
das Kind, bevor es zum Bewusstsein gelangt ist, zu erhalten.
Sie ist aber auch ein Mittel, das Leben zu verteidigen, in Fällen,
274wo wir ratlos sein würden. Wie leicht gerät ein fremder Körper
in die Luftröhre! Ja in dieser bildet sich leicht Schleim, der
sie bald verstopfen und uns zum Erstickungstode bringen würde.
Nun aber geschieht es mechanisch, dass dieser Schleim, wie
jeder fremde Körper einen Reiz bewirkt, der sich im Husten
entladet. Durch diese Reflex-Bewegung des Hustens entsteht
ein starker Luftstrom von innen nach außen, welcher das Fremde,
Schädliche fortstößt. Wenn grelles Licht das Auge trifft, so
werden durch Reflexbewegung die Augenlider gesenkt; und je
nach dem höhern oder niedrigem Grade der Helligkeit zieht
sich die Iris zusammen oder erweitert sich.

345. Herschen ist Sache des Bewusstsein, nicht Machen.
So ist die Maschine, die wir Mensch nennen, eingerichtet, dass
der Geist befiehlt und der Körper gehorcht, ausführt, tut. Der
Befehl ist aber nicht immer ein Gebot, er ist auch zuweilen
ein Verbot. Geist, Bewusstsein nämlich hat einen Zweck, ist
Absicht. Solche Bewegungen, welche dem Zwecke dienen,
fordert, gebietet er; die Gefühle aber reizen den Leib tausendfach
und veranlassen zwecklose Bewegung, ja zweckwidrige:
solche hemmt, verbietet der Geist. Es gibt Ganglien und mag
Partien des Gehirns geben, welche geradezu Bewegungen verhindern;
sie werden aber wohl so wirken, wie auch die Absicht
zu einer Hemmung wirkt, nämlich so, dass sie eine antagonistische
(329) Bewegung gegen die unliebsame hervorruft. Dann
gleichen sich zwei einander entgegenwirkende Kräfte aus. So
können wir selbst starken Drang zum Lachen oder zum Weinen
oder zur Entleerung unterdrücken. Es wirken also die Reflexe, als
nach mechanischen Gesetzen erfolgend, unausweichlich. Unsere
Freiheit kann sie nicht ungeschehen machen, kann ihnen aber
Kräfte entgegenstellen, durch welche ihre Wirkung gelähmt wird.

346. Physiologisch steht nur dies als Tatsache vor uns:
Sensation im weitesten Sinne löst die Bewegung aus; ob dies
mit oder ohne Bewusstsein und Absicht geschieht, macht physiologisch
gar nichts aus, ist ein rein psychologischer Unterschied.
Indessen steht doch dem psychologischen Verhältniss
ein physiologischer Umstand zur Seite. Die Leitung nämlich
der Sensation auf das motorische Organ ist nicht an allen Orten
des Central-Organs (und durch das Central-Organ führt diese
Leitung allemal) gleich leicht. Einen gewissen, wenn auch kleinen
275Widerstand hat die Sensation immer zu überwinden. Jede Bewegung
erfolgt erst, wenn die sensitive Erregung einen gewissen
Grad erreicht hat. Bei derjenigen aber, welche wir Reflex-Bewegung
nennen, ist der Widerstand, den die Sensation findet,
gering; der Weg ist gewissermaßen von Natur geebnet, mechanisch
vorgebildet. Dies kann aber nicht für alle Fälle geschehen
sein, welche durch geistige Zwecke herbeigeführt werden.
Jede Sensation hat im Central-Organ ihren bestimmten
Platz, und jede Bewegung hat im Central-Organ ihren Anfangs-Punkt.
Nun kann ein Zweck fordern, dass auf eine Sensation
eine Bewegung erfolge, deren Ursprung von dem Orte jener
Sensation entfernt ist, und ohne dass zwischen beiden physiologisch
ein eigentlicher Leitweg gebildet wäre. Dann versteht
es der Zweck ihn zu bahnen. Das Bewusstsein merkt sich allmählich
von allen Bewegungen, die unwillkürlich geübt sind, den
motorischen Ausgangspunkt. Diesen weiß es zu erreichen, und
so kann die besondre Absicht einer Bewegung zwischen jene
Sensation und diese Bewegung treten und diese hervorrufen.
Sie knüpft sich an die Sensation und leistet was diese nicht
konnte im Dienste eines umfassenderen Zweckes. Wird dies oft
wiederholt, so wird dadurch die Bewegung so fest mit der Sensation
associirt, dass sie auf letztere auch ohne Zwischentritt der
Absicht unmittelbar erfolgt; d. h. die Absicht bleibt unbewusst
und wirkt schwingend. Zwischen der Warnehmung einer musikalischen
Note z. B. und einer Fingerbewegung kann unmöglich
eine physiologische Leitung bestehen. Der musikalische
Zweck aber fordert, dass wo möglich mit derselben Schnelligkeit
wie das Auge die Noten durchläuft, die Finger gewisse
Bewegungen ausführen. Der Schüler vermag das nicht; der
Anblick der Note setzt den Finger nicht in Bewegung; sondern
nach dem Anblick (also nach einer Sensation) entsteht, dem
Zwecke gemäß, die besondre Absicht zu einer vorgeschriebenen
Fingerbewegung; und erst auf die Absicht erfolgt diese Bewegung.
Wiederholt sich aber oft im Schüler diese dreigliedrige
Reihe: Anblick eines Zeichens als einer vorgeschriebenen Bewegung,
Absicht zur Ausführung derselben, wirkliche Ausführung,
so tritt endlich eine so feste Association ein, dass das
erste Glied unmittelbar das dritte erzeugt, als wäre dieses eine
Reflex-Bewegung auf den Anblick der Note. Die besondre
276Absicht kommt gar nicht mehr zu Bewusstsein, so wenig wie
der Gesammt-Zweck (366).

Dies sind Associations-Bewegungen: so nennen wir
sie psychologisch unzweifelhaft richtig. Sie ersetzen die fehlende
Leitungsbahn im Central-Organ. Oder schaffen sie solche Bahn?
Beruht alle Association auf Leitung? Sind schwingende Vorstellungen,
welche Bewegungen auslösen, Erregungen des Rückenmarks?
Es könnte in manchen Fällen sein; uns ist es gleichgültig.
Unbestreitbar ist, dass solche Associationsbewegungen
völlig absichtslos wie Reflexbewegungen werden können. Jede
Ausübung der Kunst und jedes geschickt geübte Handwerk ist
ohne dieselben unmöglich. Wir setzen also neben die absichtlichen
Bewegungen und die Reflex- Bewegungen als eine besondre
Art die Associations-Bewegungen, d. h. mit bestimmten
Vorstellungen associirte, aber absichtslos ausgeführte Bewegungen.
So greifen wir z. B. nach einem vom Tische fallenden Gegenstand
ganz ohne Reflexion. Eine Reihe innerer Vorgänge,
nämlich der Anblick des fallenden oder erst des zu fallen drohenden
und der Gedanke des fallenden Gegenstandes und dann
der Gedanke an den möglichen Schaden und an das Mittel, ihm
vorzubeugen, diese Reihe verkürzt sich, indem sie immer schneller
abläuft, derartig, dass alle Mittelglieder geradezu ausfallen, und
das letzte Glied sich mit dem ersten associirt. So wird es eine
Bewegung in Folge einer Warnehmung mit ausgelassener Absicht
— ja vielleicht gelegentlich gegen unsre Absicht. Denn
manchmal müssten wir uns sagen: Hand davon! denn du schadest
dir mehr als du retten kannst! Und sehr unnütz bückten sich
die Phäaken, als Odysseus den Stein warf; denn er flog, wie
sie wohl hätten sehen können, hoch über ihre Köpfe weit über
die Zeichen hinaus (Od. 8, 190 ff.)

347. Es können auch Absichten sich mit einander im
Dienste eines Zweckes so associiren, dass die betreffenden Bewegungen
gleichzeitig erfolgen; so z. B. die combinirten Bewegungen
der Arme und Beine beim Schwimmen. Diese Combination
ist eine rein psychologische Tat; physiologisch ist hier
nichts vorbereitet, nur auch nichts-gehemmt.

348. Dagegen sind Mitbewegungen physiologisch bedingt.
Es gibt Gruppen von Muskeln, welche mit einem male
von einem Nerven-Stamme erregt werden. So beim Atmen.
277Wie nämlich geistige Zwecke combinirte Bewegungen erfordern,
so verlangt auch das Leben die gemeinsame Action mehrer
Motoren. Diese muss ein besondres Centrum haben. Doch
unterlassen wir es, in der Physiologie von Zweck zu reden.
Tatsache aber ist ferner, dass durch angestrengtes Arbeiten mit
Armen und Beinen, durch starkes Laufen die Atem-Bewegungen
und der Herzschlag heftiger werden; die Bewegung der Glieder
und des Rumpfes überträgt sich auf die vegetativen Bewegungen
und verstärkt diese.

349. Blicken wir jetzt auf das Verhältniss der Absicht zu
den angeführten Bewegungen. Zuvor aber: was ist Absicht?
Sie ist die Vorstellung einer Bewegung, indem und insofern sie
die Kraft hat die vorgestellte Bewegung auszulösen. Es bleibt
dahin gestellt, auf welcher physiologischen Grundlage der Vorstellung
solche Kraft zukommt. Ich bin geneigt anzunehmen,
dass jede Vorstellung einer Bewegung des eigenen Leibes unmittelbar
motorische Kraft besitzt, und dass, wenn solche Vorstellung
unausgeführt bleibt, dies nicht daher rührt, weil ihr
eigentlich und an sich jene Kraft gar nicht gehörte, und etwa
erst noch zu ihr hinzutreten müsste, was nur durch eine eigentümliche
Action zu Stande käme, die jetzt eben nicht vollzogen
würde; sondern die Ursache ist vielmehr eine Hemmung der
ihr inwohnenden motorischen Kraft (358 ff. 345).

350. So nahmen wir schon im Vorstehenden die Absicht
als eine Sensation, die unmittelbar eine Bewegung auslöst. Vergleichen
wir sie nun mit andern Sensationen, so unterscheidet
sie sich dadurch von ihnen allen, dass sonst die Sensation einen
Inhalt hat, der etwas von der Bewegung ganz Verschiedenes
ist. Der Schmerz, den ein gekneifter oder geätzter sensitiver
Nerv verursacht, hat nichts mit der Bewegung gemein, welche
er auslöst. Oder was hat Kitzeln mit Lachen zu tun? u. s. w.
Dagegen hat die Absicht gerade nur die Bewegungen zum Inhalte,
die er veranlasst.

351. Da die Absicht von der Erkenntniss abhängig ist
und durch selbstgesteckte Ziele veranlasst wird, so ist ihr zwar
der Kreis der vegetativen Bewegungen entzogen; aber, wenn
der Zweck es erfordert, so macht sie sich diese dienstbar. Und
so benutzt sie gelegentlich auch die Reflex-Bewegungen. Blasen
ist absichtliches Ausatmen. Wir husten und räuspern uns absichtlich.
278Daran ist nichts auffällig; und alle absichtliche Bewegung
ist nur absichtliche Benutzung von Reflex-Bewegungen.
Erwähnt ist schon (345), dass auch im Gegenteil die Absicht
Reflex-Bewegungen zu hemmen vermag.

352. Die Associations-Bewegungen stellten wir oben (346)
als absichtlich entwickelte Anlagen dar, welche, einmal gebildet,
unabsichtlich wirken. Sie entstehen aber auch wie die Associationen
der Vorstellungen eben so häufig durch Zufall, üble
Angewohnheit. Leute, deren Hand leichter den Pflug und ein
Gespann, als die Feder regiert, verzerren beim Schreiben das
Gesicht gar wunderlich. Auch Kinder machen es so, und vielleicht
schreiben die Meisten mit einer gewissen Anspannung
der Gesichtsteile, die unnötig ist. Die Wenigsten gehen, ohne
die Arme und den Rumpf überflüssig zu bewegen. Kurz es
besteht immer die Neigung, mit größerem Kraft-Aufwande und
mit der Anstrengung von mehr Gliedern zu arbeiten, als erforderlich
wäre. Übung, Bildung gewöhnt, jede Tätigkeit mit
genauer Anpassung der Bewegung nach Kraft und Richtung
und mit Ausschluss alles Übermaßes zu vollziehen. Absicht
also stiftet zweckmäßige Associationen und löst die unzweckmäßigen
auf.

353. Über die eigentlichen Mitbewegungen hat die Absicht
nur geringe Macht, und eigentlich wohl gar keine. Indessen
hören wir doch, wie die Kunst des Dauer-Laufes nicht bloß von
den Muskeln, welche die Beine bewegen, abhängt, sondern auch
vorzüglich davon, dass die Mitbewegung der Lunge und des
Herzens so gering wie möglich ward. Es sieht also aus, als
ließe sich diese Mitbewegung hemmen. Die Kunst wird aber
wohl darauf beruhen, dass der Körper beim Laufen nur die
unentbehrlichen Bewegungen macht, jede übermäßige Anstrengung
meidet. Die geringere Bewegung des Körpers veranlasst
dann auch die Mitbewegung der Brust in geringerem Maße.

354. Wir haben uns jetzt die Reflex-Bewegungen näher
anzusehen. Wir unterscheiden leicht folgende Fälle:

1) Bewegungen erfolgen reflexivisch auf Gefühls-Reize.
Hierher gehören alle vegetativen Bewegungen, das Husten und
Niesen, das Schlucken und Schluchzen, das Gähnen, das Lachen
auf Kitzel, das Weinen auf Körper-Schmerzen. Hierher gehört
auch der Fall, dass das Augenlid durch grelles Licht bewegt
279wird, so dass man blinzelt oder das Auge völlig schließt; denn
hier wirkt das Licht wie ein mechanischer Druck auf das Auge
und erzeugt nicht eine Empfindung, sondern ein schmerzhaftes
Gefühl. Das Auge erhält hier nicht den adäquaten, zur Erzeugung
einer Empfindung geeigneten Eindruck. Eben so verhält
es sich, wenn man bei einem heftigen Knall zusammenfährt,
wobei obenein der ganze Körper von der Luft-Erschütterung
getroffen wird. Übrigens vergleiche man den weiterhin dargelegten
Unterschied zwischen Gefühl und Empfindung.

2) Bewegungen auf Empfindungen und Warnehmungen:
ein ekelhafter Geschmack erregt Erbrechen; man schaudert beim
Anblick ungeheuerlicher Masken, gewisser hässlicher Tiere.
Reflex-Bewegung ist die Neigung, nach Dingen zu greifen, die
dem Auge angenehm sind. Kinder greifen ohne Willen nach
Hellem: wie sich auch ihre Hand um den Finger legt, mit dem
man sie berührt; wie sie an allem, was zwischen ihre Lippen
kommt, saugen. Besonders mächtig sind die Reflexe der Gehörwarnehmungen.
Sehr früh bewegen Kinder den Kopf nach
der Seite, woher ein Schall kommt. Man denke, wie Musik
zu rhythmischen Bewegungen treibt. Welches Mädchen spürt
nicht Zuckungen in den Füßen, wenn es eine beliebte Tanz-Melodie
hört. Wenn wir auf der Straße gehn und Militär-Musik
begegnen, so schreiten wir unwillkürlich im Tacte des
geblasenen Marsches, und es erfordert eine besondre Anstrengung,
schneller oder langsamer zu schreiten.

3) Bewegungen auf Erinnerungen an Warnehmungen: die
bloße Erinnerung ekelhafter Dinge wirkt wie die Warnehmung.
Eine Erinnerung kann eintreten in Folge einer Warnehmung, z. B.
die Erinnerung an den Geschmack einer Speise in Folge ihres
Anblicks; aber auch ohne Warnehmung, etwa im Laufe des
Gesprächs. In dem einen wie im andern Falle kann sie wirken
wie die gegenwärtige Wirklichkeit. Das Wasser läuft uns im
Munde zusammen beim Anblick einer angenehm schmeckenden
Speise, und auch wenn wir nur an sie denken. Lüsterne Gedanken
erregen die Geschlechtstheile wie wirklicher Kitzel, und
bewirken im Traume selbst Samen-Erguss. Der Anblick von
Dingen, bei denen wir uns erinnern, dass sie weich, glatt, kurz
dem Tastorgan angenehm sind, veranlasst uns, sie zu betasten,
z. B. mit der Hand in weiches lockiges Haar zu greifen.280

4) Bewegungen auf Vorstellungen oder Gedanken: Erzählungen
von schrecklichen Verbrechen, von großem Elend wirken
ähnlich, wie der wirkliche Anblick, sie rufen die Muskelbewegung
des Schauders hervor. Denn auch der Anblick wäre an sich
nicht so erregend, wenn nicht Vorstellungen über die vorliegende
Unnatur, über die Schmerzen u. s. w. hinzuträten. Hierher ist
auch zu zählen der pathognomische Gesichtsausdruck, also auch
das Lachen über einen Witz.

Die drei letzten Fälle ließen sich zusammenfassen und als
Bewegung auf Affecte den Bewegungen (des ersten Falles)
auf Gefühle gegenüberstellen.

5) Eine eigentümliche Classe von Reflexbewegungen bilden
endlich die unwillkürlichen Nachahmungen, d. h. die unabsichtlichen
Ausführungen einer wargenommenen oder bloß vorgestellten
Bewegung.

Hierzu noch einige Bemerkungen.

355. Die Reflex-Bewegungen, welche auf Gefühle und
Affecte erfolgen, haben meist etwas Ungeordnetes, Stoßweises
und unterscheiden sich deutlich von der Ruhe und Gleichmäßigkeit
und dem Rhythmus der vegetativen und der absichtlichen
Bewegung.

356. Es sind vorzugsweise die vegetativen Organe und die
dem Geschlechtsleben dienenden Teile, welche von Reflexen ergriffen
werden. Das Geschlechtsleben zeigt auch wohl am meisten
Mitbewegungen. Besonders aber liegt uns hier das Atmen an.
„Gewisse Gruppen der Muskeln des animalischen Systems”,
sagt Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des Menschen
II. S. 89), „sind beständig in einer Disposition zu unwillkürlichen
Bewegungen wegen der Leichtigkeit der Affection ihrer
Nerven oder vielmehr der Reizbarkeit der Hirnteile, von welchen
sie entspringen. In diesem Falle befinden sich alle respiratorischen
Nerven, den Nervus facialis eingeschlossen... Die
Zustände der Seele können die Entladung des Nervenprincips
nach den Atmen-Muskeln bedingen. Jeder schnelle Übergang
in den Zuständen der Seele ist im Stande, eine Entladung nach
diesen Nerven von der Medulla oblongata aus zu bewirken”
(Diese, zu deutsch das verlängerte Rückenmark, verbindet das
Gehirn mit dem Rückenmark; es ist ein Teil des Rückenmarks,
der sich aber doch von diesem in der Anordnung der Teile
281schon unterscheidet, also vielmehr eine Fortsetzung, die auch
schon innerhalb des Schädels liegt. Es steht mit allen vom
Gehirn entspringenden Nerven, ausgenommen den Riech- und
Seh-Nerven, in Verbindung, leitet also die Erregung; des Gehirns
und löst viele Bewegungen aus, namentlich die Atem-Bewegungen.
Mit der Zerstörung desselben hört das Atmenauf).
„Das Sensorium wirkt hier gerade so, wie der einzelne
Nerv, indem jede schnelle Veränderung seines Zustandes auf
was immer für eine Art, das Nervenprincip in Tätigkeit setzt.
Hiernach ist es zu beurteilen, dass selbst ohne alle Leidenschaft
ein so schneller Übergang der Vorstellungen wie er bei dem
Eindruck des Lächerlichen stattfindet, jene Entladung bewirkt, die
sich dann in dem Gesichtsmuskel und dem Atemmuskel äußert.”

357. Höchst merkwürdig sind die (354 unter 5) genannten
unwillkürlichen Nachahmungen. Man weiß, dass das Gähnen ansteckt.
Es ist schon ursprünglich durchaus eine Reflex-Bewegung,
bewirkt durch die Respirations-Nerven und den Gesichts-Nerven
(facialis), herbeigeführt durch körperliche wie geistige Zustände.
Sieht oder hört man nun jemanden gähnen, so gähnt man ebenfalls,
bloß aus Nachahmung. „Die Disposition zu den respiratorischen
und Gesichtsbewegungen des Gähnens ist nämlich
dann schon vorher dagewesen; sie tritt in Erscheinung, indem
durch die Warnehmung die Bewegung des Nervenprincips die
bestimmte Direction erhält” (Müller). Eben so aber ist auch
Lachen und Weinen ansteckend; man lacht und weint, weil
man in lachender oder weinender Gesellschaft ist. Allerdings
ist es zunächst die Ursache, die den einen weinen macht, welche
dann auch im andern Mitleid erregt; und welche im einen und
im andern Lachen erregt. Indessen ist es doch sichere Erfahrung,
dass wir etwa über den Todesfall eines Bekannten,
wenn wir auch davon ergriffen sind, nicht eher weinen, als bis
wir mit den nächsten Verwandten desselben zusammenkommen
und sie weinend finden; dann weinen wir mit. Und eben so
lachen wir mit Lachenden gelegentlich schon, bevor wir die
Ursache des Lachens kennen, und lachen auch ohne ausreichende
Ursache, eben nur weil man in heiterer Gesellschaft ist. Von
allen diesen Fällen gilt allerdings, dass die Disposition zu der
betreifenden Bewegung in höherm oder geringerm Grade schon
vorhanden war und durch den Anblick nur verstärkt ward.282

358. Dies findet aber weniger statt in folgenden Fällen,
welche wirklich beweisen, dass die Warnehmung und auch die
Vorstellung einer Bewegung einen Strom nach dem Organ dieser
Bewegung bewirkt und dieselbe unabsichtlich, ohne Willen ausführt.
Die Warnehmung also und auch die bloße Vorstellung
einer Bewegung sind eine Gehirn-Erregung, welche sich auf
diejenigen motorischen Nerven überträgt, die diese Bewegungen
bewirken, und so lösen sie dieselbe ohne Willen aus gerade so
wohl, als wären sie von der Absicht begleitet. *)26 Ich meine hier
folgende Fälle. Zuschauer beim Fechten begleiten die Streiche
mit leisen unwillkürlichen Bewegungen ihres Körpers. Ferner:
„Chevreul hat die Tendenz zu Bewegung, die durch Vorstellung
von Bewegungen entsteht, aufgeklärt und an einem
verwickelten Fall, nämlich an den Schwingungen eines mit der
Hand gehaltenen Pendels erläutert. Die Bewegung des Pendels
bei scheinbar unbewegtem Arme wird nämlich nach seinen
Untersuchungen durch eine unbewusste leichte Muskelbewegung
ausgeführt, in die man unwillkürlich geräth, wenn man, indem
man das Pendel hält, zugleich darauf sieht, die aber bei verbundenen
Augen wegfällt” (Müller).

359. Es mag auch an die Neigung erinnert werden, Gehörtes
nachzusprechen. Manche Personen wiederholen in der
Unterredung die Worte des andern, wenigstens die Schluss-Worte.
Wie würde aber auch ein Kind Laute hervorbringen
lernen, wenn es sie nicht durch Reflex erzeugte. Der gehörte
Laut spannt im hörenden Kinde die betreifenden Organe an
zur Erzeugung desselben Lautes. Dieser reflexivische Zusammenhang
zwischen Ohr und Sprachorgan ist im Kinde viel
stärker als beim Erwachsenen. Ein Kind in eine andre Gegend
versetzt, lernt die dortige Sprache in allen feinsten Eigentümlichkeiten
ihrer Laute; der Erwachsene nicht. Auch von Tieren
wird bemerkt, dass sie jung die Reflex-Erscheinungen kräftiger
zeigen, als die altern. — Mancher wird in sich die Lust verspürt
haben, in den Straßen-Lärm hinein zu schreien. Kanarienvögel
283im Zimmer schlagen am eifrigsten, wenn lebhaft gesprochen
wird. Kinderwärterinnen wissen, dass es ein Mittel ist, Kinder
einzuschläfern, wenn man sie kurze Zeit ansieht und dann das
Auge schließt. Die Kinder, welche sehen, dass das Auge geschlossen
wird, schließen auch das ihrige. Ebenso benutzen
die Aerzte ein Mittel, nm ein Kind zu veranlasssen, die Zunge
herauszustrecken: sie strecken denselben die ihrige entgegen,
bläken sie an. Der Hund läuft dem laufenden Pferde nach. Auch
das Kind auf dem Arm der Amme wird unruhig, wenn ein
Wagen vorüberfährt; es tönt auch dabei, wie der Hund dabei bellt.
Bildung, Entwickelung des Gehirns, hemmt die Reflex-Bewegung.

360. Hier erklärt sich auch der Kern jenes weiten Kreises
von Erscheinungen, die man unter dem Namen Sympathie zusammenfasst.
Jeder tut das und leidet das, was er alle um
sich her tun und leiden sieht. Allerdings geht dabei eine gewisse
Aufregung und erhöhte Reizbarkeit, wie sie durch mannichfache
Ursachen veranlasst sein kann, schon voraus. Nervöse
Mädchen werden beim Anblick von Kranken, welche an
Krämpfen leiden, gar leicht ebenfalls von Krämpfen befallen.
Noch leichter bekommt im Krankenhause ein ganzer Saal von
Kranken die Krämpfe, welche sie zuerst an einem sahen. In
der Zeit der Tarantel-Wut konnten sich die gesündesten Geister
diesem Tanze nicht entziehen; sie rasten mit der Menge, obwohl
der giftige Spinnen-Stich, der die Ursache sein sollte, eine Einbildung
war, wie die gebildeten Männer wohl wussten. So erklären
sich die religiös rasenden Aufzüge der alten Klein-Asiaten,
die Schwärmerei der Geißler, der Kinderfahrten, der Kreuzzüge,
der Hexenprocesse, der Revolutionäre, der Blutdurst der Terroristen:
alles dies und vieles andre beweist uns die Wirkung
jener Sympathie, durch welche der Mensch hingerissen wird,
ohne Absicht, ja zuweilen gegen seine Absicht, das zu tun, was
er tun sieht. Wer sich unter einer begeisterten Menge befindet,
schreit den Ruf dieser Menge mit, schwingt den Hut, weht mit
dem Tuche. Mir hat ein junger Franzose erzählt, er sei von
Gesinnung Republicaner und hasse den Kaiser. Als er aber
im Jahre 1852 sich unter einer Menge befand, welche Vive
l'empereur schrie, da habe er mitgerufen ganz gegen seinen
Willen. In einer tapfern Armee gibt es keinen Feigling. Mut,
Tapferkeit steckt an. Wer in einer Rotte steht, welche unter
284feindlichen Kugeln die Anhöhe hinauf stürmt, der Führer und
die Fahne voran, der stürmt mit. Es reißt ihn hin, es, eine
dunkle Gewalt. Tönt aus tausend Kehlen die Marseillaise, die
Wacht am Rhein, so wird die tausendundeinte, die zufällig
gegenwärtig ist, mitsingen, auch ohne Willen.

361. Auch die nicht wargenommene, die bloß innerlich
angeschaute, eingebildete Bewegung, auch sie, selbst wenn sie
mit der Negation gedacht wird, absichtlich nicht-gewollt wird,
auch sie wird ausgeführt ohne Willen, gegen Willen. Nicht
selten hat Jemand das Geländer eines hohen Turmes bestiegen,
und in die Tiefe blickend und sich das Gräßliche eines Sturzes
von solcher Höhe ausmalend, hat er sich hinabgestürzt. Die
Geliebte im Arme, fällt einem Liebenden ein: wie furchtbar,
wenn du das dir liebste auf Erden ermordetest. Er schaudert.
An den folgenden Tagen kehrt ihm der Gedanke immer wieder,
am lebhaftesten, wenn sie an seiner Brust ruht. Und da stößt
er ihr das Messer ins Herz. Kinder sehen einander ernsthaft
ins Gesicht, sie wollen nicht-lachen; „wer lacht, soll Narr sein”
— und sie lachen, erst das eine, dann das andre oder beide
zugleich. Der Gedanke des Nicht-Lachens hat sie lachen machen.
Mir wurde folgendes erzählt. In Süd-Frankreich gibt oder gab
es Leute, deren Gewerbe es ist, auf dem Lande umherziehend
die zerbrochenen Fenster-Scheiben der Dorf-Häuser und -Hütten
durch Leisten von Blei wieder zu befestigen. Dass darunter
sich die rohesten Subjecte befinden, ist wohl anzunehmen. Einer
von ihnen geht eines Tages seiner Wege mit den nötigen Materialien
und Gerätschaften auf dem Rücken. Da sieht er im
Chaussée-Graben einen schlafenden Menschen liegen, der den
Mund sperrweit offen hat, und ihm kommt der Gedanke: „Wenn
man dem glühendes Blei in den Mund gösse, welch Gesicht
würde der schneiden”. Gedacht — gethan. Er macht Feuer an,
legt ein Stück Blei in den Löffel,.lässt es schmelzen und gießt es
dem Schläfer in den Mund. Die Zeit, die über der Vorbereitung
verfließt, lässt ihn nicht kühl und besonnen werden; sondern von
Secunde zu Secunde wächst bei der Beschäftigung die Gier.

362. Hier stehen wir beim primitiv Dämonischen im Menschen.
Es muss uns bange werden um die Freiheit, Zurechnung.
Indessen nur der leichtfertige Sophist findet sich ab mit der
Phrase der durchgehenden Determination und Willenlosigkeit;
285und nur der reine, nackte Idealist kann die absolute Freiheit
setzen. Dem Psychologen ist freilich auch die Freiheit nur ein
Rechen-Exempel; aber sie ist. Der Grad der Apperceptions-Macht
unserer ethischen Vorstellungsgruppe ist der Grad unserer
Freiheit. — Doch genug.

363. Über alle diese Erscheinungen unwillkürlicher Handlungen
wird man sich weniger wundern, wenn man bedenkt,
dass (349) ursprünglich jeder Vorstellung einer Bewegung die
motorische Kraft so sehr innewohnt, dass solche Vorstellung
an sich den betreffenden Nerv und Muskel erregt. Und dies
scheint wohl begreiflich. Die Vorstellung einer Bewegung ist
ja nichts andres als die vom Bewusstsein erfasste, in dasselbe
übersetzte Bewegung; sie ist die Sensation, welche durch eine
Bewegung erzeugt ist, und deren Object dieselbe ist. Wie nun
die materiellen Dinge, welche Objecte der Sensation sind, in
den Raum projicirt werden, so auch der eigene Leib und die
Bewegungen des eigenen Leibes. Die Projection der letzteren
aber zieht die Erzeugung derselben nach sich. Denn die nächstliegende
unmittelbarste Projection ist ja die in den Raum des
eigenen Leibes, d. h. eben die Erzeugung der Bewegung. Und
so erklärt sich auch umgekehrt, wie wir dennoch Bewegungen
vorstellen können, ohne sie auszuführen, nämlich aus denselben
Ursachen, weswegen wir uns auch Dinge vorstellen können, die
wir nicht als materiell gegenwärtig setzen, nicht projiciren. Verbindungen
der Vorstellungen mit gewissen andern hemmen die
Projection und die Ausführung der Vorstellungen.

364. Da offenbar die Sprache auf dem Atem beruht, so
wollen wir in Betreff der durch Reflexe bewirkten Abänderung
der Atembewegung noch den alten Kempelen hören: Er sagt:
(Le mecanisme de la parole, Vienne 1791, § 32): „Nous savons
que tous les mouvemens violens et les efforts du corps humain
causent des variations dans la respiration, la ralentissent ou
l'accélèrent et l'interrompent même quelques fois entièrement
pendant quelque temps. Mais aussi les plus legers mouvemens
donnent lieu à des variations de cette nature. Il suffit par exemple
de tourner seulement les yeux sur un autre objet, de
porter la main sur une autre chose, pour troubler une respiration
regulièrement périodique. — § 33. Les changemens que
subit notre ame influent aussi sur la respiration. Le saisissement,
286la peur, la colere, la pitié, la joie, l'amour, tout cela fait
une impression sur nos poumons, comme sur le coeur. Mais
ce ne sont pas les mouvemens et les passions violentes de l'ame
qui seules font cet effet; les plus petites bagatelles occasionnent
à proportion les mêmes changemens. Lorsque l'esprit fixe son
attention sur le plus petit objet, comme sur un grain de sable
la respiration s'arrête quelquefois entièrement, pour ne pas occasioner
le moindre mouvement du corps qui pourrait affaiblir
l'application de nos sens … On pourrait à-peu-près deviner,
en faisant seulement attention à la respiration d'une personne
sans qu'elle dise un mot, la situation de son esprit, si elle
est tranquille, inquiète, contente ou irritée. Nous observons
souvent dans des personnes qui se trouvent dans le plus
parfait repos de l'ame, un changement subit et nous pourrons
souvent déterminer le moment, où une idée est suivie
d'une autre. Cela s'observe non seulement lorsque la nouvelle
idée est triste ou désagréable, mais même lorsqu'elle est absolument
indifférente. L'esprit suivant son chemin uniforme, est
arrêté momentanément et doit prendre une autre tournure; pour
cela il a besoin de nouvelles forces qu'il trouve dans l'air frais
respiré en abondance.”

365. Es ist in dieser Stelle auch der Erregung des Herzens
gedacht; und wir wissen, wie der Herzschlag nicht minder
als der Atemzug auf mannichfaltige Veranlassung abgeändert
wird, auch auf rein geistige. Es ist natürlich, dass zwei Organe,
wie die Lungen und das Herz, die in so engem Wechselverkehr
unmittelbaren Gebens und Nehmens stehen, auch durchweg
Sympathie mit einander haben. Ich will daher hier hervorheben,
dass gerade beim Herzen das Verhältniss der vegetativen
Bewegung und der Reflex-Wirkung sehr klar ist. Das
Herz hat nämlich ein eigenes Nerven-Centrum in sich, welches
ganz spontan die Contraction des Herzmuskels bewirkt. Daher
schlägt dieses auch, wenn es aus dem lebendigen Leibe ausgeschnitten
ist, noch fort. Der Rhythmus der Herzbewegung>
das wechselnde Zusammenziehen und Erschlaffen, wird dadurch
bewirkt, dass die motorische, zusammenziehende Wirkung der
Nerven Widerstände findet, die der Nerv erst zu überwinden
hat. So lange der Widerstand besteht, dauert die Erschlaffung.
Überwunden aber, bildet er sich immer wieder von neuem.
287Daher Wechsel von Contraction und Schlaffheit, bewirkt durch
motorische Erregung und Widerstand. So lebt das Herz für
sich und würde im regelmäßigen Schlage fortbestehen, wenn es
nicht auch mit dem Gehirn durch Nerven verbunden wäre.
Diese sind es, durch welche Affecte und Gefühle in das Herz
geleitet werden. Teilweise verstärken sie die motorischen Nerven
des Herzens, dann werden die Schläge stärker, schneller; teilweise
aber verstärken sie die Widerstände, dann werden die
Schläge schwächer, langsamer. Dem ähnlich hat die Atem-Bewegung
Nervenfasern, von welchen die Einatmung, und andre,
von welchen das Ausatmen erregt wird. Durch den mannichfachen
Grad der Erregung beider und durch das Verhältniss
der beiderseitigen Grade entstehen die Modificationen des
Atmens.

366. Hören wir nun J. Müller über die Associations-Bewegungen
(a. a. O. II, 104): „Die Verkettung der Vorstellungen
und Bewegungen kann so innig werden, wie die der Vorstellungen
unter sich, und hier ist es in der Tat der Fall, dass,
wenn eine Vorstellung und Bewegung oft verbunden gewesen
sind, die letztere sich oft unwillkürlich zu der erstern gesellt.
Durch diese Verkettung geschieht, dass wir bei einer drohenden
Bewegung vor den Augen, selbst beim Herabfahren der Hand
eines Andern vor unsern Augen, unwillkürlich die Augen
schließen; dass wir uns angewöhnen, gewisse Vorstellungen nicht
ohne gewisse Gesticulation auszusprechen; dass wir unwillkürlich
nach einem uns entfallenden Körper mit den Händen hinfahren;
überhaupt je häufiger Vorstellungen und Bewegungen
willkürlich zusammen vorkommen, um so leichter werden
letztere bei dem Anlass der erstem mehr durch Vorstellung,
als durch Willen bestimmt oder dem Einflusse des Willens
entzogen.... Die Verkettung der Vorstellungen und Bewegungen
scheint darauf hinzudeuten, dass bei jeder Vorstellung
eine Bewegungstendenz im oder nach dem Apparate ihrer
Darstellung durch Bewegung entsteht, eine Tendenz zu Bewegungen,
die durch Übung und Gewöhnung einen solchen
Grad der Leichtigkeit erhält, dass die in gewöhnlichen Fällen
bloße Disposition jedesmal in Action tritt.” In den zuletzt angeführten
Fällen ist jedoch das Verhältniss noch ein anderes,
als beim Gähnen und Nachahmen des Fechtens; denn man ahmt
288nicht die gesehene Bewegung vor dem Auge nach, eben so
wenig wie das Fallen eines Dinges; sondern man tut etwas ganz
anderes, was an sich mit dem Anblick jener Bewegung nicht im
Zusammenhange steht. Offenbar schiebt sich hier zwischen den
Anblick und die danach ausgeführte Bewegung ein Gedanke
ein, nämlich der Gedanke des Unheils, wenn die gesehene Bewegung
uns träfe, und dann noch ein neuer Gedanke, nämlich
an das Mittel, das vor der drohenden Gefahr schützen könnte.
Wir sehen also hier eine Vergesellschaftung dreier Vorstellungen,
deren letzte zur Bewegung wird. Die Bewegung schließt sich
nicht unmittelbar an eine Warnehmung, sondern erst vermittelst
einer Reihe von Gedanken, die aber durchaus unentwickelt bleibt
und gar nicht in das Bewusstsein tritt (346.) Eben so sahen wir
oben eine Bewegung sich verbinden mit einer Warnehmung vermittelst
des Gefühls (354,3). Denn die Vorstellung eines ekelhaften
Gegenstandes erregt zunächst das Gefühl des Ekels und
dann die Bewegung des Erbrechens.

Nachdem wir unsre psychologische Mechanik durch die
vorstehende Betrachtung der leiblichen Bewegungen ergänzt
haben, kommen wir zum zweiten Theil unsrer Aufgabe, zur
genetischen Entwicklung.289

Zweiter Teil.
Psychische Entwicklungsgeschichte.

I.
Die Seelenvermögen.

367. Wenn wir jede Nervenfaser und jede Grehirnfaser ein
Organ nennen dürfen, so können wir mit gleichem Rechte jede
psychische Tätigkeit, welche einen bestimmten Inhalt hat und
welche, wiederholt, immer wieder denselben Inhalt hervorbringt,
ein Seelenvermögen nennen. Man hat aber längst jene psychischen
Tätigkeiten classificirt, und so besitzen wir die psychologischen
Classen-Begriffe Empfindung, Phantasie, Verstand
u. s. w. Hiergegen ist nichts einzuwenden, insofern die Classiflcation
richtig gemacht war. Man hatte aber weiter den Fehler
begangen, jeder dieser Classen ein eigentümliches sie erzeugendes
Princip unterzuschieben und der Seele so viele Vermögen, Sinne,
zuzuschreiben als man Classen psychischer Erzeugnisse annahm.
Heute indessen ist es nicht mehr nötig, gegen diesen Fehler
anzukämpfen. Eine Streitfrage ist nur noch folgende. Man
hatte längst die psychologischen Classen auf drei Haupt-Classen
zurückgeführt: Vorstellen, Fühlen, Streben. Herbart, der am
entschiedensten und gründlichsten die Lehre von den Seelenvermögen
abgewiesen hat, wollte auch das Fühlen und Streben
als secundäre Erscheinungen ansehen. Er erkannte lediglich in
den Vorstellungen primitive Zustände der Seele, aus deren Verhältnissen
und Verflechtungen sich erst Gefühle und Strebungen
ergeben. Dagegen hat Lotze die Lehre von den wahren Seelenvermögen
290in neuer Weise aufgestellt, indem er drei Grundvermögen
Vorstellen, Fühlen und Streben anerkennt als solche, von
denen sich keins auf das andre zurückführen, keins vom andern
ableiten lasse. Ohne auf das Für und Wider einzugehen, will
ich hier meine Ansicht vortragen. *)27

368. Welches oder welche Vermögen die Seele, als immaterielles
Wesen gedacht, an sich ohne Verbindung mit dem
Leibe haben würde, davon wissen wir durchaus nichts. Soweit
sich psychische Erscheinungen darbieten, sehen wir die Seele
vom Central-Organ und den Nerven abhängig. Also, mag der
Nerven-Apparat mit seinem Centrum Ursache oder bloße Veranlassung
der seelischen Gebilde sein, er ist alleiniger Maßstab
für die Annahme von Vermögen, welche solche Erscheinungen
hervorbringen.

369. Nun unterscheidet man physiologisch mit aller Sicherheit
und Bestimmtheit sensitive und motorische Nerven-Fasern,
diese und nicht mehr. Also können wir nicht umhin, auch in
der Psychologie hiervon auszugehen. Und wir sagen demnach:

Die Seele hat zwei Haupt-Vermögen, nämlich: von außen
her Bewegungen aufzunehmen und nach außen hin Bewegungen
zu veranlassen.

370. Wir haben aber schon oben (340) bemerkt, dass alle
Bewegungen insofern secundär sind, als sie auf Sensationen erfolgen,
und (343 ff), dass die Absicht nicht die Bewegung bewirkt,
sondern nur veranlasst. Wille, Absicht ist ohne Vorstellung
undenkbar; es wird allemal etwas Vorgestelltes gewollt. Das
wird zugestanden; aber man meint, das Wollen trete zum Vorgestellten
hinzu und mache es zu einem gewollten Vorgestellten.
In diesem Ausdrucke aber, gewolltes Vorgestelltes, liegt weiter
nichts, als dass die Vorstellung motorische Kraft habe. Ist
denn nun diese motorische Kraft etwas zur Vorstellung hinzutretendes?
Keineswegs; sie ist, wenn nicht etwas ihr Inwohnendes,
jedenfalls etwas was zu ihrem Wesen gehört (363). Die
291Vorstellung einer Bewegung, in bestimmter Beziehung zu den
motorischen Organen, löst Bewegungen aus. Diese Beziehung
mag sein, welche sie wolle, sie gehört zur Vorstellung so gut
wie zum Funken die Beziehung zu Pulver gehört. Eine Vorstellung
mag also bald bloße Sensation bleiben, bald eine Bewegung
veranlassen: es ist immer dieselbe Vorstellung, wie es
immer derselbe Funke ist, ob er auf einen Stein oder in ein
Pulverfass fällt. Im einen wie im andern Falle wirkt der Funke
so viel in ihm ist; auch die Vorstellung einer Bewegung wirkt
allemal soviel in ihr ist. Sie veranlasst ja sogar zuweilen Bewegungen
ohne Willen. Dass sie nur zuweilen Absicht ist und
sichtbare Bewegungen veranlasst, liegt nicht an ihr, sondern an
Verhältnissen, in welche sie tritt. Diese Verhältnisse sind aber
nicht etwa besondre Willens-Erregungen, sondern Verbindungen
mit andern Vorstellungen. Die Vorstellung des Schwimmens,
während ich auf dem Sopha ruhig sitze und zu sitzen gesonnen
bin, oder aber während ich mich zum Schwimmen ins Wasser stürze,
ist dieselbe Vorstellung, nur im letztern Fall in mannichfacher
Verbindung mit andern Vorstellungen. Es sind namentlich die
Verbindungsmerkmale, welche zur Projicirung drängen, die sich
hier geltend machen. Denn hier werden sie nur befriedigt, indem
die Vorstellung ausgeführt wird. Wenn ich schwimmen
will, so heißt dies nur: die Vorstellung des Schwimmens drängt
nach der Verbindung mit der Empfindung und dem Gefühl des
Wassers und mit der Empfindung, welche die Schwimmbewegungen
erregen (56. 57). Die Macht dieser Verbindungsmerkmale
wird dann als jene Spannung gefühlt, welche wir als besondre
Willenserregung zu bezeichnen geneigt sind.

371. Verbindungen sind es, welche den Vorstellungen
Klarheit, Bewusstheit gehen; und abermals Verbindungen, nur
andre, sind es, welche ihre motorische Kraft zur Geltung bringen.
Denn nach allem, was wir oben über Bewegung kennen gelernt
haben, sind wir wohl zu der Behauptung berechtigt, dass
die Vorstellung einer Bewegung an sich schon eine motorische
Kraft ist, deren Hemmung mehr als ihre Wirksamkeit zu erklären
ist. Diese Erklärung liegt wiederum nur in Verbindungen
oder in der Abwesenheit gewisser Verbindungen, die zu ihrer
vollen Kraft nötig wären. Die Lust beim Anblick eines Gegenstandes,
sei sie gegenwärtig gefühlt oder bloß erwartet, also
292vorgestellt, ist eine motorische Kraft, welche uns den Arm ausstrecken
und den Gegenstand ergreifen und uns aneignen lässt.
Dann kann aber der Gedanke an die Schimpflichkeit eines Diebstahls
eine noch stärkere motorische Kraft für die antagonistischen
Muskeln werden, und unser Arm bleibt ruhig. Der Anblick
einer Dame könnte uns die Süßigkeit einer Umarmung in das
Bewusstsein treiben, und damit würden unmittelbar die Arme
ausgebreitet werden; aber der Gedanke des Unrechts gegen eine
ehrenwerte Person oder der monogamischen Pflicht oder der
Schönheit der Keuschheit beim Jüngling wie bei der Jungfrau
muss ein mächtigeres Agens sein und den Arm zurückhalten.
Das sind Fälle der Versuchung. Wo wir nicht in Versuchung
geraten sind, da heißt es: die sittlichen Vorstellungsgruppen
sind so mächtig, dass sie nicht einmal ein unsittliches Gelüste
aufkommen lassen. Ja, der Physiologe kann wissenschaftlich
vom Coitus reden, ohne dass die Vorstellungen, welche dabei
in ihm rege sind, mehr Gefühl erregen als die Vorstellungen
von der chemischen Verbindung zweier Körper, und also ohne
jede Willens-Erregung.

372. Wir werden also wohl von Wollen und Streben reden,
darunter aber nur ein gewisses Verhältniss der Vorstellungen von
Bewegungen zu andern Vorstellungen und Gefühlen verstehen.
Wenn wir einen Menschen energisch, fleißig nennen, ihm Willenskraft
zuschreiben, von einem andern dagegen sagen, er sei
faul, lässig, schlaff, ohne Ausdauer, so darf man doch dabei
unmöglich denken, der Eine habe mehr Willensvermögen als
der andre. Nein, nichts weiter als die Apperceptions-Macht
der Vorstellungs-Gruppen ist es, die hier in Betracht kommt.
Wenn der eine sich nicht überwinden kann, eine Anstrengung
zu übernehmen, für die sich der andre augenblicklich bereit
finden lässt, so liegt dies daran, dass die Vorstellungsgruppe
von der Arbeit und die von dem daraus erwachsenden Gewinne
in dem einen andre Grade der Apperceptions-Macht besitzen
als im andern. Es läuft also auch hier auf Verhältnisse der
Apperception, also auf die Mechanik der Vorstellungsgruppen
hinaus, wie bei allen jenen psychologischen Classen-Begriffen,
als da sind Phantasie, Verstand u. s. w.

373. Wenn wir meinen, dass uns beim Wollen eine eigentümliche
Energie zu Bewusstsein komme, welche ganz verschieden
293sei vom Vorstellen und Fühlen, so ist das eine Täuschung; es
ist hier die Wirkung der Verbindungsmerkmale, die Lust am
erwarteten Erfolge der übernommenen Arbeit und das Gemeingefühl
des leiblichen Kraftvorrats und vorgestellte Bewegungsgefühle
— es ist alles dies durch einander, was wir als besondres
Wollen deuten.

374. Es bleibt uns also als primitives Seelenvermögen nur
die Sensation, welche die Bewegungskraft in sich schließt. Diese
liegt in der Mitte zwischen den sensitiven und motorischen
Nerven; sie bildet als Centrum den Endpunkt der einen und
den Ausgangspunkt der andern. Nun soll aber die Sensation
doppelter Art sein. Sie ist nämlich Gefühl und Erkenntniss.
Letztere ist auf ihrer niedrigsten Stufe Empfindung. Aus den
Empfindungen baut sich die Welt der Erkenntniss auf. Sollen
wir nun der Seele zwei besondre Vermögen zuschreiben: ein
Gefühls- und ein Erkenntniss-Vermögen? Ich meine: nein.
Zunächst aber wollen wir das Wesen des Gefühls genauer erfassen
und von der Empfindung unterscheiden.

375. Empfindungen sind die ersten Erkenntnisse, die wir
durch unsere Sinnes-Organe gewinnen; Gefühle sind die Zustände
der Lust und der Unlust, des Wohl und Wehe, des
Behagens und des Schmerzes. Die Empfindungen haben einen
objectiven Wert, d. h. sie geben uns Kunde von den Objecten.
Ihr Inhalt gilt als Qualität des Wesens, die wir durch das Organ
aufgenommen haben. Nicht unser Auge ist oder hat blau,
rot, sondern das Ding ist farbig, hat Farben. Die Gegenstände
tönen, und das Ohr nimmt den Ton auf. Die Nase riecht den
Geruch, und der Mund schmeckt den Geschmack, den die Dinge
haben. Die Gefühle dagegen sind ganz und gar subjectiv, d. h.
sie sagen uns von den Objecten gar nichts und geben uns nur
von unsern eigenen Zuständen Kunde. Letzteres aber tun sie
nicht so, dass dabei unsre Zustände zum Object und zu einem
Erkenntniss-Inhalt würden; sondern Lust fühlen wir bei Erregungen,
welche den Bedingungen unsres Seins und Wirkens
entsprechen, so dass sie unsern Bestand bestätigen, unsre Kraft
erhöhen; Unlust fühlen wir im Gegenteil bei Erregungen, welche
mit den Bedingungen unsres Lebens in Widerstreit sind, also
unser Dasein bekämpfen, unsre Kraft schwächen. (Vergl. Lotze,
Med. Psych. Buch 2, Kap. 2.) Die Gefühle sind teleologisch.
294Sie sprechen uns von Gesundheit und Krankheit, von denen
keine Mechanik weiß. Die Gefühle irren freilich zuweilen über
das, was gesund und vorteilhaft oder krank und nachteilig ist.
Das will aber nicht mehr sagen, als dass wir ja auch in Bezug
auf Empfindungen den Sinnestäuschungen unterworfen sind. Die
Gefühle sagen uns nichts von der erregenden Ursache, sie geben
nicht Attribute der Dinge, sie enthalten durchaus weiter nichts,
als dass die Zustände unseres Seins uns angenehm oder unangenehm
sind. Nur wir haben Lust oder Unlust, die wir nicht
dem Object zuschreiben. Freilich kann die Erkenntniss hinzutreten
zum Gefühl und uns sagen, welcher Gegenstand uns zur
Lust oder Unlust erregt, und wir nennen dann den Gegenstand
angenehm oder unangenehm; aber diese Erkenntniss gehört, nicht
zum Gefühl.

376. Für das Gesicht, Gehör, Geruch und Geschmack ist
die Unterscheidung von Empfindung und Gefühl ganz leicht.
Eine Gesichtsempfindung, wie eine Farbe, oder die Warnehmung
einer räumlichen Form, kann mit einem Schmerz im Auge,
ein Schall mit einem Schmerz im Ohr u. s. w. nicht verwechselt
werden. Nur für den fünften Sinn, den man gewöhnlich Gefühl
nennt, ist noch eine Erläuterung nötig. Vor allem ist zu bemerken,
dass man ihn besser den Tastsinn nennt. Er unterscheidet
Bestimmtheiten der Oberflächen der Körper, das Glatte
und Rauhe; dann Cohäsions-Weisen und Grade der Elasticität,
das Harte und Weiche, das Straffe und Schlaffe; ferner räumliche
Ausdehnung und Form, das Dicke und Dünne, Breite
und Schmale, das Eckige und Runde, das Stumpfe, Spitze und
Scharfe. Demnach ist er ein grober Gesichtssinn und ihn unterstützend,
wie dieser ein feiner Tastsinn ist. Er lehrt weiter
Gewichts-Verhältnisse, das Schwere und das Leichte; indem er
den Grad und die Richtung der Kraft, durch welche eine Bewegung
verursacht wird, zu wissen gibt, verdanken wir ihm die
Kenntniss von der Lage unsrer Glieder und unterstützt, wie
gesagt, alle Raumerkenntniss; endlich lehrt er Temperatur-Unterschiede,
das Warme und das Kalte.

377. Der Unterschied zwischen Tastsinn und Gefühl zeigt
sich nun folgendermaßen. Wer die Hand — oder überhaupt
den Körper — dem Feuer nahe bringt, der hat vermöge des
Tastsinnes die Empfindung der Wärme; wer sie aber ins Feuer
295selbst, in die Flamme, steckt, in siedendes Wasser taucht, wer
glühendes Eisen berührt, der fühlt einen Schmerz, welcher nichts
mehr mit der Warnehmumg der Wärme gemein hat. Wenn man
Schnee berührt, so nimmt man Kälte war; wenn man aber die
Hand längere Zeit strenger Kälte aussetzt, so schmerzt sie eben
so, als wäre sie gebrannt. Der kranke Finger erregt nur das
Gefühl des Schmerzes, liefert aber keine Erkenntniss mehr, ist
empfindungslos; was er auch berührt, alles reizt ihn in gleicher
Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht mehr
Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er erkennt
überhaupt nichts Äußeres, weiß gar nichts vom Äußeren, hat
kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn ein krankes
Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur der Schmerz
gefühlt; aber das stechende, schneidende Instrument wird nicht
empfunden. Durch den Muskelsinn erhalten wir Empfindungen
von der Richtung der Bewegung und dem Grade der Anstrengung,
vom Gewicht; wird aber die Anstrengung zu groß,
so tritt das Gefühl der Ermattung ein, welches keine objective
Erkenntniss mehr gewährt.

378. Hiermit sollte der Unterschied zwischen Gefühl und
Empfindung tatsächlich erläutert werden, Das wahrhafte Verhältniss
aber zwischen beiden würde verschoben, wollte man nur
auf die angeführten Tatsachen Rücksicht nehmen. Diese erwecken
den Schein, als träte das Gefühl hervor, wo die Empfindung
aufhört. Dieser Schein könnte gerade dadurch verstärkt
werden, dass andre Tatsachen zeigen, wie die Empfindung
da wiederkehrt, wo der Schmerz aufhört. In gewissen
krankhaften Fällen hat der Leidende von Schneiden, Kneipen
und Stechen keinen Schmerz, während er dabei die Berührung
des Messers, der Stecknadel, der Finger empfindet. Es scheint
also die zartere Erregung eine Empfindung, die heftigere ein
Gefühl zu erregen; der Kranke aber, in seiner Fähigkeit von
außen erregt zu werden geschwächt, empfindet da, wo der Gesunde
fühlt. Dagegen ist aber vor allem darauf hinzuweisen,
dass beide häufig ganz offenbar neben einander hergehen. Befanden
wir uns in der heißen Stube, so fühlen wir, in die frische
freie Luft tretend, eine Erquickung, indem wir zugleich den
Wechsel der Temperatur empfinden. Ebenso wenn wir von der
glühenden Straße in einen schattigen Raum treten. Ist in diesen
296Fällen der Wechsel der Temperatur ein geringer, so wird er
angenehm gefühlt; ist er aber groß und plötzlich, so wird er
schmerzhaft gefühlt. So kann auch das Betasten des Glatten
und Weichen angenehm oder unangenehm sein. Es gibt angenehmes
und unangenehmes Bitter und Süß u. s. w.

379. Überlegen wir, oder beobachten wir uns genauer, so
finden wir wohl, dass nicht nur häufig, sondern immer oder
regelmäßig einerseits jedes Gefühl neben dem Grade der Lust
oder Unlust auch einen qualitativen Inhalt hat. Kopfschmerzen
unterscheiden sich von Leibschmerzen qualitativ, enthalten also
verschiedene Empfindungen, und beide sind vielfach. Andrerseits
ist jede Empfindung von einem Gefühle der Lust oder Unlust
begleitet. Selbst einzelne Farben gefallen oder missfallen, abgesehen
von der Harmonie oder Disharmonie. Eben so und in
noch höherem Grade erregen Schälle und Töne an sich, abgesehen
von ihrer Verbindung, mannichfache Gefühle. Alle
Muskeltätigkeit ist zugleich von Gefühl und Empfindung begleitet;
man hat dabei Lust und Unlust und kennt und misst
Größe und Richtung der Bewegung.

380. Diesem Unterschiede und diesem Beisammen von
Gefühl und Empfindung entspricht die physiologische Tatsache,
dass sie einerseits Functionen derselben Nerven sind, andrerseits
aber doch eine Sonderung zeigen. Nämlich jeder sensitive Nerv
erregt Gefühle; und dies muss als primitivste Wirksamkeit des
Nerves überhaupt gelten. Soll aber ein Nerv Empfindung erzeugen,
so bedarf es dazu einer besondern Einrichtung in seiner
peripherischen Endung. Denn nicht bloß das Gesicht, Gehör
u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, sondern auch der Tastsinn.
Ein gesunder Nerv würde dem Finger wohl Gefühl geben,
aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine besondere Veranstaltung
in der Haut. Gefühlsnerven sind überall im Körper,
auch in den Eingeweiden, Tastorgane nur auf der Oberfläche
des Körpers, in der Haut, und besonders zahlreich in den
Lippen, im Munde und in den Fingerspitzen. Sobald also z. B.
im Finger die Organe der Empfindung abgestorben, zerstört
oder überreizt, kurz irgendwie untätig gemacht worden sind, so
bleibt das Gefühl noch immer lebendig; und daher kommt es,
dass so häufig das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsempfindung
aufhört. Wenn also den untersten Tieren die
297Sinnesorgane fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den
Schall als ein Gefühl dunkel warnehmen; aber die Empfindungen
der Farbe, des Tons können sie nicht haben. Auch Taube
fühlen den Ton, und zwar in verschiedenen Teilen des Leibes.
Wir kommen hierauf sogleich zurück und wollen zuvor nur
noch Folgendes einschalten.

381. Ein Gefühl entsteht durch eine Veränderung in einem
Nerven. Solch eine Veränderung ist aber allemal eine besondre;
es ist ein bestimmter Nerv, der in einer bestimmten Weise aus
seinem gegenwärtigen Zustande in einen andern versetzt wird.
So scheint es könne es eben nur besondre Gefühle geben entsprechend
den besondern Eingriffen in den Bestand des sensitiven
Nerven. Indessen gibt es doch auch ein Gemeingefühl,
d. h. eben gerade das Gefühl des gegenwärtigen Bestandes der
Gesammtheit unserer vitalen Kräfte, also das Lebens-Gefühl.
Dieses ist die Resultante des Zustandes aller Gefühls-Nerven,
wenn auch wohl meist gewisse Partien einen überwiegenden
Beitrag liefern. In der Zeit der eigentlichen Verdauung, wo
die Tätigkeit des Magens am stärksten ist, da mögen, zumal
bei Personen, deren Verdauungskraft schwach ist, die Nerven
des Magens und Unterleibs vorwiegend bestimmend sein. Davon
abgesehen liefern die Anstöße, welche die Nerven durch die
vegetativen Processe und die im wachen Zustande nie aufhörenden
animalen Bewegungen ununterbrochen und an allen Punkten
zugleich erhalten, merkbare Erregungen. Dazu kommt das
Gefühl der angesammelten oder aufgewanten Leibeskraft, die
allgemeine Anspannung oder Erschlaffung, Schwere oder Leichtigkeit
der Glieder. (Vergl. Lotze a. a. 0.)

382. Besondre Gefühle beruhen, wie gesagt, auf einer Veränderung
des jeweiligen Zustandes eines Nerven, d. h. einer
größern oder geringern Menge von Nerven-Fasern. Wir messen
z. B. durch unsern Temperatur-Sinn die Wärme des Raumes,
in welchem wir uns befinden. Dabei haben wir dauernd eine
bestimmte Empfindung der Wärme und zugleich vielleicht das
Gemeingefühl der Behaglichkeit. Dies ist ein anhaltender Zustand,
in welchem nicht etwa Ruhe herscht (denn dann hätten wir
keine Empfindung), sondern wo in gleichbleibendem Maße der
Körper an die Luft Wärme abgibt und Wärme producirt. Tritt
nun plötzlich durch einen kalten Luftzug eine Änderung der
298Temperatur ein, oder wird durch Ablegung von Kleidungsstücken
oder durch Eintauchen der Hände in kaltes Wasser das
Maß der Wärme-Abgabe erhöht, so wird diese Änderung einerseits
als eine andre Erregung gewisser Nerven objectiv empfunden
und als ein veränderter Zustand gewisser Nerven, z. B. der
Haut der Hände, besonders gefühlt; und andrerseits gestaltet
sie als eine höhere Forderung an die Wärme-Production des
Leibes allmählich ein neues Gemeingefühl.

383. Nun erinnern wir uns, dass sämmtliche Nerven anatomisch
und physiologisch einander gleich sind; und dass eine
Verschiedenheit ihrer Wirkung nicht aus ihnen selbst, sondern
aus jenen verschiedenen Apparaten an ihrem centralen und ihrem
peripherischen Ende erfolgt. Demgemäß halte ich mich für
berechtigt zu folgenden Annahmen:

1) Function des Nerven im allgemeinen, seinem Wesen
nach, ist es, den Bestand jedes Teiles des Leibes (d. h. die
gleichmässige Bewegung in jedem Gliede) und jede Veränderung
dieses Bestandes von einiger Größe und Dauer dem Bewusstsein
in Form des Gefühls von Lust und Unlust zuzuführen.

2) Gewisse Nerven, welche ohne besondern Apparat versehen
sind, liefern nur dieses Gefühl der Lust und Unlust.
Doch können auch sie verschieden wirken, qualitativ verschiedene
Schmerz- und Lust-Gefühle erzeugen, teils vielleicht nach der
Form der Veränderung, welche sie erlitten haben, teils nach
ihrem Verlauf, teils nach der Form der Combination oder Zusammenwirkung
mancher Nerven, da doch wohl niemals nur
eine Faser das Gefühl bewirkt.

3) Gewisse andre Nerven, welche mit besondern Apparaten
versehen sind, liefern, wenn sie eine Veränderung, also Erregung
erfahren haben, ein doppeltes Ergebniss für das Bewusstsein:
eins, ein Gefühl, insofern sie eben Nerv sind; ein andres, eine
Empfindung, insofern sie durch den Apparat eine besondre
Function üben. Wenn es sich als sicher herausstellen sollte,
dass der Seh-Nerv, wenn er z. B. durchschnitten wird, keinen
Schmerz verursacht, so müsste dies besonders erklärt werden,
und im allgemeinen gewiss dadurch, dass hier der specifische
Apparat in seiner besondern Function so mächtig ist, um die
allgemeine Function völlig zu unterdrücken. Daraus erklärt
sich auch überhaupt, dass die Empfindungs-Nerven in ihrer
299normalen Erregtheit nur nach Maßgabe ihres End-Apparates
wirken, ohne Gefühle zu veranlassen.

4) Gefühl und Empfindung sind also rein physisch betrachtet
eine und dieselbe Veränderung des Nerven, welche
psychologisch einen doppelten Erfolg hat. Ein und derselbe
Vorgang, dieselbe Erregung des Nerven wird vom Bewusstsein
zwiefach verwertet: als Gefühl, indem es subjectiv nur die Veränderung
des Bestandes und das Maß derselben vom Gesichtspunkte
ihrer Angemessenheit als Lebens-Bedingung beurteilt,
und als Empfindung, indem es den Inhalt der Veränderung als
einen besondern Vorgang nach der Kategorie der Causalität
und Qualität objectiv erfasst.

5) Zu dieser doppelten Verwertung eines und desselben
Vorganges im Nerven muss die Seele einen materiellen Anhaltspunkt
haben. Den findet sie, wie ich meine, nicht durch eine
doppelte Leitung derselben Erregung in einer Nerven-Faser
(denn dann hätten wir in dem einen Nerven zwei Erregungen),
sondern in dem Gegensatz von Nerv und End-Apparat, welchem
eine gesonderte Leitung im Central-Organ entsprechen mag.

Mit diesen Annahmen lassen sich, meine ich, alle vorliegenden
Tatsachen leicht erklären, ohne der weitern Untersuchung,
die natürlich nur physiologisch sein kann, vorzugreifen.

384. Hiernach will ich denn auch nichts dagegen haben,
dass man sagt, die Seele habe das Vermögen, erstlich die Zustände
ihres Leibes mit dessen Gliedern in Rücksicht auf ihre
Angemessenheit zum allgemeinen Lebenszweck als Lust und
Unlust zu fühlen, zweitens durch den Leib Kenntniss von äußern
Dingen zu gewinnen, und drittens den Leib zu bewegen. Damit
aber scheinen mir weniger primitive Seelen-Vermögen als
vielmehr drei Hauptrichtungen der psycho-physischen Mechanik
gegeben zu sein.

385. Man kann aber von den Fähigkeiten oder Vermögen
des Menschen, primitiven wie abgeleiteten, niemals reden, ohne
dabei die Rücksicht festzuhalten, dass sie sämmtlich der Entwicklung
unterworfen sind. Augen und Hand und Ohr werden
immer geistiger; je mehr sie dem Geiste gedient haben, um so
mehr Geist liegt in ihnen, wie wir schon oft bemerkten und in
folgendem Abschnitt wieder bemerken werden, wo uns die
Schwierigkeit entgegentreten wird, die psychischen Tätigkeiten
300auf der Stufe ihrer niedern Entwicklung darzustellen, welche
wir längst überschritten haben. — Auch die Gefühle werden
mit den Fortschritten des Geistes immer geistiger, aber ohne dass
sie aufhörten, auch in ihrer ursprünglichen Natur-Weise zu erscheinen.
Ein Schlag, ein Druck auf unsern Körper erregt immer
ein einfaches Gefühl, woneben sich das feinste Rechtsgefühl, das
zarteste Schönheits-Gefühl entwickelt haben mag. Daher spricht
man von körperlichen und geistigen Gefühlen. Beide Ausdrücke
erregen leicht das Missverständniss, als wären die Gefühle ihrem
Wesen nach entweder körperlich oder geistig. Das ist aber undenkbar.
Insofern überhaupt Körper oder Leib und Geist öder
Seele unterschieden werden, kann das Gefühl nur geistig oder
seelisch heißen *)28. Denn will man unter Seele das Central-Organ
verstehen, nun, so muss man sagen: der gestochene Finger fühlt
nicht, weder die Haut noch der Nerv desselben. Es fühlt nur
das Central-Organ, freilich in Folge einer durch den Nerv geleiteten
Erregung. Ist nun einerseits jedes Gefühl geistig, so
ist es auch andrerseits körperlich, insofern jedes Gefühl als leibliche
Erregung auftritt. Es ist wahr: unser Leib tut uns nur
in der Seele weh; aber eben so wahr ist: unser Geist tut uns
immer in unserm Leibe weh. Wir dürfen also unter den Gefühlen
nur insofern leibliche und geistige unterscheiden, als wir auf die
Ursache derselben achten. Der Schlag schmerzt; es kann aber
ein leiblicher und auch ein geistiger Schlag sein.

386. Das geistige Gefühl ist weniger localisirt als das
körperliche; denn es wird niemals an einer warnehmbaren Stelle
des Leibes erregt. Dieser Umstand aber geringer Localisation
ist nicht den geistigen Gefühlen eigentümlich; es gibt auch aus
körperlichen Ursachen entstehende und doch local unbestimmte
Gefühle, und solche sind in dieser Beziehung den geistigen ganz
gleich. Ich meine hier solche Gefühle, welche ihren Herd in
den Atem-Organen, im Herzen oder im Umlauf des Blutes oder
sonst in den Eingeweiden haben. Das sind Gefühle der Beklemmung
und Schwere oder der Erweiterung und Leichtigkeit;
und sie sind eben darum von dem Gemeingefühl kaum zu unterscheiden,
da sie dieses hervorragend bestimmen. Und in dieser
301Rücksicht kommen ihnen nun hinwiederum die geistigen Gefühle
gleich; auch sie sind ihrem Wesen oder Auftreten nach kaum etwas
andres als Bestimmungen des Gemeingefühls. Alle geistigen Gefühle
und Affecte der Freude und der Trauer, der sittlichen Genugtuung
und der sittlichen Entrüstung, des Selbstgefühls und der
Demut, der Selbstzufriedenheit und der Reue, der Gewissheit und
der Zaghaftigkeit, des Bedauerns, des Ärgers, der Scheu und Scham
u. s. w., sie alle geben sich als Gemeingefühle kund. Und was
andres als das Angeführte weiß die Kunst zu wirken? Betrachten
wir die Quellen der geistigen Gefühle ein wenig genauer.

387. Die Empfindungen erstlich sind an sich selbst auch
Gefühle, und für das ursprüngliche Verhältniss muss man sagen,
dass die Erzeugnisse der Sinne eben so sehr das eine wie das
andre sind. Allerdings sind sie uns als Empfindungen wichtiger
und ziehen als solche unsre Aufmerksamkeit immer entschiedener
auf sich und von den Gefühlen ab. So achten wir denn für das
gewöhnliche, doch wesentlich praktische Leben gar nicht mehr
darauf, dass wir neben oder in den Empfindungen zugleich auch
Gefühle haben. Die Warnehmungen aber sind Vereine von Empfindungen
und mit der wachsenden Combination der Empfindungen
steigert sich auch wieder das Gefühlsmoment in ihnen, und zwar
nicht bloß durch Summirung, sondern auch durch eine neu eintretende
Ursache, nämlich durch die Verhältnisse, in welchen die
einzelnen Empfindungen zu einander stehen. Nicht jede Combination
von Empfindungen sagt den Bedingungen unsrer leiblich-seelischen
Wirksamkeit in gleichem Maße zu. Es ist für unser
Auge eine sehr verschiedene Tätigkeit, eine sanfte Wellen-Linie
oder ein scharfes Zickzack u. s. w. aufzufassen. Hier liegt der erste
Grund des ästhetischen Wohlgefallens oder Missfallens für die
bildenden Künste *)29 wie für die Musik und den Klang der Sprache.

388. Die ästhetischen Gefühle werden ganz objectiv in den
Empfindungen und deren Verhältnissen gegeben, welche in der Warnehmung
enthalten sind. Der wargenommene Gegenstand aber ist
uns vielleicht schon als nützlich oder schädlich, genießbar oder
widerwärtig bekannt; so erregt er durch die Erinnerung an seine
Wirkung, an seinen Nutzen oder Schaden, an den Genuss oder
302Ekel auch Gefühle der Lust und Unlust — natürlich ganz dieselben
Gefühle, als wäre statt der Erinnerung die Wirklichkeit
wirksam.

389. Warnehmung und Erinnerung veranlassen Begierden.
Alles was zur Befriedigung derselben führt, wird, wenn es nicht
etwa an sich selbst Schmerz verursacht, geliebt und weckt Lust;
alles dagegen was uns den Gegenstand unseres Begehrens fern
hält, wird gehasst und weckt Unlust.

390. Was uns gefällt, lieben wir; wir wünschen es bewart,,
erneuert, gefördert. Was uns missfällt, hassen wir; wir wünschen
es vernichtet. Wird nun unser Wunsch erfüllt, so fühlen
wir Lust; wird hingegen das was uns gefällt beschädigt, oder
wird das was uns missfällt gefördert: so fühlen wir Unlust. —
Hieran schließt sich unmittelbar das Rechts-Gefühl. Jemand
hat das getan, und jenes ist ihm geschehen: Das gefällt oder
missfällt, d. h. erscheint als Recht oder Unrecht, je nachdem
durch das was ihm geschehen ist, er gefördert oder geschädigt
wird, und wir ihn wegen seiner Tat lieben oder hassen.

391. Wir kommen nun zum Denken als Ursache von Gefühlen.
Hier ist zuerst eine Bemerkung oder Unterscheidung
nachzutragen. Bei allen Gefühlen und Affecten scheinen wir
passiv: der Zustand eines Nervs oder einer Nerven-Partie,
oder der Gesammt- Zustand unseres leiblichen Befindens wird
geändert — Gefühl; das Gleichgewicht unseres Gemüts wird
plötzlich erschüttert — Affect. Indessen, wir kennen doch auch
schon Bewegungsgefühle. Man schreibt dem Muskel Gefühle
zu, welche durch die Contraction und Erschlaffung desselben
erzeugt werden. Entschieden ist die Auslösung der strotzenden,,
angesammelten Kraft, so lange nicht im Gegenteil Ermattung
eintritt, mit Wohlbehagen verbunden. Jede Kraft-Äußerung,
Lebens-Betätigung, welche sich in einer gewissen, der leiblichen
Organisation zusagenden Richtung bewegt, ist angenehm. Ein
Mül-Rad treten ist eine lästige Bewegung, selbst wenn sie nicht
mehr anstrengt, als das einfache Gehen; Tanzen ist eine lusterregende
Bewegung, ist es selbst dann noch, wenn schon Ermüdung
eingetreten ist, so lange dies nicht schmerzhaft gefühlt wird.
So kennen wir also doch schon auch gewissermaßen active Gefühle
neben den passiven. Die Gefühle, welche der Anblick von Farben,
welche die Warnehmung von Tönen gewährt, mag rein passiv
303sein; schöne Formen, Gestalten, welche wir mit dem Auge erfassen,
werden eine Lust der Bewegungen verursachen.

392. In den angeführten Fällen rührt das Gefühl, von
der Form der Bewegungen her, von ihrer Richtung und Reihenfolge.
Es entstehen aber auch Gefühle nicht sowohl aus den
Bewegungen an sich, als vielmehr aus dem Gelingen und Misslingen,
also durch Vergleichungen des Gewollten mit dem Erreichten.
Nicht (wie 389) das Erlangte an sich befriedigt hier
eine Begierde nach ihm; denn es könnte eben das Gewollte
eine inhaltslose, spielende Bewegung sein, wie ein kühner
Sprung, ein glücklicher Wurf nach einem Ziele u. s. w. Die
Virtuosität, meine ich, erweckt ein Gefühl der Lust über das
Gelungene, wobei die Bewegung an sich im Gegenteil lästig
sein konnte.

393. Wenden wir dies auf das Denken an. Denken ist
allemal eine Bewegung, und als solche regt es in vierfacher
Rücksicht Gefühle an, wie wir soeben auch von der leiblichen
Bewegung gesehen haben. Das Denken ist erstlich ein Kraft-Aufwand,
der allemal Lust erweckt (391); es darf nur eben die
zum betreffenden Object nöthige Kraft (also z. B. mathematische
Kenntniss) nicht fehlen. Dann kann sogar die Überwindung
von Schwierigkeiten, das Berechnen mathematischer Probleme,
das Durchdenken metaphysischer Aufgaben, besondre Lust erregen.
Das Denken ist zweitens auf ein bestimmtes Ziel gerichtet,
und so mag jemand, der etwas Bestimmtes lernen
wollte, froh sein, wenn er das wirklich gelernt hat (nach 389).
Bestimmte Probleme liegen unabweislich vor; Fragen dringen
auf Antworten. Die Lösung wird mit Lust gefanden oder
entgegen genommen, oder schmerzhaft vermisst. Das Denken
ist drittens eine Gegeneinander-Bewegung von Vorstellungsgruppen,
ein Zusammenfassen und Sondern, ein Vorschreiten
von Gedanken zu Gedanken, wobei aber nicht immer bloß die
gerade Linie inne gehalten wird, sondern wobei man nach rechts
und links abweicht, in Kreisen und spiralartig und schlangenlinig
geht, Hindernisse bald beseitigt, bald umgeht. Man gelangt
an Abgründe, vor denen man Halt zu machen hat, auf schlüpfrigen,
morastigen Boden, der umzukehren gebietet. Man trifft
auf Halteplätze, von wo aus man ein ganzes geistiges Gebiet
überschaut, wo sich unerwartete Fernsichten auftun. Die ganze
304Form der Bewegung kann hier eben so sehr, wie der Tanz,
einen Reiz haben und Lust erwecken. Ich denke, es werde
nicht mit Unrecht von schönen Gedanken gesprochen. Vergl.
Zeitschr. f. Völkerpsych. VI, 286—288. 292.

394. Diese Verhältnisse werden vermannichfacht, wenn
wir hören oder lesen, und noch mehr in der Unterredung, wo
wir activisch und passivisch produciren.

395. So wenig wir wissen, wie wir es anfangen, um den
Arm zu heben, zu schlucken, ein bestimmtes Wort auszusprechen,
eben so wenig wissen wir, was wir eigentlich tun, während wir
uns auf etwas besinnen, über etwas nachdenken. Bei allem absichtlichen
Suchen und Forschen, kommen uns doch die Gedanken
nach dem Mechanismus der Associationen unabsichtlich.
Daher erscheinen uns unsre Gedanken immer als Eingebungen,
Inspirationen. Diese treten oft genug unerwartet in den jeweiligen
Verlauf der Vorstellungen ein, und fördern ihn oder
hemmen ihn. Es sind neue Gründe für oder gegen das Behauptete;
sie führen zu einem Siege und zu einer Niederlage;
sie stiften Ordnung oder befestigen dieselbe und lösen eine
mühselig hergestellte Ordnung auf. Eine große Apperceptions-Gruppe
ringt mit einem großen gegebenen Begriffskreise, oder
zwei große Gruppen streiten sich um die Apperception eines
gegebenen Inhalts. Wir wissen, wie viele Verschmelzungen und
Lösungen, wie mannichfache Schwankungen das ergeben kann.
Da meiden sich mitten im Streite neue Gruppen zur Hülfe und
zum Widerstand — wie viel Affecte werden dabei erregt! Man
glaubt sich im Siege, da wird plötzlich die Palme entrissen;
man glaubt sich unterlegen, und unerwartete Verstärkung erscheint.
— Wie vielfältig erscheint hier ein Tun und Leiden!
Wir sind die Denkenden und sind bloß das Feld eines Gedanken-Kampfes.
Wir sind beide Parteien; wir produciren und
führen Heere gegen uns und für uns.

396. Hier ist nun zu unterscheiden. Die Bewegungen der
Vorstellungen können einerseits ein rein ästhetisches Interesse
gewähren: ihr Ablauf ist schön; ein Gedanken-Inhalt ist schön
gestaltet. Dieses Interesse ist rein formal; denn es entspringt
der Form der Bewegung. Derselbe Inhalt könnte uns auch in
anderer Form vorgeführt werden und könnte dann Unlust erregen.
Das Gefallen oder Missfallen haftet hier bloß an der
305Form der Darstellung. Es können aber auch pathologische
Interessen erregt werden, Irgend einem Gedanken wünschen
wir seines Inhalts wegen volle Freiheit und Herschaft im Bewusstsein;
nun aber treten ihm widersprechende Gedanken entgegen:
so leiden wir mit ihm so lange, bis der Widerspruch
aus dem Bewusstsein geschafft ist. Das kann nicht auffallen;
denn der Freund, dem wir alles Glück wünschen, ist auch nur
ein Gedanke, wie eine Etymologie, oder eine Lesart. Nun hören
wir vom Unglück des Freundes; das bekümmert, wie irgend
etwas was der beliebten Etymologie oder Lesart widerspricht.
Und unser eigenes Ich, wir uns selbst sind nur ein Gedanke
oder ein Gedankenkreis, allerdings mit großer Kraft des Reflexes
auf den Leib.

397. Also sagen wir schließlich:

Gedanken, wie Empfindungen, heißen psychische Erregungen,
insofern sie auf das Object bezogen werden;
dieselben Erregungen aber auf das Subject (den das
Ich bildenden Gedanken-Kreis) bezogen, sind Gefühle.

Der Gedanke z. B. Reichtum ist nicht immer ein Glück ist an
sich ein objectiver Inhalt, und als solcher kein Gefühl. Doch
wird er mit einem, ich möchte sagen, Bewegungs-Gefühl verbunden
sein. Denn abgesehen davon, dass er überhaupt eben
eine Bewegung ist, die allemal auch gefühlt wird, soll hier eine
Sonderung zweier Begriffe vollzogen werden, die man meist als
verbunden zu denken gewohnt ist. Die ungewohnte Bewegung,
welche sogar gegen die Gewohnheit geschieht, wird lebhaft
gefühlt. Diesen Gedanken einmal anerkannt, kann hinzugefügt
werden, eine uns völlig unbekannte und gleichgültige Person X
habe ein Schicksal erfahren, welches als ein einzelner Fall von
jenem allgemeinen Gedanken umfasst wird: so appercipirt ein
Allgemeines ein Einzelnes, wobei ein Minimum von Bewegungs-Gefühl
auftreten kann. Der einzelne Fall aber ist vielleicht
teilweise erfunden, aber vorzugsweise geeignet, die Wahrheit des
allgemeinen Gedankens zu exemplificiren, zu veranschaulichen!
so erregt er ein ästhetisches Gefühl. Oder er trifft eine Person,
die wir lieben, so erregt er ein pathologisches Gefühl. Der
allgemeine Gedanke selbst wird vielleicht appercipirt von einem
höhern Gedanken allumfassender Gerechtigkeit und Liebe, die
wir zwar tausendfach gefährdet, aber doch zu unserer großen
306Befriedigung oft genug auch bestätigt sehen: so ergibt dies
wiederum ein formales Gefühl. Und so erweckt jeder Gedanke,
welcher denjenigen Kreis berührt, fördernd oder schädigend, in
welchem wir unser geistiges Ich haben, eben so wohl ein Gefühl
wie ein Schlag, der unser körperliches Ich, unsern Leib,
trifft.

II.
Das Seelenleben vor der Sprache.

a) Stufen der Entwicklung vor der Sprache.

398. Es ist nicht meine Absicht, die geistige Entwicklung
des Menschen von den einfachsten, ursprünglichsten psychischen
Erzeugnissen an zu verfolgen; sondern ich will nur mehr beschreibend
darlegen, welcher geistige Besitz sich vor dem Ausbruch
der Sprache angesammelt hat, um dann allerdings einsehen
zu können, wie in solchem Besitz und in der psychischen
Mechanik, wie wir sie kennen gelernt haben, die Bedingungen
zum Ausbruch der Sprache gegeben sind.

399. Wenn wir auch sehen, dass die Empfindung nur aus
derselben Veränderung des Nerven erfolgt, welche auch als
Gefühl erscheint, so können wir dennoch recht wohl, wenn wir
beide als Stufen der Seelen-Tätigkeit ansehen, das Gefühl als
die niedere Stufe, die Empfindung als die höhere bezeichnen.
Wir können dies erstlich, indem wir die verschiedenen Formen
der Betätigung der Seele bloß classificiren und nach einer idealen
Stufenleiter ordnen. Wenn man aber schwanken sollte, ob man
nach dem Werte das Gefühl niedriger zu stellen habe, als die
Empfindung, zumal ein Maßstab, an dem sich beide messen
ließen, gar nicht gegeben sei: so kommt uns dies zu Hülfe,
dass im Kinde Gefühle früher vorhanden sind als Empfindungen,
dass jene also auch tatsächlich die ersten Offenbarungen
seelischen Lebens sind. Es ist kaum daran zu zweifeln, dass
das Kind schon im Mutter-Leibe Gefühle hat; dagegen sehr zu
307zweifeln, ob es in den ersten Wochen nach der Geburt, in den
beiden ersten Monaten des Lebens schon Empfindungen hat.
Wenn Neugeborene Süßes und Bittres unterscheiden und überhaupt
auf Erregungen, die in uns Empfindungen wecken, durch
Reflex-Bewegungen reagiren, so können dies immer bloße Gefühle
sein. Im Kinde haben sämmtliche Nerven bloße Gefühlskraft
und die Seele hat noch nicht die Fähigkeit, neben dem
Gefühle auch die Empfindung zu deuten. Darum steht uns
Empfinden höher, weil es erst gelernt werden muss, während
das Fühlen unmittelbar dem beseelten Wesen gegeben ist. Gar
leicht dürften auch die niedrigsten Tierarten bloß Gefühl und
noch keine Empfindung haben. Und zu demselben Ergebniss
kommen wir endlich auch durch die Rücksicht auf die Physiologie.
Denn das Gefühl ist mit dem Nerven schlechthin
gegeben; es ist also überall im Körper, wo Nerven sind, wenn
sie mit dem Central-Organ in unverletztem Zusammenhange
stehen; die Empfindung dagegen verlangt zu ihrer Wirksamkeit
eine ganz besondere Einrichtung, einen Sinn.

400. Wir dürfen demnach recht wohl das Gefühl als
niedrere Stufe, die Empfindung als höhere ansetzen und einen
Fortschritt von jenem zu dieser anerkennen. Betrachten wir
nun die Art und Weise, das innere Wesen dieses Fortschrittes
vom Gefühl zur Sinnesempfindung; so zeigen sich hier schon
alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt aller Fortschritt der
Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus von dem wesentlichsten,
auch schon ausgesprochenen, Unterschiede, dass das
Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeutet, die Sinneserregung
aber Erkenntniss eines Äußern gewährt, das sich allmählich
zur geistigen oder ideellen Construction einer Außenwelt
entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tastsinn sagt
uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz ist; dringt
aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir einen
Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des schmerz-erregenden
Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns umgebende
Luft warm oder kalt ist; aber ein wundes Glied, das, der Luft
ausgesetzt, schmerzt, kennt nur diesen Schmerz und weiß nichts
von der Luft. Der augenscheinliche Unterschied besteht hier
darin, dass beim Gefühl das Leiden des Körpers oder die Einwirkung
von außen auf denselben heftiger, gewaltsamer, eindringender
308ist. Der Nerv wird verletzt und nicht sowohl erregt,
als gestört, oder vielmehr zerstört. Was ihm hier widerfahrt,
ist ihm fremd, seiner Bestimmung nicht angemessen. Gegen so
rohes Anpochen von außen zieht sich die Seele in sich zurück,
schließt sich in sich ein; sie ist (auch in der Lust) überwältigt,
unterjocht vom Äußern, und weiß nicht, wie ihr geschieht. Das
Äußere lastet auf der Seele, unterdrückt ihre Tätigkeit; und die
Seele erwidert hierauf nur mit einem Gefühl, wodurch sie bloß
ihr Dasein geltend macht. Bei der Sinnesempfindung im Gegenteil
ist es nur eine Berührung, die der Leib von außen erfährt.
Es ist ein einladendes Anklopfen, welches die Seele herauslockt.
Die Organe werden aus der Ruhe, dem Müßiggange geweckt;
indem ihnen ein angemessener Stoff in angemessener Stärke
naht, werden sie erregt, in die Bewegung versetzt, zu welcher sie
geeignet sind. Der von außen kommende Andrang versetzt sie
in ihr wahres Leben, überwältigt sie nicht. Diese Schwäche
des äußern Andranges ist nötig. Daher kommt es, dass das
Auge den Dienst versagt, selbst wenn ihm der angemessene
Stoff, Licht, geboten wird, nur in zu großer Stärke. Und daher
hat ferner nicht bloß das Embryo, sondern auch das neugeborene
Kind bloß Gefühl und noch keine Empfindung: weil
für dessen Organe selbst die normale Stärke der äußern Eindrücke
noch zu mächtig ist. Seine Organe müssen sich erst
kräftigen und Licht und Luft ertragen, und so empfinden lernen.

401. Mit diesem ersten Punkte ist nun auch schon ein
zweiter gegeben. Ist in der Empfindung, wie wir so eben
sagten, der Andrang von außen schwächer, als im Gefühl, so
ist umgekehrt auch die Gegenwirkung der Seele in jener größer,
als in diesem. In der Empfindung findet zwischen dem Organ,
oder der Seele, und dem erregenden Äußern ein freundschaftlicher
Verkehr zweier gleich starker Mächte statt, bei welchem
die Seele nicht bloß leidet, sondern auch tätig ist. Sie bewart
ihre Selbständigkeit und empfangt von außen etwas, was sie, es
umbildend, sich assimilirt und aneignet. Auf Anregung von
außen erzeugt sie ein rein seelisches Gebilde, welches bloß ihr angehört
und eben den Inhalt der Empfindung ausmacht. In Verhältniss
zum Gefühle, wo die Seele gänzlich unterworfen ist,
kann man sagen, dass sie bei der Empfindung schon frei sei.
Im Gefühl ist die Seele lediglich auf sich bezogen; denn im
309überwältigenden Gefühl erweist sich das Sein der Seele darin,
dass sie sich verletzen, unterjochen lässt, also in negativer Weise:
in der Sinneswarnehmung erweist sich die Seele positiv, schöpferisch,
aus Fremdem und Eigenem eine eigentümliche, ihr gehörende
Einheit, einen Inhalt gestaltend. Hier ist der Anfang
der Freiheit, der Anfang zur Handlung.

402. Weil nun die Seele in der Empfindung selbständig
auftritt, also ohne vom Äußern unterjocht zu werden, vielmehr
das Äußere sich aneignet und einen Inhalt schafft: so lernt sie,
drittens, auch bald sich vom Äußern scheiden, sich ihm entgegenstellen;
sie beginnt, sich zum Selbst zu bilden, welchem
sie die Außenwelt gegenüberstellt. Dies ist das Wesen der
Erkenntniss, die Scheidung von Subject und Object. So schwach
auch zunächst diese Scheidung und Entgegensetzung ist: der
Keim ist gegeben, der sich unaufhaltsam fortentwickelt, wenn
er die gehörigen Nahrungsmittel findet.

403. Wir haben hier den Unterschied zwischen Gefühl
und Empfindung mehr bloß dargestellt in der Weise, wie er
sich zeigt, als angegeben, wie und wodurch er bewirkt ist.
Letzteres ist keine leichte Aufgabe; sie macht den Psychologen
viel zu schaffen. Wir aber, glaube ich, können hier davon absehen.
Wir wollen nur ein paar wesentliche Punkte hervorheben,
in denen wir ein Prototyp für alle Entwickelung zu erkennen
meinen; hierbei haben wir auf einige physiologische Einrichtungen
hinzuweisen, welche die Empfindungserkenntnisse
ermöglichen. Wir sehen die Empfindung als eine Entwickelung
des Gefühls an, die aber deutlich einen physiologischen Boden hat:

404. Das Gefühl — wir reden natürlich hier nur vom
sinnlichen Gefühl — ist nichts als überhaupt ein bewusst gewordener
Eindruck des Äußern auf die Seele. Hierbei tritt
nicht bloß die Seele lediglich als ein unbestimmtes Dasein auf,
welches sich als daseiend erweist, indem es den erfahrenen
Druck von außen als wohl oder wehe tuend auf sich bezieht;
sondern auch die Außenwelt wirkt hier eben so bloß als ein
unbestimmtes, ununterschiedenes Etwas. Es ist hierbei noch
nicht einmal ein Unterschied vorhanden zwischen der Außenwelt
und dem Leibe der Seele; der eigene Leib ist hier auch noch
das Äußere. Denn es ist für das Gefühl ganz gleichgültig, ob
ein Brand im Leibe durch ein nahes Feuer von außen, oder
310durch einen rein innerhalb des Leibes beschränkten Vorgang
entstanden ist. Auch existirt ja hier selbst der Unterschied
zwischen Seele und Äußerm nur für uns, die Betrachtenden,
aber noch nicht für die Seele selbst. Der Charakter des Gefühls
ist also ungeschiedene Einheit, Bestimmungs- und
Formlosigkeit. Die Factoren im Gefühl, Seele und
Äußeres, sind in einander vermischt, und jeder Factor in
sich einheitliches, unterschiedsloses, ungeformtes Wesen. Dies
zeigt sich auch so, dass der ganze Leib in allen seinen
Teilen ohne Unterschied der Seele dasselbe Gefühl gibt, Lust
oder Weh.

405. In der Empfindung tritt nun zuerst Unterscheidung,
Begrenzung auf, und zwar zunächst als räumliche
Begrenzung, Localisirung. Die Empfindung also, möchten wir
zuerst definiren, ist ein localisirtes Gefühl. Der Tast- oder
Gefühlssinn scheint zwar wenig localisirt, im Verhältniss zu den
andern Sinnen. Man sieht nur an dem einen Orte, wo der
Gesichtsnerv ist; man hört nur an dem einen Orte, wo der
Gehörnerv liegt; aber man hat Tastempfindungen, Gefühlsempfindungen
an der ganzen Oberfläche des Leibes, überall an
der Haut, mit größerer oder geringerer Feinheit, je nach dem
Orte. Aber eben ein Sinn, der in der Haut sitzt, ist schon
localisirt gegen das Gefühl, das auch im Innern überall im ganzen
Leibe und in allen Organen und Gliedern ist; und selbst in
der Haut ist der Gefühlssinn doch nur an einigen Punkten so
entwickelt und fein, dass er bestimmte Empfindungserkenntnisse
geben kann. Die Localisirung zeigt sich noch mehr darin, dass
jeder Tastnerv in der Haut in einem kleinen Organ endet. Und
damit hängt die weitere, für die Erkenntniss höchst einflussreiche
Tatsache zusammen, dass der auf den Tast-, wie jeden
anderen Sinnes-Nerv geübte Reiz auf denselben beschränkt
bleibt, während ein in einem Gefühlsnerven erregtes Gefühl
weit über den Erregungsheerd hinaus ausstrahlt. Ist irgend
ein Punkt des Leibes verletzt, so dehnt sich das schmerzhafte
Gefühl weit über die verletzte Stelle aus; die schmerzende
Gegend ist ungleich größer, als die Wunde. Eine Faser des
Sehnervs aber z. B. teilt seine Lichterregung keiner andern.
Nervenfaser mit; und betasten wir mit der Fingerspitze die
beiden Spitzen eines Zirkels, so können diese letztern sehr nahe
311an einander stehen, und die Empfindung wird sie doch als zwei
Spitzen von einander unterscheiden, weil jede Spitze besonders
von einem Tastorgan empfunden wird, und die Empfindung des
einen Organs nicht auf das andere ausstrahlt und übergeht,
sondern die Empfindung jedes kleinen Organs auf sich beschränkt
bleibt. Hierzu kommt, dass der Reiz, der die Empfindung erregt,
nur kurze Zeit wirkt, und dass die Erregung sehr schnell
nach dem Schwunde des Reizes ebenfalls schwindet; während
das Gefühl noch lange nach dem Angriffe auf den Nerven
fortdauert. Ist das Licht ausgelöscht, entgleitet ein Ding der
Hand, so ist die Empfindung geschwunden; das Gefühl in Folge
des Schlages dauert lange nach demselben fort; und oft ist die
Ursache des Gefühls dauernd, wie ein Druck.

406. Mit dieser räumlichen, physiologischen Begrenzung
der Empfindung ist nun die innere Begrenzung des seelischen
Empfindungsinhaltes gegeben. Auf eine so bestimmt begrenzte
Einwirkung von außen auf die Seele, wie sie in der Sinnesempfindung
vorliegt, antwortet die Seele in einer eben so begrenzten
und bestimmten Weise, und das liefert den specifischen
Inhalt der Empfindung, eine Farbe, einen Geschmack u. s w.
Die Seele setzt nicht mehr, wie im Gefühle, dem Eindrucke
von außen ihr ganzes ungeteiltes Dasein entgegen, sondern nur
eine bestimmte Seite desselben, eine bestimmte Weise ihrer
reagirenden Tätigkeit. Es ist ein ganz isolirter, Punkt des
Leibes, von dem aus sie erregt wird: also antwortet sie auch
mit einem ganz isolirten seelischen Erzeugnisse. Auf die Dumpfheit
und Verworrenheit des äußern Andranges im Gefühl konnte
sie nur eben so dumpf und verworren erwidern.

407. Jedoch die bloße Localisirung und Isolirung des
äußern Eindruckes genügt noch nicht, um die volle Bestimmtheit
einer Empfindung zu erklären. Es tritt noch etwas hinzu,
was schon angedeutet ist, die bestimmte Form des Sinnesorgans.
Die volle Scheidung verlangt, um nicht rein negativ,
bloße Absonderung zu bleiben, noch ein positives Princip, die
Formung. Die eigentümliche Form jedes Sinnesorgans leiht
seiner Empfindung einen besondern Inhalt, und diese Form ist
es erst, welche diesen bestimmten Empfindungsinhalt aus der
Unbestimmtheit des Gefühls heraushebt. Die wundervolle Organisation
des Auges und des Ohres bewirkt, dass die zum
312Gesichts- und Gehörnerven dringenden Eindrücke nicht bloß
als allgemeine dunkle Gefühle wargenommen werden, sondern
als bestimmte Empfindungen eine Erkenntniss geben.

408. Geringere Stärke des sinnlichen Eindruckes und
größerer Widerstand der Seele, und dann ferner eine gewisse
Tätigkeit, weniger Leiden, schon ein Keim der Freiheit der
Seele; diese beiden Punkte hatten wir als die unterscheidenden
Merkmale der Empfindung im Gegensatze zum Gefühl kennen
gelernt. Soeben haben wir nun Localisirung und Formung als
die beiden physiologischen Hülfsmittel erkannt, welche der Seele
zur Herausarbeitung der Empfindung aus dem Gefühle dienlich
sind. Die Beziehung nämlich dieser Mittel zu jenen Unterschieden
leuchtet wohl bald ein. Die Localisirung des Organs
bedeutet eine Beschränkung des Angriffspunktes. In dem Gefühle
tappt die Außenwelt geradezu nach dem Leibe und fasst
ihn blindlings, wie es kommt; in der Empfindung fasst sie ihn
an einer bestimmten isolirten Stelle, die als besondere Handhabe
dazu geformt ist; und sie fasst ihn hier nur mit einem
ihrer Elemente, für welches gerade diese Handhabe geeignet
ist. Der äußere Andrang ist folglich viel schwächer; der Leib
ist in der Empfindung weniger ergriffen, als im Gefühl; er ist
der Außenwelt gegenüber freier, selbständiger, weil diese keine
Gelegenheit hat, ihre volle Macht zu entfalten, und er derselben
nur einen beschränkten Angriffspunkt darbietet.

409. Noch wichtiger aber ist das andere Moment, die
Form. Diese bewirkt es, dass die Seele in der Empfindung
tätig, gestaltend auftritt, die äußere Einwirkung überwindend
und in ein ihrem Wesen angehörendes Gebilde umwandelnd.
In der Form des Organs liegt das Mittel, wodurch die Herschaft
über den Andrang der Elemente gewonnen wird. Denn
die Form bestimmt durch sich und sich gemäß das Element,
welches eindringen soll, und den Eindruck des Elementes schon
im voraus. Die Form des Auges, des Ohres, des Geruchs-Organes
hält von dem empfindenden Nerven alle fremdartigen,
diesen Sinnen unangemessenen Eindrücke ab, und gestattet selbst
den Elementen, für welche der Sinn organisirt ist, nur dergestalt
den Zutritt, wie es für die Empfindung am vorteilhaftesten
ist, die Berührung des Nerven mit dem Elemente bald abschwächend,
bald verstärkend. Um zu sehen, wie sicher und
313fest diese Vorausbestimmung ist, welche der Eindruck des Elements
auf das Organ durch die Form des Organs erfährt,
braucht man sich nur daran zu erinnern, dass der Gesichts-und
Gehörsnerv nicht bloß durch Licht- und Tonwellen zur
Erzeugung von Licht- und Tonerscheinungen veranlasst werden,
sondern auch durch jeden mechanischen Stoß und Druck, z. B.
auch durch den elektrischen Schlag. Es ist bekannt, dass jeder
Druck auf den Sehnerven die subjective Empfindung des Glanzes
erzeugt. Bei solchem Leuchten ist freilich das Auge nicht
im Stande objectiv Dinge zu sehen, einen äußern Gegenstand
warzunehmen, was doch das Wesentliche der Gesichtsempfindung
ist; aber jenes subjective Sehen, das innerliche Leuchten
des Auges beweist, dass das Sehen nicht bloß vom Elemente
des Lichts abhängt, sondern durch die Vereinigung der Kraft
des Auges, wie sie durch die Organisation desselben bestimmt
ist, mit dem Elemente hervorgebracht wird. — Ebenso verhält
es sich mit den übrigen Sinnen. Alle Empfindungen werden
in ihrem Inhalt wesentlich von der Eigentümlichkeit des Sinnesorganes
bedingt. Derselbe elektrische Strom, dessen Dasein
der Sehnerv als einen Lichtschein, der Geschmacksnerv als
Säure berichtet, erregt im Hautnerv das Gefühl des Brennens.
Denselben Sonnenstrahl, den wir Licht nennen, wenn er in das
Auge fällt, nennen wir Wärme, wenn er die Haut trifft.

410. Der Leib verfügt also in der Empfindung vermöge
der Organisation der Sinne über den Eindruck von außen; er
ist mithin bis auf einen gewissen Punkt frei. Er bestimmt das
Element, welches er zulassen, und die Weise, wie er es zulassen
will, damit es der Empfindung angemessen wirke. Was
wir nun hier den in der Empfindung frei gewordenen Leib
nennen, das ist vielmehr der in den Dienst der erkennenden
Seele getretene Leib.

411. Wir haben aber den wichtigsten Punkt noch nicht
erklärt, dass sich nämlich die Seele mit ihrem Leibe der Außenwelt
gegenüberstellt, oder dass sie einen Gegenstand sich gegenübersetzt.
Im Gefühle geschieht dies nicht; es ist eine Vereinigung
des Leibes mit dem Äußern, wobei dieses in jenen
eingreift, ein Eingriff, wobei sich der Leib schlechthin leidend
verhält. Im Gefühle kann also die Frage nach der Ursache
desselben gar nicht aufkommen; es gibt hier noch gar keine
314Unterscheidung eines Bewirkten von einer Ursache, weil noch
nicht einmal das Äußere vom Leibe und der Seele abgesondert,
ferngerückt ist. Das Gefühl ist im Körper dauernd, noch nach
der Einwirkung von außen, und der Körper trägt es mit sich
herum, wenn er sich bewegt, ohne davon loszukommen, während
die Empfindung momentan ist (405). Das Gefühl gehört
zum Körper, macht eine Bestimmung desselben aus und ist
nicht ablösbar von ihm. Wie sollte also im Gefühl die Seele
veranlasst werden, über den Körper in irgend einer Weise hinauszugehen?
Das Gefühl beschäftigt die Seele völlig, nimmt
sie ganz in Anspruch, hält sie gefangen; wie könnte sie vom
Körper absehen? — Ganz anders in der Empfindung. Diese
haftet nur am Körper, wie sie nur durch eine Berührung des
Organs mit dem Elemente erzeugt ist. Sie geht schnell vorüber,
sobald die äußere Erregung vorüber ist. Sie geht vorüber,
sobald sich der Körper von dem Ausgangspunkte des
Reizes abwendet; sie wird stärker und schwächer, je nachdem
sich der Leib dem Herde der Erregung, z. B. einer Flamme,
einem tönenden Körper mehr nähert oder von ihm entfernt.
Dabei ist Leib und Seele von der Empfindung weniger ergriffen,
und die Seele bleibt ihrer mächtig. Man sieht also z. B. in
diesem Augenblicke die blaue Farbe; man wendet den Kopf
und sieht die grüne Farbe. Jetzt verschiebt sich aber das Ding
und man sieht wieder Blau. Man hört einen Ton, man hört
ihn stärker oder schwächer, je nachdem man das Ohr nähert
oder entfernt. Das tönen hört auf, und man vernimmt nichts
mehr, obgleich der Leib sich nicht verändert hat; das Tönen
dauert fort, aber man entfernt sich und hört immer schwächer
und schwächer und endlich gar nicht mehr. Oder man hört
zunächst nichts, bleibt ruhig und hört nun plötzlich; man
schreitet vor und hört immer stärker, bis man der tönenden
Ursache ganz nahe ist; oder man ruht und hört dennoch stärker,
weil die tönende Ursache sich nähert. An solchen Erscheinungen,
die sich in Fülle, jeden Augenblick darbieten,
merkt die Seele, dass die Empfindung nicht im Zusammenhange
stehen kann mit den Bewegungen des eigenen Leibes, welche
sie selbst leitet; dass sie ihr zukommt ohne Bewegung des
Leibes, und trotz derselben; dass sie also nicht im Leibe ist,
sondern ihr durch Bewegung von außen zukommt; und so verlegt
315sie die Empfindung außer sich und scheidet sich von ihr
als dem Dinge, welches ihr etwas antut, oder scheidet sich,
zunächst wenigstens, von der Empfindung als etwas Äußerm,
was ihr angetan oder gegeben wird, was sie nehmen kann (56).
Man greift einen Gegenstand und fühlt seine Glätte oder Rauhheit,
man empfindet einen harten oder weichen Stoff; man lässt
ihn fallen, und die Empfindung ist vorüber. Die Tastempfindung,
schließt jetzt die Seele, freilich unbewusst, gehört also
nicht der Hand; sondern kommt der Hand von etwas Äußerm
zu, das sie nun wieder erfasst, wodurch sie die gehabte Empfindung
erneuert. Hierbei wirkt das Sehen mit. Die Empfindung
des Glatten und Rauhen verbindet sich mit dem Anblick
des Dinges in der Hand. Das Ding fällt, d. h. der Anblick ist
verändert, und zugleich die Tast-Empfindung geschwunden. Man
gibt dem Kinde das Ding wieder: so kehrt die frühere Tast-Empfindung
und der frühere Anblick zurück. In der Empfindung
also experimentirt die Seele, nach Zufall, absichtslos und
unbewusst; aber das Ergebniss ist das erwachende Bewusstsein
von einer Außenwelt *)30, oder genauer eine gewusste Außenwelt.
Denn noch weiß die Seele nichts von sich, nichts von einem
Gegensatze ihrer selbst zur Außenwelt; sie weiß nur Äußeres.
Im Gefühl aber wusste sie gar nichts. Die Empfindung ist
also das erste Wissen oder Erkennen, und dieses ist ein Wissen
von Äußerm; d. h. tatsächlich ist es ein solches Wissen eines
Äußern, obwohl die Seele noch nicht weiß, dass sie dem Äußern
als Inneres gegenübersteht. So viel über Gefühl und Empfindung.
Verfolgen wir jetzt die Bildung der Seele weiter.

412. Es ist eine wahre Schöpfungsgeschichte, durch welche
wir die Seele zu begleiten hätten. Das Erwachen der Empfindung
aus dem Gefühl ist ein wahres: „und es ward Licht”.
Dies ist aber nur der erste Schöpfungstag; und es bleibt noch
viel zu tun. Das Gefühl, die Empfindungen und die Reflexbewegungen
sind gegeben; warnehmen aber muss man lernen.
Hieran knüpfen sich sehr schwierige psychologische Aufgaben.
Es ist bekannt z. B., dass man eigentlich nur Flächen, und
316diese ohne Entfernung sieht; Körper sehen nach ihren drei
Ausdehnungen, Raumverhältnisse erkennen, sich an seinem eigenen
Leibe zurechtfinden, das muss erst gelernt werden.

413. Denken wir uns also den empfindenden Menschen.
Von allen Seiten strömen die Empfindungen gleichzeitig durch
alle Sinne auf ihn ein; er wird von ihnen überflutet; und so
findet er sich jetzt erst recht in einem Chaos, worin nichts
unterschieden ist. Noch ist keine Vorstellung von einem besondern
Dinge da. Wie der Fortschritt der Empfindung gegen
das Gefühl in der Scheidung bestand, so muss nun auch weiter
in dem Meere der Empfindungen unterschieden, d. h. verbunden
und getrennt werden, damit von einander abgesonderte Gebilde
und Gestaltungen hervortreten. Dies geschieht nun hier abermals
zunächst durch körperliche Sonderung und Bewegung.

414. Die ganze Umgebung des Empfindenden sendet ihm
viele Eindrücke zu, welche sich mit einander zu einer Einheit
verbinden. Von diesem einheitlichen Hintergrunde heben sich
zuerst die lebenden Wesen ab, die sich unaufhörlich im Raume
hin und her bewegen und dadurch von allem, was nicht zu
ihnen gehört, ablösen. Das Kind sieht Personen und Tiere
gehen und kommen; es selbst geht aus den Armen des einen
in die des andern über. So lernt es jene als besondere Einheiten
von sich und allem Übrigen abscheiden. — Die Dinge
werden hin und her gerückt; Tische und Stühle stehen bald
dort, bald hier. Auf dem Tische steht bald dies, bald jenes,
bald gar nichts. Das Kind sieht die Dinge bald liegend, bald
weggenommen und bald wieder hingelegt, und nimmt sie selbst
in die Hand. So zerreißt also die Einheit des durch die Empfindung
Wargenommenen in so viele Stücke, als die Wirklichkeit
selbst sich auflöst, So bekommt das Kind Anschauungen
von Dingen. Sieht es dann auch noch den Tisch
aus einander gelegt, die Decke abgenommen, die Füße losgelöst:
so zerlegt sich die Anschauung des Tisches von neuem in eben
so viele und eben solche Anschauungen, als der Tisch in Teile
zerlegt ist, und es erhält zugleich die Anschauung der Tätigkeiten
des Auseinandernehmens und Zusammensetzens. Soviel
lernt ein Kind im ersten und zweiten Jahre, und so stehen wir
hier nicht bloß schon an der Schwelle der Sprache, sondern
317die Bildung der besondern Anschauungen geht schon unter der
Leitung des Wortes vor. *)31

415. Nachdem wir die Elemente der Sprache, welche gewissermaßen
im vorsprachlichen Zustande der Menschen gegeben
sind, kennen gelernt haben, könnten wir versuchen, sie in das
lebendige Spiel der Sprachtätigkeit zu versetzen. Wir müssen
jedoch zuvor den innern Besitzstand der Seele auf ihrer vorsprachlichen
und also — da man die Sprache immer als Scheidungszeichen
zwischen Mensch und Tier angesehen hat — tierischen
Bildungsstufe etwas näher betrachten. Dies wird natürlich
bloß darauf hinauslaufen, das Wesen der Empfindungserkenntnisse,
der Warnehmung, der Anschauung zu entwickeln. Wir
können diese Arbeit nicht umgehen. Denn wir müssen doch
den Boden ausbreiten, auf oder aus welchem sich die Sprache
erhebt, um dann weiter sehen zu können, was und wie die
Sprache, in Gemäßheit des ihr in der Seele Vorangehenden und
der allgemeinen Entwicklungsweise der Seele, für die Fortbildung
derselben, für die Entfaltung ihres Wesens wirkt; was
die Seele durch sie gewinnt, was sie sich in ihr schafft und gibt.

b) Charakter der sinnlichen Warnehmung.

416. Man fühlt Lust und Unlust. Man empfindet aber
vermittelst der Sinne die Elemente, Licht, Wärme, Schall u. s. w.
Man sagt jedoch nicht: ich empfinde dich, den Tisch, eine
Blume. Denn Empfinden bedeutet: vermittelst der Sinne
Erregungen seitens der Elemente empfangen und bewusst werden
lassen. Dinge werden nicht empfunden, sondern wargenommen
(12. 22). Man hat eine Anschauung von den Dingen.
Ich nehme also Warnehmung ganz wie Helmholtz als
„aus Empfindungen zu Stande gekommene Vorstellungen bestimmter
äußerer Objecte”, nur dass ich hier statt Vorstellungen
sagen würde: Anschauungen. Wenn ich oben (12) sagte, die
Empfindung ergebe das Bewusstsein einer „Qualität” sinnlicher
Dinge, so ist das insofern ungenau als das Ergebniss der Empfindung
erst in der Anschauung also im Warnehmungs-Process
(18) zur Qualität verwertet, geformt wird. Dass der Klang
318einer Violine, weil aus Partial-Tönen zusammengesetzt, nicht
mehr Sache der reinen Empfindung, sondern der Warnehmung
sei, würde ich nicht sagen; sondern nur dies, dass der Klang
zwar eine Empfindung, aber darum nichts Einfaches, kein geistiges
Atom, sondern etwa ein Molecule sei. Ein besondres.
Wort kann dafür nicht geschaffen werden; sagen wir: eine
zusammengesetzte. Empfindung. Um eine solche handelt es sich
aber allerdings beim Klange; denn, verstehe ich Helmholtz recht,
so beruht dieser nicht auf einer mehrfachen Erregung des
Hörnerven, deren Resultante sich noch im Nerven bildet und als
Einheit zu Bewusstsein kommt, sondern auf der psychischen Zusammenfassung
von primitiven Ton-Empfindungen, die von Nerven
gesondert geleitet und gesondert bewusst gemacht worden
sind. Wenn man aber sagt, man sehe Dinge im Raume, oder
man sehe die Form eines Tisches, so kann dieser Ausdruck irre
führen. Denn das Sehen in solchen Fällen ist ein zusammengesetzter
psychischer Process und ist ganz eigentlich schon
Warnehmen; Sehen ist ungleich mehr als bloß Licht-Eindrücke
empfinden. Nun enthält freilich auch das Sehen keine erschöpfende
Anschauung eines Dinges; denn außer dem Inhalt,
den das Sehen gewährt, enthält diese noch den Inhalt mancher
Empfindungen. Die reine Wirksamkeit der Empfindungsorgane
an sich kommt nur beim Kinde im ersten Laufe der Entwicklung
vor; beim entwickelten Menschen steht sie ganz im Dienste
der Warnehmung, d. h. der Bildung von Anschauungen. Daher
sagt man auch, man höre, rieche, schmecke Dinge. Hier erhält
die einzelne Empfindung vermöge der Verbindung, in welcher
ihr Inhalt steht, und vermöge der Reproductionskraft, welche
sie durch die Association besitzt, (188. 269) den Wert einer
vollen Warnehmung; denn sie hat Anschauung-bildende Kraft..

417. Die Empfindung, weil sie ihre Erkenntnisse durch
vereinzelte Organe gibt, verfährt gewissermaßen analytisch; die
Anschauung ist eine Synthesis, aber eine unmittelbare, die durch
den Mechanismus der Seele gegeben ist. Diese Synthesis ist der
Warnehmungsprocess. In der Anschauung liegt immer eine
Mannichfaltigkeit; denn das Einfache wird bloß empfunden.
Das von der Empfindung gelieferte verschiedene Einzelne verbindet
sich unmittelbar synthetisch zur Anschauung. Zu dem
in der Anschauung schon gebildeten Complex von Qualitäten
319können neue Empfindungserkenntnisse hinzutreten, die ebenfalls
in gleicher Unmittelbarkeit sich synthetisch der Anschauung
hinzufügen. Wir nehmen also das Wort Anschauung nach
seiner sinnlichen Bedeutung, wie sie auch der Etymologie nahe
steht oder vielleicht ganz gleichkommt. Im Hebräischen und
Chinesischen bedeutet sehen überhaupt sinnlich warnehmen.
Man sollte die Anschauung in dieser niedrigen Bedeutung lassen.
Man spricht wohl auch von der allgemeinen Anschauung der
Natur, des griechischen Lebens u. s. w. Dafür aber sollte man
das Wort Idee verwenden, und diese nicht, nach französischer
und englischer Weise, von ihrer Höhe zur gemeinen Vorstellung
herabziehen. Auch die Unterscheidung der Idee von Begriff
ist nicht schwer. Dieser drückt das allgemeine, noch abstracte,
Princip aus. Ihm wohnt allerdings die schöpferische Kraft inne,
die Wirklichkeit zu schaffen; aber erst die Erkenntniss des verwirklichten,
nach allen Seiten in vielen einzelnen Schöpfungen
entwickelten Begriffs liefert die Idee. Der Begriff des Rechts
z. B. ist der Ausgangspunkt sowohl der Schöpfung aller Rechtsbestimmungen
und Grerechtigkeitsanstalten eines Volkes oder
Gesetzgebers, als der Forschung und Darstellung des Rechtsgelehrten;
die Idee des Rechts ist das in der Breite seiner
Entwicklung begriffene Recht, das Gesammtergebniss der Rechtswissenschaft.
Der Begriff ist abstract, die Idee ist dessen Verwirklichung
und Lebendigkeit. Der Begriff ist ein Allgemeines,
die Idee ein Ganzes. (Vergl. Lazarus, Zeitschr. f. Völkerpsych.
III, 448—456.) — In einem noch andern Sinne nimmt Herbart
die Anschauung. Er definirt (Lehrbuch zur Psychologie §. 204.
Psychologie II, §. 147.). „Anschauen heißt, ein Object, gegenüber
dem Subjecte, als ein solches und kein anderes auffassen.”
Dies verlangt freilich schon ein sehr entwickeltes Selbstbewusstsein;
es ist aber vielmehr Beobachtung, welche die Qualitäten
des Objects aufsucht, „indem wir mit Besonnenheit etwas besehen
und betrachten.” Wie sehr hier die Bedeutung des Wortes
Anschauung erhöht ist, geht aus der widerspruchsvollen
Bemerkung Herbarts hervor: „Dass in der Anschauung, als
Grundbestandteil derselben, Empfindung liege: versteht sich
zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto
mehr wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung
des Subjects, als auf die der andern davon zu unterscheidenden
320Objecte. Das heißt: die Anschauung wird verlieren an
dem, was an ihr charakteristisch ist.” Darum aber,
meinen wir, vernichtet sich hier die Anschauung und wird
Beobachtung.

418. Kurz: wie die Empfindung in der Warnehmung
aufgeht, so geht diese, d. h. die Anschauung, in der weitern
Bildung, im Begriff, in der Idee auf (14. 17.). Eben darum
ist es sehr schwer, die Anschauung oder Warnehmung an
sich, als vorsprachliche Entwicklungsstufe zu charakterisiren.
Wir bemerken indessen Folgendes.

419. Es fehlt der primitiven Anschauung das Selbstbewusstsein.
(411.)

420. Mit diesem Mangel an Selbstbewusstsein steht in
enger Verbindung, dass es auf der Stufe der Warnehmung
nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes gibt. Nur einzelne
Qualitäten werden empfunden; nur einzelne Dinge wargenommen.
Es gibt keine Warnehmungen von Arten. Der äußerlich oder
innerlich (in der Erinnerung oder Phantasie) angeschaute Hund
ist eine bestimmte Einzelheit, bestimmt nach Farbe, Größe, Gestalt,
Stimme und allem was die Warnehmung an ihm besitzt.
Das Tier, ein so umfassender Gattungsbegriff, wird gar nicht
wargenommen. Es mag wohl sein, dass das Kind mit seinen
noch so ungeübten Sinnen gerade von den Merkmalen eines
Hundes, welche er mit der Katze und dem Pferde als Tier
gemeinsam hat, am meisten betroffen wird, dass es bloß diese
warnimmt und über ihnen die andern übersieht. Der Hund,
wie die Katze ist für das Kind etwa ein Ding, das von selbst
von einem Orte zum andern gelangt, ohne, wie Tische, Stühle,
getragen zu werden; ein Ding, dem man ruft, dem man zu
essen gibt u. s. w. Wenn es aber auch an einem Hunde nichts
weiter warnähme, als die allgemeinen tierischen Merkmale, so
wäre dies doch keine Anschauung von einem Tiere, sondern
nur eine unvollkommene, d. h. sowohl unvollständige, als stumpfe,
an Menge der Merkmale und Schärfe der Auffassung mangelhafte
Anschauung von einem Hunde (197).

421. Wesentliche Bestimmungen der sinnlichen Warnehmung
sind also: In Bezug auf das Subject Mangel an Selbstbewusstsein,
bezüglich des Objects und Inhalts einzelne Wirklichkeit,
und dazu kommt drittens betreffs der psychologischen
321Form, wie der Inhalt der Warnehmung im Bewusstsein vorhanden
ist, Einheit eines Bildes. Diese drei Punkte gelten natürlich
nur von der noch nicht ausgebildeten Warnehmung und Anschauung;
die beiden letzten gelten auch von unserer jeweiligen,
augenblicklichen Warnehmung; aber sie sind dabei im Gegensatze
zu der weitern Entwicklung, in welcher wir die Anschauung
oben (15), eben so wohl wie den Begriff discursiv
nannten, womit geradezu der Gegensatz zu der hier hervorgehobenen
Einheit ausgesprochen ist. Diese bezeichnet hier
das gleichzeitige Nebeneinander im Raume und die zusammenfassende
Beziehung der mannichfachen Empfindungen zu einem
räumlich sich erstreckenden Bilde, welches mit einem male geschaut
werden kann. Dabei sind die Gesichts-Empfindungen
die bewussten; die sich daran knüpfenden Empfindungen der
andern Sinne können in Schwingung bleiben. Dies ist die
Anschauung im eigentlichen, im primitiven Sinne, mag sie das
augenblickliche Erzeugniss der jeweiligen Warnehmung, z. B.
der Anblick eines Pferdes, oder bloße Erinnerung einer solchen
ehemaligen Warnehmung sein. Discursiv dagegen ist die entwickelte
Anschauung, welche einen Inhalt umfasst, der niemals
in einer Warnehmung gegeben ist, sondern aus den Ergebnissen
vieler Warnehmungen combinirt ist. Solcher Inhalt kann
nicht mit einem male übersehen, sondern nur in seinen Teilen
nach einander aufgezählt und zusammengelesen werden. — Aber
auch diese Art-Anschauung trägt immer noch das Wesen des
Bildes an sich; sie ist ein Bild, dessen einzelne Elemente veränderlich
sind. Die Art-Anschauung Pferd z. B. kann durch
eine Warnehmung nicht gegeben sein; denn diese liefert nur
ein einzelnes Pferd. Sie ist aber durch viele Warnehmungen
gegeben; d. h. sie ist der Inhalt eines wechselnden Bildes. Bald
bleibt die Form und diese erscheint nur in wechselnder Farbe;
bald bleibt die Farbe und Form, aber die Größe wechselt; bald
ändert sich auch die Linie, welche Kopf und Hals umzeichnet
u. s. w.

422. Es kann unerlaubt scheinen von einer Art-Anschauung
zu reden. Denn neben dem Besitze der Sprache
muss dieselbe ein gemeiner Art-Begriff sein; und vor diesem
Besitze kann sie wohl kaum entstehn. Wir könnten also nur,
wie schon bemerkt (16), den Namen Art-Anschauung relativ
322für den niedrigen Art-Begriff setzen. Ganz eigentlich aber
wäre die Art-Anschauung beim Taubstummen zu suchen.

423. Worin besteht nun der Fortschritt, der aus der Stufe
der Warnehmung oder Anschauung höher führt? — Wir haben
bemerkt, wie sich dem Kinde zunächst der ganze Raum, in
dem es sich befindet, zu einer einzigen Anschauung gestaltet.
Auch für uns ist ja ein Zimmer, ein Haus eine Einheit. Diese
zerreißt für das Kind allmählich durch die Veränderungen, welche
vorgenommen werden. Der Tisch, der Anfangs zum Boden zu
gehören schien, wird verrückt; die Stühle wandern hin und her;
und so bilden sie selbständige Anschauungen. Der Baum mit
seinem Laubdache bildet eine Einheit. Blätter fallen ab, und
so entwickeln sich die Anschauungen Blatt, Zweig, Stamm,
Wurzel. Die so geteilten Anschauungen sind in ihrem Inhalte
klarer, reicher geworden. Es hat eine Analyse stattgefunden;
aber diese Analyse hat synthetischen Wert. Die Gesammt-Anschauung
vom Baume hat keineswegs schon den Inhalt in
sich, der erst durch jene Analyse bewusst wird. Es findet also
eine synthetische Bereicherung durch Erfahrung statt, indem
die Teile des Baumes als besondre Anschauungen bewusst
werden.

424. Schon dieser Fortschritt geht nicht ohne Hülfe der
Sprache vor sich. Der verwarloste Knabe, von dem wir oben
(224) gesprochen haben, kannte den Baum, aber nicht das Blatt.
Der weitere Fortschritt kann kein anderer sein, als dass nun
auch die kleinern Anschauungen gespalten werden. Denn Teilung
bereichert das Wissen; es ist Gliederung. Es könnte nun
eine weitere Anatomie eintreten; aber diese bleibt Sache der
Wissenschaft. Eine andere Sonderung tritt ein, nämlich die der
Qualitäten, des mannichfachen Inhaltes, den die Sinne durch
die Empfindung gewähren (23). Doch man begreift oder ahnt
sogleich, dass dies nicht wieder durch Zerreißung der Wirklichkeit
geschehen werde; denn diese führt niemals zu abstracten
Qualitäten, d. h. zu Qualitäten, welche nicht in einem ganzen
Complex zu einem Dinge gehörten. Es wird also eine bloß
geistige Abstraction sein, welche Weiß und Kalt als Qualitäten
des Schnees sowohl unter sich unterscheidet, als auch von dem
Dinge, an welchem sie haften, ablöst. Und dies wird sicherlich
nicht ohne das Wort geschehen können.323

425. Wir nannten diese Stufe der Seelenentwickelung, die
vorsprachliche Stufe der Warnehmung oder sinnlichen Anschauung:
die tierische. Wir haben schon einige Andeutungen
gefunden, dass sich die weitere Bildung der Seele nicht ohne
Sprache werde erzielen lassen, dass die Sprache auf dem Punkte,
zu dem unsere Betrachtung gelangt ist, werde hervorbrechen
müssen. So wollen wir denn nun auch hier untersuchen, wie
weit die tierische Seelenbildung gelangen mag.

c) Entwickelungsstufe der Tierseele.

426. Wir sagten, es gebe keine Anschauungen von Gattungen
und Arten, überhaupt von Allgemeinem; sondern Gegenstand
und Inhalt der anschauenden Seele sei das wirklich daseiende
Einzelne. Das Bewusstsein des Tieres würde demnach
auf die Kenntniss von Individuen beschränkt sein, ohne diese
zu Arten zusammenzufassen und Arten von einander zu unterscheiden.
Und ich denke, dem ist so. Der Hund unterscheidet
Hunde von einander, Menschen von einander, und unterscheidet
einen Hund von einem Menschen und beide von einem Pferde.
Aber was beweist das? dass er den Menschen als diese besondere
Art von Wesen, dass er das Pferd als diese besondere
Tierart auffasst, und der Art, zu welcher er selbst gehört, als
davon verschiedene Arten entgegensetzt? Keineswegs. Der Hund
unterscheidet einen Hund, ein Pferd und einen Menschen als
drei verschiedene Individuen, wie er verschiedene Hunde und
mehrere Menschen ebenfalls als besondere Individuen scheidet.
Er sieht freilich ganz unfehlbar, dass Mensch und Mensch,
Hund und Hund sich ähnlicher sind, als Mensch und Hund.
Aber alles das beweist noch nicht, dass er die Grade der Ähnlichkeit
nach Arten bestimmt, dass er die in bestimmten Grenzen
beharrenden Verschiedenheiten als Art zusammenfasst. Er
sieht nur Individuen, mehr oder weniger verschiedene. Bei
dieser Erkenntniss der größern Ähnlichkeit liegt eine unklare
Anschauung dem Bewusstsein zu Grunde; aber es tritt nicht
der Fall von 297 und 304 f. ein, sondern es verbleibt bei 302;
d. h. es wirkt kein Moment als wichtig zu einer Zusammenfassung
der Individuen zu einer Art, weil die Momente ungeschieden
bleiben. — Der Hund unterscheidet den Hund von
324der Hündin; unterscheidet er nun in seinem Bewusstsein wohl
auch ein männliches und weibliches Geschlecht? Ich kann es
nicht glauben. Der Hund unterscheidet auch ohne Zweifel den
Mann vom Weibe, den Stier von der Kuh. Wird er Hündin,
Kuh und Weib zusammenfassen als weiblichen Geschlechts?
Hund, Stier und Mann als männlichen? Wodurch bewiese er
denn, dass er das täte? Gerade rücksichtlich der Begattungsverhältnisse
entwickelt das Tier ganz wunderbare Seelenfähigkeiten.
Aber wir dürfen auch annehmen, dass, so oft es hier
den gewöhnlichen Kreis seiner Kraft überschreitet, ein bewusstloser
Instinct (Reflexbewegung) wirksam war. Weiß der Hund,
indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? von Erhaltung
seiner Art? weiß die Hündin, sie werde befruchtet, werde
schwanger werden und Junge werfen, die sie dann zu säugen
habe? Weiß sie von all dem in seinem causalen Zusammenhange,
oder auch nur als zeitliche Reihenfolge von Tätigkeiten
und Zuständen und Ereignissen? Das dürfte wohl Niemand
behaupten. Dann weiß aber auch der Hund nichts von Geschlechtern.
Er folgt in jedem Augenblicke dem unbewussten
Instinct, jetzt in der Begattung, später im Säugen, ohne Bewusstsein
vom Zusammenhange beider, ohne Nachdenken, warum
nicht auch der Nachbar säuge, warum er sich bei der Begattung
anders benehme — kurz ohne Unterscheidung der Geschlechter,
als eines Artbegriffes oder einer Artanschauung. In seinem
instinctiven Drange sucht der Hund ein Individuum, das geeignet
ist, seinen Drang zu stillen. Dass dieses oder jenes Indiduum
dazu geeignet sei, ein anderes nicht: das weiß er, wie er
weiß, was er zu essen hat, und was liegen zu lassen. — Er sieht
eine fest gewurzelte Pflanze, ein sich bewegendes Tier, einen
bewegten Stein: er scheidet sie von einander, wie dieses Individuum
von andern; er scheidet sie als verschiedene Etwas; er
scheidet sie nicht als artverschieden, als Pflanze, Tier und
Stein.

427. Der Hund erkennt entschieden Individuen immer
wieder, obwohl doch z. B. sein Herr nicht immer die gleiche
Warnehmung bietet, gleich aussieht. Hier wirkt ein Moment
oder einige Momente in schwingendem Zustande als absolut
wichtig und entscheidend, aber so entschieden ausschließend,
dass eine Zusammenfassung zu Arten unmöglich wird.325

428. Wir haben im Obigen schon die Ausdehnung der
Zeit als Gegenstand des Bewusstseins berührt. Der Hund hat
Gedächtniss; denn das heißt nichts weiter, als er hat eine Seele,
welche dauernder Sinneseindrücke fähig ist; der wiederholte
Sinneseindruck muss ihm also bekannt erscheinen. Er hat zwei
Begebenheiten hinter einander wargenommen-, beide Anschauungen
associiren sich. Nimmt er die erste von neuem war,
so steigt auch die zweite wieder in seinem Bewusstsein auf;
d. h. er erwartet sie. Er hat also eine Vergangenheit und eine
Zukunft, aber gewiss nur eine sehr unbestimmte. Die Vertrautheit
mit einer wiederholten Warnehmung, das Erwarten einer
kommen sollenden, ist noch kein Bewusstsein von der Ausdehnung
der Zeit. Das Tier mag ein Gedächtniss für eine ziemlich
lange Vergangenheit haben; aber ob es die verschiedene
Länge unterscheidet? schwerlich. Es erinnert sich des Vergangenen
überhaupt; aber es misst die Zeit nicht. Das Tier
soll öfter Langeweile haben; denn man sieht es gähnen! Als
wenn das Gähnen nicht ein Erzeugniss rein physischer Ursachen
sein könnte. Einen Unterschied zwischen Arbeit und
Müßiggang, Plackerei und Wohlleben empfindet die tierische
Seele in ihrem Gemeingefühl gewiss. Das Tier spielt und belustigt
sich, gerade ebenso in Folge rein physischer Nervenlebendigkeit,
wie es auch ruht, wenn es müde geworden ist.
Es hat auch geistige Gefühle. Es fühlt z. B. Freude über die
Rückkehr des lange abwesend gewesenen Herrn.

429. Zwischen Gedächtniss und Erinnerung ist ein Unterschied.
Die Erinnerung sucht im Gedächtnisse, wie sie auch
zeitliche Anordnung und Einteilung der im Gedächtnisse aufbewarten
Vergangenheit herstellt; denn Erinnerung ist nicht
bloß Aufbewarung des Vergangenen in der Seele, sondern
Bewusstsein von der Ausdehnung der abgeflossenen Zeit. Sie
ist darum auch noch mehr: Vergegenwärtigung der Vergangenheit,
und zwar eines bestimmten, absichtlich jetzt gesuchten
und zurückgeforderten Punktes der Vergangenheit. Diesen
Unterschied hat, irre ich nicht, schon Aristoteles gemacht und
dem Tiere Gedächtniss, aber nicht Erinnerung zugeschrieben.
Gedächtniss ist nichts als Vertrautheit mit dem gegenwärtigen
Eindrucke der Sinne; das ist kein Bewusstsein von
Vergangenheit, sondern nur eine modificirte Gegenwart. Und
326eben so ist Erwartung des nächsten Augenblickes noch kein
Bewusstsein einer Zukunft, sondern bloß Gegenwart, insofern
diese überhaupt ist. Denn streng genommen ist sie ja nur der
ewig vergangene und ewig kommende ausdehnungslose Zeitpunkt.
Was man im gewöhnlichen Leben Gegenwart nennt, ist ein
wenig Vergangenheit und ein wenig Zukunft; und das hat das
Tier. Es hat nur insofern diese beiden, als es Gegenwart hat,
d. h. als es lebt, und notwendig in der Zeit lebt, und zwar mit
Bewusstsein. Es hat Bewusstsein vom Gegenwärtigen, aber
nicht von der Gegenwart, dies nicht, weil nicht von Vergangenheit
und Zukunft; und endlich dies nicht, weil es sich das
Vergangene nicht vergegenwärtigt, weil es wohl Gedächtniss,
aber nicht Erinnerung hat. Herbart fragt (Sämmtl. Werke VI.
Psych. II. S. 211): „Kann es die jetzige Zeit unbemerkt fließen
lassen, um sich in dem Frühern einen Standpunkt zu wählen,
von wo es vorwärts und rückwärts schaue?” Schwerlich.

430. Das Tier lebt also nur in der Gegenwart, ohne Vergangenheit
und Zukunft, weil seine Seelenstufe die Anschauung
ist, d. h. Bewusstsein vom einzelnen, wirklichen und gegenwärtigen
Gegenstand. Es hat ewig wiederholte Anschauungen,
d. h. die Wirklichkeit bietet der Seele immer wieder denselben
Gegenstand dar; aber es hat keine erinnerte Anschauung,
d. h. Zurückrufung der gehabten Anschauung auf Befehl der
Seele. Es fehlt die Freiheit!

431. Die Anschauung, sagten wir ferner, sei Einheit, d. h.
unzergliedertes Bewusstsein von einem Dinge. Die Katze sieht
die gelbe Flamme, so oder so gestaltet, im Kamin und fühlt
zugleich die von ihr ausstrahlende Wärme, hört auch das
Knistern. Diese Empfindungen werden sich notwendig verbinden
und ihr die Anschauung des Feuers geben; d. h. die
Katze wird diese ganz stumpfe Summe mehrerer qualitativen
Empfindungserkenntnisse haben. Unsre Begriffe und unsre Anschauungen
sind noch etwas mehr, als die bloße Summe der
Merkmale; aber die tierische Anschauung ist gerade dies und
nichts anderes; und die Seele ist im anschauenden Bewusstsein
bestimmt als: die Empfindungsqualitäten summirend, d. h. dieselben
als vielfachen Zustand in sich zusammenhaltend. Hier
wird nicht der Gesichtseindruck vom Gefühlseindruck geschieden,
nicht innerhalb des ersten abermals Form und Farbe geschieden;
327sondern Form, Farbe, Tönen, Gefühl — alles zusammen bezieht
das Tier mehr auf sich selbst als einen vielfach bestimmten
Zustand. Das Bewusstsein von Objecten ist hier noch schwach.
Es hat das Object noch nicht zum Subject eines Urteils gemacht;
es hat nicht gesagt: die Flamme leuchtet, ist warm
u. s. w. Es trägt alle diese Urteile noch als unvollzogen in
summarischer Einheit in sich; d. h. es hat die Prädicate, die
Empfindungsqualitäten in sich, aber hat dazu noch gar kein
Subject; es fehlt das Ding. Die tierische Seele selbst vielmehr,
sie, welche die Prädikate in sich hat, ist noch dinglich bestimmt;
die Kategorie Ding ist noch nicht wirksam
geworden. Eben darum, weil die Kategorie Ding der tierischen
Anschauung noch fehlt, ist letztere auch noch nicht
Einheit, was sie nur durch jene Kategorie werden könnte, sondern
bloßes Zusammen. Dieser Mangel der Dingkategorie, der
scharfen Einheit, dieses stumpfe Beisammen der Empfindungen
und die dingliche Bestimmtheit der Seele spricht sich in dem
starren Blicke des Tieres aus; der Hund und auch noch der
stumpfe Mensch starrt in die Flamme. Im Tier finden wir die
reine Anschauung, welche im entwickelten Menschen allemal
schon in erhöhter Potenz erscheint. Wie der Gebildete anders
anschaut als der gaffende Ungebildete, so schaut auch der
Mensch anders an als das starre Tier.

432. Auf dem Standpunkte der Anschauung wird nicht
geurteilt; denn ihr Wesen ist Einheit. Urteilt denn nun also
das Tier nicht? Sicherlich nicht, insofern dadurch die Einheit
der Anschauung aufgehoben würde. Es lässt sich aber urteilen,
ohne die Anschauung in einzelne Qualitäten zu zerteilen —
Urteile, welche sich auf das Ganze der Anschauung erstrecken.
Wenn ein Tier eine Anschauung gehabt hat, die ihm von neuem
dargeboten wird, so wird es das wohl wissen und gewissermaßen
urteilen: dieses A = einem alten A. Es appercipirt A
mit A1 zu A2. Eben so wird es geschehen, wenn zwei Anschauungen
A und B mit einander in der Seele des Tieres verbunden
sind. Jetzt wiederhole sich A; das Tier wird nicht
bloß die Identität des A urteilen, sondern auch B erwarten, und
tritt B wirklich auf, von neuem ein Identitäts-Urteil bilden —
natürlich alles dies nur in sehr uneigentlichem Sinne. Solche
Identitäts-Urteile, in denen Subject und Prädicat identisch sind,
328zusammenfallen, können keine wirklichen Urteile erwecken.
Es findet Verschmelzung, keine Sonderung statt. Diese Verschmelzung
geht ruhig vor sich, sie erregt keine weitere Seelentätigkeit,
sondern gibt im Gegenteil das Gefühl der Befriedigung,
in welcher die Seele ruhig beharrt, bis sie von neuem gestört
wird.

433. Dieses gewissermaßen so anzusehende Identitätsurteil
war affirmativ; wie sollte aber das Tier nicht auch, in gleichem
Sinne, wie das affirmirende, das die Identität negirende Urteil
kennen? Die Kuh vor dem neuen Tor urteilt negirend. Sie
sieht die alte Straße, das alte Haus und erwartet nun die mit
jenen beiden Anschauungen associirte Anschauung des alten
Tores; sie findet aber dieses nicht. Die neue Warnehmung
verschmilzt nicht mit der Seele: das ist ihre Negation. War
Behaglichkeit und Zufriedenheit Ausdruck der tierischen Affirmation,
so ist der Ausdruck der tierischen Negation stumpfes
Staunen. Es kommt auch hier zu keinem Urteil, auch beim
Menschen in ähnlichem Falle nicht; man weiß eben nicht, was
man dazu sagen solle. Die ganze Erkenntniss des Tiers besteht
im Anerkennen und Verschmähen; beides geht nicht in der
Form des Urteils vor sich.

434. Ein Tier schließt auch und hat praktische Absichten.
Wenn z. B. ein Hund Hunger hat, so treibt ihn dieses Gefühl
zum Bellen, und man gibt ihm zu essen. Diese Reihe von
Anschauungen wird ihm bleiben; und wenn er wieder Hunger
hat, so wird er wieder bellen, damit man ihm wieder etwas zu
essen gebe. Solche Schlüsse, die innerhalb der Anschauung
bleiben, mag man den höhern Tieren in weitem Umfange zuschreiben.
Der Hund wird seinen Schluss inductiv erweitern:
man hat mir auf mein Bellen zu essen gegeben, man hat also
meinen Willen getan; jetzt will ich wieder etwas, z. B. dass
die Tür geöffnet werde; ich werde wieder bellen, und man wird
wieder meinen Willen tun. Solche Schlüsse nach Analogie und
Induction werden sicherlich meist noch durch einen rein physischen
Drang, Reflexbewegung, unterstützt werden.

435. Wir können nicht verwundert sein, oder müssen sogar
erwarten, bei den Tieren Keime der Sprache zu finden.
Denn ist die Erzeugung von Lauten eine Reflexbewegung, und
erfolgen solche reflectirte Bewegungen auf Gefühle und Empfindungen
329und höhere Seelentätigkeiten, so kann die Sprache
auch schon bei den Tieren sich finden, nur in einer angemessenen
Stufe. Das Gemeingefühl spricht sich lebendig im Geschrei
und Gesang der Tiere aus, wie alle besondern Gefühle der Lust
und Unlust. Wir nehmen hier das Gemeingefühl in dem oben
bestimmten Sinne, als die allgemeine Weise, wie sich die Seele
im Körper fühlt. Es ist also das Gefühls-Ich. Aber auch hier
tritt gerade da, wo wir auf das Einzelnste zu stoßen meinen,
ein Allgemeines, Gemeinsames hervor. Der Wettgesang der
Vögel ist eine wahre tierische Unterredung und bekundet die
gefühlte Einheit der Gattung. Ebenso eine Heerde Schafe, die
durch einander blöken, und der Hund, der seinem bellenden
Nachbar bellend antwortet (vgl. Urspr. d. Spr. S. 320 ff).

436. Hierauf, ich meine auf die tönenden Ausbrüche des
Gemeingefühls, lege ich ein größeres Gewicht, als auf das Winseln
des Hundes, der etwa vor einer geschlossenen Tür liegt
und einen vorübergehenden Menschen um Hülfe anzurufen scheint,
oder durch Bellen und Kratzen sich bemerklich machend die
im Zimmer befindlichen Personen um Eröffnung der Türe bittet.
Hier liegt freilich eine sehr vielfache Association von Anschauungnn
vor: Erwartung, dass wir Mitleid mit ihm haben,
d. h. ihn verstehen werden; was zugleich ausdrückt, dass er
wisse, wir haben die Kraft, die ihm fehle, die Macht ihm zu
helfen. Nur legt man gar zu leicht mehr hinein, als darin liegen
mag. Ob die Absicht zur Mitteilung vorhanden sei? das
scheint mir doch zweifelhaft. Der Hund winselt, und dies Winseln
ist Ausdruck seiner Verlegenheit, der aber unbeabsichtigt
erfolgt, auch wenn Niemand da ist, der ihn hören wird. Er
hat nicht die Absicht, das Winseln zur Sprache zu verwenden.
Er hat gesehen, dass Menschen die Tür öffnen; da er sie geöffnet
wünscht, ist es natürlich, dass er an die Anschauung
eines Menschen die Anschauung der sich öffnenden Türe knüpft.
Er erwartet; aber er bittet nicht, er spricht nicht. Sein Kratzen
an der Türe ist ebenfalls nicht ein Versuch, seinen Wunsch anzudeuten,
sondern ein Arbeiten, ein Bemühen, die Türe zu
öffnen, und da sie in Folge seines Kratzens öfter geöffnet worden
ist, so hält er sein Kratzen für ein wirkliches Eröffnungsmittel;
es ist ihm mehr ein Schlüssel und Drücker, als eine
Sprache. Und das gilt sogar vom Bellen des Hundes und vom
330Schreien der Kinder. Herbart scheint sehr recht zu haben,
wenn er bemerkt (Psychologie §. 155. Sämmtl. W. VI, S. 401):
„Dass in diesen ersten Anfängen sich alles aus Gefühl und
Beobachtung” (Anschauung würden wir sagen, indem wir, wie
oben bemerkt, Beobachtung nennen möchten, was Herbart Anschauung
nennt), „ohne Willkür, zusammensetzt, sieht man
deutlich an eigensinnigen Kindern, die durch Schreien ihre
Umgebung regieren; ja selbst an Tieren, denen oft auf ihre
klagende Stimme gewährt worden ist, was sie begehrten. Bei
diesen wie bei jenen werden unverkennbar die Töne immer gebieterischer,
je häufiger sie erfahren haben, dass sie etwas dadurch
ausrichten. Ihre Laute werden für sie ein Organ
des Handelns, so unnatürlich dies auch ist” — d. h. uns
scheint; an sich ist es nicht unnatürlich, da der Hund und das
Kind den innern Zusammenhang von Ursache und Wirkung
nicht einsehen. Auf diesem anschauenden Standpunkte gibt es
bloß Verbindung zweier Ereignisse in der Anschauung und die
Erwartung des unfehlbaren Eintretens des zweiten, wenn das
erste eingetreten ist. „Die Complexion zwischen dem Schreien
und dem beobachteten guten Erfolge wirkt nach dem allgemeinen
Gange des psychologischen Mechanismus dahin, dass, sobald das
Beobachtete zum Begehrten wird, sich die Stimme erhebt, und
zwar nach häufiger Wiederholung endlich mit der Zuversicht
des Gelingens, wodurch der Wunsch in den Willen, die Bitte
in den Befehl übergeht” — d. h. abermals, wie es uns scheint.
Denn von Bitten und Wünschen kann ja nicht die Rede sein
da, wo man „ein Organ des Handelns” zu bewegen glaubt, wo
man zu arbeiten meint, wie Kind und Hund bei ihrem Schreien
sich einbilden. Der Übergang vom Winseln zum lauten Schreien
und Bellen ist Folge des Verdrusses, dass der gewünschte Erfolg
noch nicht eingetreten ist; man fängt an, anstrengender,
kräftiger zu arbeiten. Hier fehlt durchaus das charakteristische
Element der Sprache: theoretische Mitteilung.

437. Wir glauben im Vorstehenden der tierischen Seele
weder zugeschrieben zu haben, was sie nicht hat, noch abgesprochen,
was sie besitzt. In beide Fehler verfällt man gar zu
leicht. Da wir denn doch immer bloß Wirkungen, tierisches
Handeln sehen, so schiebt man dem oft solche Motive unter,
wie sie den Menschen beseelen, wenn er dergleichen tut. Man
331übersieht hierbei ein Doppeltes: erstlich, dass diesen tierischen
Wirkungen gar nicht notwendig dieselbe Ursache zu Grunde zu
liegen braucht, als der entsprechenden menschlichen; und zweitens,
dass die tierische und menschliche Handlungsweise wohl
vielfältige Analogien und Ähnlichkeiten bieten, aber keine Gleichheit
zeigen; dass vielmehr bei genauerer Betrachtung bedeutende
Unterschiede hervortreten, die man unbeachtet lässt. Wir haben
auf solche Unterschiede aufmerksam gemacht und erkannt, dass
die menschliche Anschauung doch noch eine ganz andere ist,
als die tierische; wir haben den allgemeinen bezeichnenden Unterschied
darin gefunden, dass nur der menschlichen Anschauung
die Kategorie des Dinges zu Grunde liege, nicht der tierischen;
dass also diese nur ein Zusammen, jene aber Einheit sei. In
diesem Unterschiede liegt aber schon eine Leistung der Sprache.
Ehe wir jedoch zeigen können, wie die Sprache dies leiste,
fragen wir: warum entspringt die Sprache aus den menschlichen
Warnehmungen und nicht auch aus den tierischen? was zu
einer nähern Vergleichung der menschlichen und tierischen
Seele führt.

d) Vergleichung der Menschen- und Tierseele.

438. Man hat die Vergleichung zwischen Tier und Mensch
bisher gewöhnlich in sehr ungehöriger Weise angestellt. Die
Sache scheint mir indeß so einleuchtend und gewiss, dass ich
glauben muss, hätte man einerseits die Verschiedenheit zwischen
Mensch und Tier, die Vorzüge des Menschen vor diesem nicht
nur zu sehr übertrieben, sondern auch am völlig unrechten Orte
gesucht, man hätte sich andererseits durch das Streben des
Widerspruchs niemals können verleiten lassen, in der Gleichstellung
von Mensch und Tier so weit zu gehen, um jeden
wesentlichen, principiellen Unterschied zu läugnen. Beiderseits
hat man aber denselben Fehler gemacht. Erstererseits behauptete
man, der Unterschied liege in den sogenannten höhern Seelenfähigkeiten,
welche der Mensch als Überschuss zu und neben
den untern im Vorzuge vor dem Tiere besitze, welches bloß
die untern Seelenfähigkeiten habe. Hiergegen bemerkte nun
andrerseits Herbart — denn ich rede hier nicht vom Heroismus
der Leichtfertigkeit; einem Manne wie Herbart aber merkt
332man es an, dass nur sein Widerstand gegen eine Ansicht, die
alle Zweige der Philosophie verdorben hatte, ihn dazu führen
konnte, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu übersehen
— Herbart also, sage ich, bemerkt gegen obige Ansicht
mit Recht, dass das, was man unter den höheren Seelenfähigkeiten
verstehe, gar nicht dem Menschen angeborne besondere
Kräfte seien, sondern ein im Laufe der Zeitalter vom Menschengeschlechte
erworbenes, durch Überlieferung von einem Geschlechte
zum andern fortgepflanztes und immer neu bereichertes
Gut der Cultur sei. Dieser Erwerb müsse abgezogen werden,
wenn die Seele des Menschen mit der des Tieres verglichen
werden solle; denn er sei nicht einer höhern Kraft der Seele zu
verdanken, sondern dem höher gebildeten menschlichen Leibe,
nämlich seiner kunstfähigen Hand und seinen gefügigen Sprachorganen.
Abgesehen von diesem leiblichen Vorzuge, sei die
menschliche Seele, wie die tierische; diese würde gleiche Cultur
erreichen, hätte ihr die Vorsehung Hände und Sprache gegeben.
Denn übrigens sei beim Tiere alles, wie beim Menschen, und
man könne beobachten, wie die Tierseele nach Hand und Sprache
gewissermaßen strebe, d. h. Pfote und Stimme als Hand und
Sprache zu verwenden strebe, dabei aber vom Leibe im Stiche
gelassen werde.

439. Beide Ansichten also sehen den Unterschied zwischen
Mensch und Tier nur in der weitern Bildung. Und dies halten
wir für falsch. Der Unterschied zeigt sich überall, schon beim
ersten Beginn der Seelenwirksamkeit, schon im ersten Auftreten
derselben. Wenn die Sprache von jeher für das galt, was diesen
Unterschied ausmache und begründe: so kommt es auch
wohl der Sprachwissenschaft zu, denselben festzustellen, sorgfaltig
darzulegen, die Würde der Menschheit zu behaupten, ohne in
haltlose Übertreibungen zu geraten. Der Unterschied mag nicht
so groß sein, wie man sich ihn oft eingebildet hat: er bleibt
immerhin groß genug.

440. Wir gründen unsere Ansicht vom Vorzuge des Menschen
auf folgenden einfachen Schluss. Zwei gleichartige und
gleich kräftige Ursachen müssen auch gleichartige und gleich
kräftige Wirkungen hervorbringen; finden wir nun letztere in
Wirklichkeit nicht gegeben, so dürfen wir auch erstere nicht
annehmen, müssen im Gegenteil aus der Verschiedenheit zweier
333Wirkungen auf eine derselben entsprechende Verschiedenheit
der Ursachen schließen: es müssten denn die Hindernisse nachgewiesen
werden, welche die eine Ursache verhindert haben,
ihre volle Kraft wirken zu lassen zur Hervorbringung dessen,
was in ihr lag. Nun liegt es als Tatsache vor, dass das Tier
keine menschliche Welt gründen konnte; also kann es auch
keine der menschlichen Seele gleiche Seele haben. Behauptet
man diese Gleichheit dennoch, so hat man zu zeigen, worin das
Hinderniss liege, welches die tierische Seele zurückhalten solle,
gleich der menschlichen zu wirken. Dieses Hinderniss kann
nicht in zufälligen Umständen liegen, welche dem tierischen
Wesen äußerlich wären; denn solche könnten unmöglich einen
seit Beginn der Schöpfung ununterbrochen dauernden und ausnahmslos
wirksamen Einfluss geübt haben. Wenn aber dem
tierischen Wesen, als solchem, angehörende Verhältnisse als
hemmend angeführt werden, so ist damit das niedrigere Wesen
der Tierseele anerkannt. Hier sagt man nun aber: nicht in der
tierischen Seele liegt das Hinderniss, sondern lediglich im tierischen
Leibe; und nur durch die höhere Organisation des Leibes
unterscheide sich ursprünglich der Mensch von dem Tiere,
während die Seelen beider zu einer Art gehören (Herbart,
Psychologie §. 130.).

441. Wenn man aber auch nicht Materialist ist, d. h.
wenn man nicht meint, dass die Seelentätigkeit bloß Erzeugniss
der Wirksamkeit animalisch-organischer Materie sei — denn
dann schlösse ja der Vorzug des Leibes den Vorzug der Seele
schon in sich — : auch dann muss man doch ein inniges wechselseitiges
Auf-einander-wirken zwischen Seele und Leib annehmen,
wie wir das täglich an uns und andern auch beobachten können;
und muss ferner zugestehen, dass die Seele auch auf die Schöpfung
selbst, auf die Formung und Gestaltung des Leibes einen absolut
bestimmenden Einfluss übe (Lotze, Psych. S. 129.). Sieht
man in der Welt nichts als ein notwendiges Wirken blinder
Ursachen ohne regierenden Zweck, so sind alle Schöpfungen
Zufall, und die ungeheuerlichste Erscheinung ist so gerechtfertigt,
als die in sich übereinstimmendste — insofern dann noch
von Rechtfertigung die Rede sein kann. Glaubt man aber, die
Welt sei nach Zwecken geordnet: — und wie könnte man
dann die weitere Annahme eines allweisen, allgütigen und allmächtigen
334Schöpfers abweisen? — so ist die Vereinigung der
Seele, wie sie im menschlichen Leibe ist, mit dem Leibe eines
Polypen, und immerhin mit dem Leibe eines Hundes, Pferdes,
Elephanten, ja eines Affen, eine phantastische, ungeheuerliche
Annahme, welche der Anerkennung des Zweckes in der Welt
widerspricht und den Glauben an den Schöpfer verhöhnt.

442. Lassen wir diese teleologische Betrachtung außer Spiel,
so bleibt dennoch jede Ansicht, welche voraussetzt, es könne
eine Seele an einen ihr unangemessenen Leib gebunden sein,
an einen Leib, der ihren Bestrebungen nicht das genügende
Organ gebe, völlig unstatthaft. Die Gesetze der Causalität
können nie verletzt sein. Ist also die Seele, irgendwie gedacht,
ein Factor bei der Bildung des Leibes (und wie könnte sie das
nicht sein?), so ist mit jedem Vorzuge des Körpers zugleich
ein Vorzug der Seele gesetzt. Wenn der Anatom noch nicht
einmal einen Löwenkopf mit einem Eselsrumpfe vereinigen kann,
wie will der Psycholog eine menschliche Seele mit einem tierischen
Leibe verbinden? Die Seele also, welche nicht die
Kraft hatte, sich eine menschliche Hand, Sprachorgane, und
überhaupt einen menschlichen Leib zu schaffen, ist auch keine
menschliche Seele, und sie hat sich jene Organe nicht geschaffen,
weil sie kein Bedürfniss derselben hat, keinen Drang danach
fühlt. Hätte sie dieses Bedürfniss gehabt, so wäre es auch an
sich genügend gewesen, sich Befriedigung zu schaffen; jener
Drang, fände er statt, er würde an sich selbst zur Schöpferkraft
geworden sein und jene Organe gebildet haben, wie sie
ihm genügen. Der Leib ist das Zeichen der Seele (so möchte
ich ein altes mythisches Wortspiel, σῶμα= σῆμα, modern umdeuten);
so viel vermag die Seele, wie sie durch den Leib
vermag.

443. So viel gegen Herbart über die höhere Organisation
des menschlichen Leibes überhaupt, welche uns eine höhere
Organisation der menschlichen Seele verrät. Was nun die
Sprachwerkzeuge insbesondere betrifft, so führt Herbart (Psychol.
§. 130) Rudolphi's Behauptung an: „mechanische Hindernisse
sind gewiss nicht Schuld daran, dass die Tiere keine Sprache
besitzen”, und missbilligt dies; denn nur mechanische, keine
psychischen Hindernisse könnten hier vorliegen. Er sagt: „Wenn
man den Hund bellen, das Pferd wiehern hört, so kann man
335wohl nicht auf den Gedanken kommen, dass diesen sonst klugen
Tieren das Sprechen mechanisch möglich wäre; vielmehr liegt
die Erwartung nahe, sie würden, wenn ihre Stimmritze nur
einige Gelenkigkeit besäße, daraus etwas machen, das ihrem
übrigen Betragen angemessen wäre, und hierin das Hülfsmittel
zwar nicht einer menschlichen, doch einer höhern Ausbildung
finden, als sie jetzt besitzen”. Diese Tiere, antworten wir, haben
wirklich etwas aus ihrer Stimmritze gemacht, „das ihrem übrigen
Betragen angemessen” ist. Die Stimmritze des Hundes ist
doch so ungelenk gerade nicht. In seinem Winseln, Bellen und
Heulen liegt eine ganze Scala von Tönen; und Zunge und Kiefer
sind beweglich genug. Wie? sagt Herbart, die Hünde, „die
auf so mancherlei Weise an menschlichen Angelegenheiten Teil
nehmen; die dem Menschen so gern Folgsamkeit beweisen, und
ihm Hülfe leisten? Also während Papageien und Elstern auf
menschliche Töne merken, und sie nachahmen, ohne von dem,
was der Mensch wünscht und will, das Geringste zu fassen,
kann der Hund, des Jägers und des Hirten treuer und geschickter
Gehülfe, nur bellen und heulen, — oder vielmehr, er könnte
sprechen, und versucht es doch niemals auch nur im Geringsten?”
Er spricht vielmehr wirklich, ist die Antwort, und versucht
nicht bloß; er drückt uns durch sein Bellen, Heulen, Winseln
in sehr verständlicher und durchaus genügender Weise seine
„Teilnahme an menschlichen Angelegenheiten, seine Folgsamkeit”,
auch seine Gefühlszustände aus — von ihm kann nicht
mehr verlangt werden.

444. Dass die Haustiere die menschliche Sprache auch im
entferntesten nicht nachahmen, scheint allerdings in einem physischen
Mangel seinen Grund zu haben, aber weniger vielleicht
in ungefügigen Sprachwerkzeugen, als in mangelhaftem Gehör,
welches für die Unterschiede der Articulation keinen Sinn hat.
Hier wird man nun auch wieder ausrufen: Wie, der Hund, der
ein so feines Gehör hat! dem uusere Musik unerträglich ist,
weil er aus dem, was uns vollste Harmonie zu sein scheint,
schreiendste Disharmonie vernimmt! Doch das ist auch wieder
so einer von den völlig unbegründeten Schlüssen, die wir nach
Analogie von uns auf das Tier machen. Weil wir aufschreien,
wenn wir eine Disharmonie hören, meinen wir, der Hund, der
bei der Musik heult, müsse dies auch bloß darum tun, weil er
336eine unerträgliche Disharmonie vernimmt. Hätte der Hund
einen so zarten Gehörsnerven, er würde sterben vor seinem
eigenen ohrzerreißenden, Mark und Bein erschütternden Geheul *)32.

445. Die Hauptsache also ist, dass die Tiere gerade so
viel Sprache haben, als ihrem ganzen Wesen und ihren Bedürfnissen
angemessen ist: Sprache des Gefühls und der Anschauung
(435. 436). Freudig bellend springt der Hund, der spazieren
geführt wird: Ausdruck des Gemeingefühls; jämmerlich heult
der geschlagene, winselt der bedrängte: Ausdruck des Gefühls;
die Tiere stoßen Töne aus zum Anlocken und zum Warnen:
Ausdruck ihrer Anschauungen. In letzterem Falle ist in einem
gewissen Sinne, wie wir oben gesehen haben, schon Absichtlichkeit
und zwar Absicht auf Mitteilung vorhanden. Jetzt frage
man sich: was sollen denn die Tiere noch sprechen können?
was haben sie noch zu sagen? Soll das Tier urteilen in der
Form einer Verbindung von Subject und Prädicat? soll es in
gleicher Form seine Chronik erzählen? — das Tier, von dem
Herbart zugesteht (a. a. O. S. 211), dass es nur eine kurze
Vergangenheit und „etwas” Zukunft hat, nämlich so viel als
zwischen der Begierde und ihrer Befriedigung liegt! Dazwischen
liegt nun aber eben wohl kaum auch nur etwas.

446. Herbart bemerkt sehr richtig (S. 213), „dass man
die großen Unterschiede, die aus dem Mehr oder Weniger, in
Rücksicht des Vorrats und der Verbindung der Vorstellungen,
entstehen müssen, niemals” (vor ihm) „ernstlich genug erwogen
habe; und zudem”, sagt er, „bin ich völlig überzeugt, dass man
viel zu voreilig das Selbsbewusstsein, die sittlichen Gesetze, die
Begriffe vom Unendlichen und von der Gottheit, nebst andern
ähnlichen, für etwas Ursprüngliches, nicht weiter Abzuleitendes
gehalten, und dadurch die Speculation nicht gefördert, sondern
beschränkt und gehindert habe, ihr Werk gehörig durchzuführen.
Denn es ist reiner Verlust für die Speculation, wenn man
das zu Erklärende absolut hinstellt, und es der Frage, warum
es also sei, und wie es mit Anderem zusammenhänge, ohne
weiteres durch die Behauptung entzieht, es sei nun einmal so
und nicht anders”. Hier sieht man klar, wogegen Herbart mit
337allem Rechte ankämpft. Aber er hat hierbei ein wenig seine
Besonnenheit, die ihn sonst so umsichtig macht, verloren. So
heißt es nun weiter auf derselben Seite: „Jene Begriffe vom
Ich, vom Unendlichen u. s. w, können nicht die Menschheit
allgemein charakterisiren. Das Kind in seiner frühesten Periode
hat sie nicht; der Wilde kommt ihnen vielleicht nicht so nahe
als manches Tier”. — Ich möchte wohl wissen, wann und wo
wir einen wilden Menschenstamm angetroffen hätten, der zu
einer so betrübenden Behauptung auch nur die mindeste Veranlassung
hätte geben können. Es gibt keine einzige Sprache,
die nicht ein Wort für Ich hätte; und ihren Benennungen der
Dinge liegt allemal im Bewusstsein die Kategorie des Dinges
zu Grunde. Wer hat jemals beim klügsten Tiere ein Ich und
ein Ding aus sichern Anzeigen zu erschliessen vermocht? Das
Tier unterscheidet sich von dem, was es frisst, und von dem
Individuum, mit dem es um den Fraß streitet. Wie weit ist
von da zum Ich des wildesten Wilden! Während man in die
Tiere auf die unkritischeste Weise alles Mögliche hinein deutet,
verhält man sich den Wilden gegenüber rein skeptisch und
stellt sich dieselben viel zu wild vor. Das Ich des Wilden ist
von unserm gewöhnlichen Ich um kein Haar breit verschieden,
wenn es auch kein Fichtesches Ich ist. Und wenn das Kind
sich bei seinem Namen und als dritte Person nennt: Karl will
essen
, statt: ich will; so liegt auch hierin schon mehr, als der
klügste Hund je erreicht, wiewohl es noch gar kein Ich ist. —
„„Aber, sagt man””; (und sagen auch wir) „„die Anlage dazu
ist doch vorhanden!”” — „Das sagt man”, entgegnet Herbart,
„nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik werde so geduldig
sein, sich die ursprünglichen Anlagen gefallen zu lassen. Wenn
sie nun nicht so geduldig ist, so wird man es schon darauf
müssen ankommen lassen, ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie
dies alles als Producte einer Veredlung erklären könne,
zu welcher der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel
gelangt, die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind
zugeteilt worden”. — Bettelgunst wäre sie, wenn sie sich bloß
auf Äußeres erstreckte, auf Hand und Fuß, und nicht auch auf
die innere Organisation der Seele selbst; unnütz wäre sie, wenn
sich nicht die Menschen-Seele derselben zu bedienen die Fähigkeit
hätte; und grausam wäre es, sie der Tier-Seele zu versagen,
338wenn auch diese die Fähigkeit hätte, solche Gunst zu benutzen.
„Die ursprünglichen Anlagen” sind es, wogegen sich Herbart
wendet. Wenn wir aber auch eine ursprünglich angelegte Vernunft,
ein ursprüngliches Bewusstsein vom reinen Ich, eine ursprüngliche
Fähigkeit zur intellectualen, absoluten Anschauung
weglassen: so setzt doch die „Veredlung”, deren nur der Mensch
fähig ist, eine Möglichkeit, Fähigkeit, Bedingungen, kurz eine
Anlage voraus; und alle diese Bedingungen sollten lediglich
mit dem Leibe gegeben sein ? Die Seele des Menschen sollte nicht
in sich selbst die allererste und allerkräftigste Bedingung sein?
— Nun auch einmal eine Tatsache, den vielen schönen Hundegeschichten
gegenüber. Wer ist denn wohl besser gestellt,
leiblich betrachtet, ein Hund im Vollbesitze seiner Sinne, oder
ein blindes, taubes, geruch- und geschmackloses Kind? Den
Tastsinn hatte es; aber was ist die Hand gegen das Auge!
Nun also, Hunde und Bären haben höchstens tanzen gelernt;
das blinde und taube Kind Laura Bridgman *)33 aber ist Lehrerin
einer Blinden-Anstalt geworden, und wir haben von ihr einen
schön geschriebenen und mit reizender Naivetät abgefassten
Brief an die schwedische Schriftstellerin Friederike Bremer gesehen.
Das macht, weil sie zwar noch weniger als einen tierischen
Leib, aber eine menschliche Seele hat. (Über verschiedene
Arten von Seelen, Lotze, Psych. S. 138).

447. Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem
Tiere ist allerdings ursprünglich klein und an die leibliche
höhere Organisation geknüpft; aber er wächst lawinenartig; und
diese Fähigkeit der menschlichen Seele, sich dergestalt zu entwickeln,
dass sie durch ihre Wirkungen sich nie verzehrt, sondern
an Inhalt und Kraft gewinnt, gehört zu ihrer innersten
Natur.

Betrachten wir nun den ursprünglichen, vom Schöpfer gegebenen
Unterschied etwas näher. Wir können hierbei nicht
zu fein, nicht zu haarscharf sein. Es steht zu erwarten, dass wir
hier nur auf feine Schattirungsverschiedenheiten stoßen, welche
aber an Ausdehnung und Wert bald so bedeutend anwachsen,
339dass es schwer wird, das endliche Ergebniss auf den ärmlichen
Anfang zurückzuführen.

448. Was zunächst den physischen Unterschied zwischen
dem menschlichen und dem tierischen Leibe betrifft, so ist er,
so weit wir heute sehen, sehr gering. Eine Menge Unterschiede,
die man ehemals annahm, haben sich durch die Untersuchungen
der neuern Anatomie als unhaltbar gezeigt, so dass man sich
berechtigt fühlt, zu behaupten, dass in allen wesentlichen Verhältnissen
der Geburt und des leiblichen Lebens Mensch und
Tier eben nicht mehr verschieden sind, als die Säugetiere unter
sich. Am liebsten sähe man einen Vorzug des Menschen rücksichtlich
des Gehirns. Doch nach welcher Richtung man auch
die Vergleichung anstellen möge, ob man Gewicht oder Ausdehnung
oder Form vergleiche, absolut oder relativ, das Centralorgan
in Verhältniss zu den Nerven oder zum ganzen Körper
betrachtend — es ist noch nicht gelungen, einen consequenten
Maßstab der Wertschätzung aufzufinden. Dazu dürfte
es schwerlich genügen, nur ein einfaches Verhältniss zu Rate
zu ziehen; es greifen mehrere Punkte mannichfach ineinander,
und mannichfache Beziehungen wollen berücksichtigt sein. Indessen
andererseits, in welcher Weise man auch die Gehirne
vergleichen mag, immer nimmt der Mensch eine ausgezeichnete
Stelle dabei ein. Das Wesentlichste aber wird wohl nicht in
allen diesen Beziehungen, sondern in der innern Structur liegen
(Lange, Gesch. d. Materialism. II S. 359 ff). Indessen wir
kennen die Wirkungsweise des Gehirns noch sehr wenig. Hier
dürfen wir von der Zukunft noch mancherlei Aufschlüsse erwarten.

449. Ferner die aufrechte Stellung. In ihr liegt eine Befreiung
vom Erdboden. Das Streben nach ihr kann man durch
das ganze Tierreich verfolgen. Je niedriger die Entwicklungsstufe
des tierischen Leibes, desto mehr ist die Gestalt der Erde
zugewendet, und die untersten Stufen sind sogar, wie die Pflanzen,
am Boden angeheftet. Aufwärts steigend wird der Kopf
immer höher und damit beweglicher, freier. Den Flug der Insecten
und Vögel kann man als Bild der abstracten Befreiung
ansehen. So hoch sie auch fliegen, sie gehören doch der Erde
an. Den Fuß auf der Erde, das Haupt frei und, fähig sich von
ihr abzuwenden: das ist das Bild der wirklichen Freiheit, der
Herschaft; und so ist es die Stellung des Menschen.340

450. Wir wollen jedoch hier nicht Teleologie und Ästhetik
treiben; rein causale Betrachtung wollen wir anstellen. Es ist
also näher zu berücksichtigen, dass die Weise, wie der Kopf
auf dem Halse sitzt, beim Menschen verschieden ist von der
Weise beim Tiere. Man beachte aufrecht stehende Hunde und
Affen: der Kopf fällt immer nach vorn. Die Befestigungsstelle
des Kopfes auf dem Halse (das Hinterhauptsloch) ist bei diesen
und allen vierfüßigen Tieren mehr am Hinterkopfe, während sie
beim Menschen in der Mitte des Kopfes sitzt. So tront der
Kopf gerade auf dem Körper und hat dabei eine große Freiheit,
sich rechts und links zu drehen, vorwärts hinab und rückwärts
hinauf zu ziehen. So ist der menschliche Kopf ungleich freier
als der tierische. Der Kopf aber, der Sitz der höhern Organe,
muss durch seine größere Beweglichkeit mehr und genauere
Empfindungen erlangen und diese sorgfältiger combiniren, als
das Tier. (Über die Wichtigkeit der Bewegung 411).

451. Ein Tuch, das an allen vier Ecken angeheftet ist,
flattert weniger frei als ein anderes, das nur an zwei Stellen
befestigt ist; oder vielmehr nur dieses flattert frei in der Luft,
jenes gar nicht. Der tierische Leib ist ebenso mit seinen vier
Füßen an den Boden angeheftet, während der menschliche frei
in die Luft hinein ragt. Der fördernde Einfluss dieser freiem
Beweglichkeit durch die Bewegungsgefühle auf die Intellectualität
ist unberechenbar. Aber auch eine mannichfachere Berührung
mit den Elementen ist durch diese Einrichtung ermöglicht.

452. Hierzu kommen noch zwei andere Punkte, die sich
beide auf den Tastsinn beziehen. Der tierische Leib ist mit
einer dicken stark behaarten Haut überzogen: der menschliche
Leib hat eine viel zartere, mit dünnen Haaren besetzte und
vielen Tastorganen versehene Haut. Hierdurch tritt der Mensch
in eine viel lebendigere Berührung mit der Außenwelt. Wo
das Tier nur dumpf fühlt, gewinnt der Mensch eine bestimmte
Empfindungserkenntniss. Unmöglich kann das Tier die Temperatur
der Luft so empfinden, wie wir.

453. Viel wichtiger aber noch und die eigentliche Spitze und
das Ziel der genannten beiden Einrichtungen des menschlichen
Körpers, nämlich der aufrechten Stellung und der zarten Oberhaut,
ist die Hand, oder der ganze Arm mit der Hand. Hier
erkennt man in wundervoller Weise die Ökonomie, die Sparsamkeit
341der Natur. Ohne dem Menschen noch andere Glieder
zu geben, als dem Tiere, hat sie ihm dennoch mehr Glieder
gegeben. Denn indem sie die menschliche Gestalt so einrichtete,
dass zwei Füße denselben Dienst verrichten, welchen dem
Tiere vier Füße leisten, konnte sie die beiden andern Füße
des Menschen zu Armen mit Händen umgestalten. Diese Glieder
sind die freiesten des menschlichen Körpers; sie bewegen
sich nicht bloß nach allen sechs Seiten, vorwärts, rückwärts,
rechts, links, nach oben und nach unten, sondern diese Bewegungen
werden auch noch allseitig combinirt. An die Beweglichkeit
der Hand, des Daumens, brauche ich nur zu erinnern.
Dazu ist die Haut der Finger, besonders der Spitzen, mit dichtgedrängten
kleinen Tastorganen übersäet. Solche Glieder hätten
schon viel nützen können, selbst wenn sie immer noch zum
Gehen verwendet werden müssten. Die aufrechte Stellung aber,
indem sie dieselben vom Boden losreißt, erhebt sie in die ihrer
würdige Sphäre der Freiheit. Nun wird Hand und Arm das
Werkzeug der Werkzeuge und ein besonderer Sinn zur Erkenntniss
von Raumverhältnissen, durch welchen das Auge unterstützt
wird. Die räumlichen Anschauungen des Menschen müssen
ungleich entwickelter sein, als die des Tieres. Die Raumanschauungen
bilden aber die Grundlage aller Seelenerkenntniss.
Diese Grundlage muss beim Menschen, durch die freiere Beweglichkeit
des ganzen Körpers, besonders des Kopfes, durch
die größere Feinheit des Gefühlssinnes über der ganzen Oberhaut
und endlich durch die Hand, viel breiter, viel feiner durchgearbeitet,
viel inhaltsreicher und bestimmter sein. Denn alle
Raumbestimmungen erhalten ihr Maß und ihren Gesichtspunkt
am eigenen Leibe. Durch die aufrechte Stellung aber, durch
die Beweglichkeit des Rumpfes, des Kopfes und der Glieder
gegen einander und die dadurch erzeugten Bewegungsgefühle,
Tast- und Gesichtsempfindungen, dadurch also, dass wir unsern
Leib fast völlig überschauen und auch ihn fast an allen Punkten
betasten können, erlangen wir eine so genaue Local-Kenntniss
unseres Leibes, wie das Tier sie nicht haben kann. An unserm
Leibe lernen wir, den Raum setzen und messen. — Auch ist der
Mensch vermöge des Armes mit der Hand der einzige Arbeiter
auf Erden. Wenn die Hand das Werkzeug der Werkzeuge
heißt, so bedeutet das nicht, sie sei das beste Werkzeug; sondern
342sie ist die Schöpferin aller Werkzeuge, und nur der Mensch
kennt dieselben, kein Tier. So wird die Hand geschont, veredelt,
und doch ihre Kraft ins Unberechenbare vermehrt (denn
die Werkzeuge schaffen endlich Maschinen). Wie aber fördert
die Arbeit die Erkenntniss! Arbeiten ist ein wahres Experimentiren.

454. Das Tier ist zum Teil stärker als der Mensch. Aber
was diesem an Größe der Kraft abgeht, das ersetzt er reichlich,
das überbietet er vielfach durch die Qualität, durch die innere
Vortrefflichkeit. Das Tier hat einen schärfern Geruch, d. h.
es riecht, wo der Mensch nichts empfindet; aber für die verschiedenen
Arten von Wohlgerüchen scheint es weniger empfänglich.
Doch hierin könnte man einen reinen Luxus des
Menschen sehen, der vielleicht auch nicht dem Urzustande angehört.
Das Tier scheint aber nicht bloß zu riechen, wo der
Mensch nichts empfindet, sondern auch durch den Geruch unterscheidende
Erkenntnisse zu erlangen, die dem Menschen abgehen.
Hier möchte ich einen unverkennbaren Vorteil des
Tieres willig anerkennen. Auch ist beim Hunde z. B. das
Riechorgan und der unmittelbar zu diesem Organ gehörende
Teil des Gehirns auffallend mehr entwickelt, innerlich reicher,
sorgfältiger organisirt, als beim Menschen. Die Absicht der
Natur ist nicht unklar. Zum Aufsuchen der Nahrung und zum
Ersatz mancher andern, dem Tiere für seine Selbsterhaltung
notwendigen Erkenntnisse unterstützte die Natur den Instinct
durch einen nicht bloß scharfen, sondern auch fein unterscheidenden
Geruch. — Geschmack dagegen kann das Tier nur
sehr wenig haben, wie aus der Einfachheit seiner Nahrungsmittel
hervorgeht. Und sind wir wohl sicher, dass es überhaupt
einen Geschmackssinn habe? Der Geruch scheint ihm denselben
völlig zu ersetzen. — Die drei wichtigsten, eigentlich theoretischen,
Erkenntniss verschaffenden Sinne sind: Gesicht, Gehör
und Getast. Von letzterm war schon die Rede: das Tier hat
ihn im schwächsten, der Mensch im höchsten Grade. Dagegen
scheint das Tier rücksichtlich der beiden andern, wie beim
Geruch, im Vortheil: es sieht besser und hört besser. Hier
aber tritt nun unsere obige Unterscheidung ein von Qualität
und Quantität der Kraft. Das Tier sieht und hört besser; das
heißt: es sieht in einer Entfernung, hört aus einer Entfernung,
343in und aus welcher der Mensch nicht sieht und hört; aber was
der Mensch sieht und hört, das erkennt er besser, d. h. mit
mehr und mit feineren Unterschieden. Es fehlt erstlich dem
Gesichtssinn des Tieres die so lebendige Unterstützung des
Tast- oder Gefühlssinnes; das kann nicht ohne schwächenden
Einfluss auf die Gesichtserkenntniss bleiben. Ferner fragt es
sich, ob wohl die Tiere Farbenunterschiede erkennen? Herbart
bemerkt hierüber (Psych. §. 129. Werke VI. S. 207): „Da es
sogar Menschen gibt, die nach Kants Ausdruck alles gleichsam
in Kupferstich sehen *)34, so ist leicht zu erwarten, dass wenigstens
vielen Tiergattungen keine vollkommnere Sinnesempfindung
zugeteilt sein möge; wodurch wiederum der ursprüngliche Vorrat
an Elementarvorstellungen eine sehr bedeutende Verminderung
erleidet.” Nun weiß man freilich, wie gewisse Farben auf
gewisse Tiere, wie z. B. das Rot auf die Stiere, einen unbegreiflich
bedeutenden Eindruck machen. Dies scheint jedoch
darauf hinzudeuten, dass die Farben dem Tiere weniger Empfindungserkenntnisse
geben, als Gefühlsaufregungen verursachen
mögen. Wir machen vielleicht Kants eben angeführten Ausdruck
noch treffender, wenn wir sagen, das Tier sehe alles in
Photographie; die objectiven Verhältnisse, die uns als Farben
erscheinen, mögen sich in das tierische Sehen teils gar nicht
einmischen, teils mögen sie in ganz anderer Form gefühlt werden,
aber dann sicherlich in einer der theoretischen Entwicklung
nachteiligen Form. Auch Gestalten fasst das Tier sicherlich
nicht mit der Bestimmtheit auf, wie der Mensch, weil sein Auge
nicht dieselbe Beweglichkeit und Übung hat, weil es seinen
eigenen Leib nicht so gut kennt, weil es nicht die gleiche Gewöhnung
zur Verknüpfung der Empfindungen hat. — Und ebenso
endlich mag es sich mit dem Gehör verhalten: das tierische,
dem menschlichen quantitativ überlegen, steht ihm dennoch
qualitativ nach. Das Pferd spitzt die Ohren, lange bevor der
Reiter etwas merkt. Aber Sinn für wohllautende Töne, für
Harmonie und Rhythmik haben die Tiere nicht. Das Pferd
scheint vom Blasen der Hörner angenehm berührt zu werden:
der Hund heult die Musik an. Es gibt bekanntlich auch Menschen,
welche für Musik keinen Sinn haben, denen Musik bloßer
344Lärm ist. Wilhelm von Humboldt ist ein solches Beispiel,
er, der in den übrigen Künsten den gebildetsten Geschmack
hatte. Was unter den Menschen Ausnahme ist, kann leicht
beim Tier Regel sein. Ebenso mag dem Tiere der Unterschied
der Articulation völlig entgehen. (Urspr. d. Sprache S. 358).

455. Betrachten wir es also recht, was es heißt: stärkere
Sinne haben? Mächtiger von der Natur ergriffen, erregt sein,
d. h. sinnlich, leiblich ergriffen, d. h. leidend. Die Sinne sind
beim Tiere breite Tore, durch welche die äußere Natur mit
solcher Macht in die Seele einstürmt, dass diese unterworfen
wird, Selbständigkeit und freie Bewegung verliert. Bei den
schwächern Sinnen des Menschen ist die menschliche Seele auch
mehr gegen den überwältigenden Eindruck der Außenwelt geschützt,
und sie bleibt ihrer mächtig. Sie nimmt durch die Sinne
gerade so viel auf, als sie bedarf und verarbeiten, sich assimiliren
kann. Es findet also zwischen Tier- und Menschenseele
ein ähnlicher Unterschied statt, wie zwischen Gefühl und Sinnesempfindung.
Im sinnlichen Gefühle erkennt die Seele die
das Gefühl hervorrufende Außenwelt nicht, weil sie zu sehr
mit dem eigenen Körper beschäftigt ist, zu sehr mit ihm leidet.
Das geringere Leiden der Empfindnng gestattet ihr die Freiheit,
oder das Bewusstsein, zu fragen: woher kommt mir dies? und
mit der Antwort hierauf eine Außenwelt zu setzen oder anzuerkennen.
In gleicher Weise nun kann die Tierseele, von starken;
Sinnesempfindungen bestürmt und unterjocht, sich nicht
weiter entwickeln, nicht Gebieterin ihrer selbst und ihrer Empfindungen
werden und letztere mannichfach bearbeiten; aber
die menschliche Seele, im Widerstande gegen schwächere Empfindungen,
bemächtigt sich derselben zur weitern Erkenntniss.
Beim Menschen überwiegt von den Sinnen entschieden der objectivste,
leidenschaftslose, der Gesichtssinn; beim Tier überwiegt
der Geruch, durch den sogleich Leidenschaft, Gier geweckt
wird. Auch mögen bei ihm die Gefühle von Hunger und Durst
überwältigend sein. Die menschliche Seele, weniger der Natur
hingegeben, mehr bei sich bleibend, entwickelt sich zum Geiste,
während die tierische im Leibe aufgeht.

456. Der ganze menschliche Leib ist schwächer, als der
tierische; darum ist die menschliche Seele stärker, als die tierische.
Betrachtet man Natur oder Leib überhaupt im Gegensatze
345zur Seele: so mag man sagen, die Seele sei der Parasit
des Leibes. Dieser Ausdruck ist uns aber zu schwach. Dabei
wird der Mensch als eine Art Tier betrachtet. Das Verhältniss
zwischen Leib und Seele ist aber im Menschen völlig umgestaltet.
Während beim Tiere die Seele des Körpers wegen da
ist, der Leib Herr, die Seele ihm dienend: so ist umgekehrt
beim Menschen der Leib nur der Seele wegen da; sie nur ist,
und der Leib ist ihre Stütze.

457. In der Tat, der Erfolg aller tierischen Seelentätigkeit
geht auf im Dienste für den Leib; alle Sinne dienen dem Magen
oder dem Ausweichen der Gefahr. Noch etwas mehr wollen
wir zugestehen: das Tier spielt; und wenn man dies, und
wir meinen mit Recht, als bloße Nervenerregung ansieht, so ist
ferner daran zu erinnern, dass das Tier es freudig fühlt, wenn
man es freundlich streichelt, ihm wohlwollend schmeichelt, und
mancher Hund Eifersucht zu zeigen scheint, wenn er Liebesbeweise
seines Herrn gegen andere bemerkt. Das Tier hat also
mehr als bloß sinnliches Gefühl; natürlich! denn es hat Anschauungen,
und folglich hat es auch Affecte. Es beweist Liebe,
Treue, Dankbarkeit, Hass, Rache. Man kann nicht sagen, es
sei durchaus egoistisch; aber es ist durchaus praktisch oder
vielmehr utilistisch, und ist nicht theoretisch, liberal. Es bezieht
alles auf sich oder den es liebt, auf seinen Nutzen; was ihm
nicht nützt, ist nicht für das Tier, und was für dasselbe ist,
ist dies nur, insofern es ihm nützt. Abgesehen von den Spielbewegungen,
zu denen es erregt wird, ergötzt sich das Tier
nicht, nicht am Wohlgeruch, nicht am Anschauen, nicht am
Hören. Der Mensch, auch der Wilde, hat ein vielfältigeres
Interesse an den Dingen; er verzehrt sie nicht bloß, sondern
genießt sie, indem er sie gewähren lässt. Darum sieht er sie
genauer an. Das ist ein Anfang rein theoretischer Beobachtung
und Erwachen des Wohlgefallens an Schönheit. Das Tier genießt
wesentlich nur mit dem Leibe, dem die Seele dient; der
Mensch mit der Seele, welcher der Leib dient.

458. Betrachten wir also die Wirkung der Sinnesorgane
insgesammt, so werden wir sagen müssen, dass die reine Naturkraft
der tierischen Sinne stärker ist, als die der menschlichen;
dass dafür der Mensch eine größere Mannichfaltigkeit von Eindrücken
hat, welche, weniger oder ganz und gar nicht der Notwendigkeit
346des leiblichen Lebens dienend, nur als ein wuchernder
Überschuss von den Sinnen hervorgebracht werden und
zum Luxus, zur Annehmlichkeit des Lebens sich darbieten.
Wir sehen hier die Entstehung der Künste im Keime angelegt.
Nämlich jeder Üeberschuss über die Notwendigkeit der Natur
treibt zur Kunst, zum Selbstbewusstsein. Das Tier riecht und
schmeckt, damit es die ihm wohltuende Nahrung erkenne, damit
es wisse, wann es genug gegessen habe. Der Mensch aber
unterscheidet Wohlgeruch und Wohlgeschmack. Er fühlt einen
Gaumen- und Nasenkitzel. Indem er das Bedürfniss des Essens,
des Leibes befriedigt, gewährt er noch nebenbei der Seele einen
Genuss, weckt also die freie Tätigkeit der Seele, und schon
hier beginnt das Ich. Die vielen fein abgestuften Empfindungen
des Tastens, des Gefühls und Gehörs ergeben die Elemente zu
viel bestimmtem Warnehmungen, zu genauerer Auffassung von
Gestalten, und während sie durch ihren Inhalt kaum (pathologische)
Gefühle erzeugen, verursachen sie bei ihrer Combination
durch ihre Verhältnisse zu einander ästhetische Gefühle. Helle
und Dunkelheit, das Farbenspiel der Natur, das Tönen derselben
ergreift den Menschen, erregend und niederdrückend, erheiternd
und beängstigend, ohne dass sich sagen ließe, wie und warum?
Diese ästhetischen Eindrücke der einfachen Natur hat der Wilde,
der Urmensch in viel höherm Grade, als wir, und sie sind Quelle
der Kunst und Religion, Überschuss über die Sinne in den
Geist; das Tier aber hat davon sehr wenig, wenn überhaupt etwas.

459. Wir haben hier besonders ein Gefühl hervorzuheben:
den Schauer, den der Urmensch etwa empfand, als er zum ersten
male den dunkeln rauschenden Hain betrat. Ich glaube ihn
psychologisch erklären zu können. Wegen der Association der
Anschauungen hat der Mensch, und auch das Tier, Erwartungen
einer folgenden Anschauung, sobald ihm die erste gegeben ist.
Nun aber gewinnt der Mensch viel mehr Elementarkenntnisse.
Der Vorgang der Association und Erwartung muss sich
also ungleich häufiger beim Menschen, als beim Tier ereignen.
Die Erwartung wird eine viel festere Gewohnheit, wird ihm zum
Bedürfniss. Wenn sich eine Reihe von Anschauungen vor ihm
entwickelt, so kann er sich nicht enthalten, bei jeder einzelnen
eine andere, die in seiner Seele mit jener verknüpft ist, zu erwarten.
Oder es sind mehrere mit jeder verknüpft; so erwartet
347er, welche derselben jetzt ihre volle Klarheit erlangen solle,
dadurch dass ihm die wirkliche sinnliche Anschauung von neuem
geboten wird. So ist es, nur in geringerer Menge, beim Tiere
auch. Wird nun aber eine neue Anschauung geboten, welche
noch mit keiner andern verknüpft sein kann, so starrt das Tier
gleichgültig; der Mensch aber, der sich in eine Reihe von Anschauungen
geführt sieht, bei deren keiner er Gelegenheit hat
etwas Bekanntes zu erwarten; dem hier bevorsteht, dass ihm
einzeln nach und nach mehrere Anschauungen ohne vorgängige
Erwartung geboten werden: er fühlt in dieser ungewohnten Weise
des Anschauens jene Beklemmung des Schauers, in welchem er
bei jedem Schritte erst der Erholung, der Wiederherstellung
des Gleichgewichts im Bewusstsein bedarf. Es ist kein Ablauf
einer Reihe von Anschauungen, wo Welle auf Welle folgt; sondern
es sind abgebrochene Schritte, deren jeder für sich, unassociirt
dasteht. Dieser Schauer des Unbekannten ist eine
Quelle der Religion.

460. Nun ist aber auch die umgekehrte Betrachtung anzustellen.
Der menschliche Leib ist so schwach und hülfsbedürftig,
er hat an seinen Sinnen so ungenügende Warner,
Raterteiler und Versorger, ist durch seine Glieder so wenig
geschützt und versorgt, er hat so vielerlei Bedürfnisse, dass er
in viel höherm Grade als das Tier zur Erhaltung des Lebens
die Tätigkeit der Seele in Anspruch nimmt. Das Tier erhält
über das, was es zu seiner Erhaltung zu tun habe, genügende
Belehrung durch den Instinct, dem die Sinne noch helfen. Der
Mensch hat von diesem Instincte wenig oder nichts. So könnte
es scheinen, als würde sich die menschliche Seele nie erheben
können über diese Dienstbarkeit gegen den Leib, zu welcher
sie verdammt sei; als müsse sie den Üeberschuss an Kraft und
Fähigkeit, den sie vor dem Tiere voraus hat, gänzlich darauf
verwenden, den Mangel an Instinct zu ersetzen. Doch dem ist
nicht so. Gerade der tierische Instinkt ist die im Dienste des
Leibes stehende Seele; die für den Körper Sorge tragende
menschliche Seele sorgt für jenen, wie ein Herr für seinen
Knecht, dem er gute Nahrung, Kleidung, Befriedigung aller
Bedürfnisse verschafft, bloß damit derselbe um so besser für
ihn arbeite. Nicht anders sorgt die menschliche Seele für
ihren Leib. Sie schont ihn, indem sie ihm zum Arbeiten Werkzeuge
348gibt und sucht ihm jeden Schutz zu schaffen. Darum
eben hat und sucht auch die Seele bei der Versorgung des
Leibes zugleich noch ihre eigene Befriedigung. Sie schafft
nicht nur dem Leibe Speise, sondern sucht dabei zugleich für
sich den Wohlgeschmack; sie Anfertigt nicht nur Kleidung und
Bewaffnung zum Schutze gegen die Elemente und Feinde, sondern
sie befriedigt dabei zugleich ihr Wohlgefallen an Farbenpracht
und Putz. Die Seele spielt mit Nahrung und Kleidung;
so erhebt sie sich über das Bedürfniss, das Notwendige, und
tritt in den Kreis des Freien. (Lange a. a. 0. S. 325).

461. Das Bedürfniss der Natur wird nun zwar immer
und ewig mit gleichem Lustgefühl befriedigt; aber nicht so das
Bedürfniss des Spiels. Es tut immer wohl, Hunger und Durst
zu stillen, Kleidung und Wohnung dem Wetter gemäß zu haben;
aber das Spiel wird einer Sache bald satt; es verlangt Abwechslung,
es erträgt das Gewohnte nicht. So wird also die
Seele zunächst durch das Bedürfniss des Leibes, sodann zur
Befriedigung des Spieltriebes in Anregung, in Tätigkeit versetzt;
sie muss suchen, und zwar mehr, als sie brauchte. Und jeder
Fund steigert die Lust am Suchen, und diese Lust wird nicht
eher befriedigt, als bis sie einen neuen höhern Fund erlangt
hat; und so bildet sich selbst in der Befriedigung diese Sehnsucht,
welche die menschliche Seele zur endlosen Entwickelung
treibt.

462. Endlich haben wir noch der Geselligkeit zu gedenken.
Dass dieselbe ein unentbehrliches Mittel der Seelenentwickelung
ist, sie, auf welcher Wetteifer, Bereicherung durch Mitteilung,
Überlieferung auf folgende Geschlechter, also Einheit aller Seelentätigkeit
des ganzen Menschengeschlechts beruht, im Gegensatze
zur Zersplitterung der Tierarten in vereinzelt lebende und
über ihr Leben hinaus nicht fortwirkende Individuen: das braucht
kaum angedeutet zu werden. Aber woher rührt sie? Auch
ist die Geselligkeit nicht allen Tierarten fremd. Ganz fremd
ist sie sogar keiner Art. Alle Tiere derselben Art erkennen
sich als solche, spielen und arbeiten wohl zusammen, gehen zusammen
auf Nahrung aus. Die sogenannten Raubtiere tun
dies wohl weniger. Sie, die doch wohl am meisten gegenseitiger
Hülfe bedürfen, schließen sich am meisten ab, weil sie
sich bei der Teilung des Raubes nicht vertragen würden. So
349viel Rücksicht aber schenkt dennoch jedes Raubtier dem Individuum
seiner Art, dass es dasselbe nicht anfällt, um sich einfach
an ihm zu sättigen. Ein hungriger Wolf wird jedes lebende
Wesen, dem er begegnet, angreifen, aber keinen Wolf. Auch
der Mensch ist Egoist genug, dass er leicht, seiner gemeinen
Natur folgend, zerstreut und vereinzelt gelebt haben würde,
nicht, wie etwa der Elephant, in Gruppen und Haufen. Die
Vorsehung aber hat ihn durch gewisse Einrichtungen auf den
Weg der Geselligkeit geleitet. Es ist nicht die Schwäche der
Menschen überhaupt, welche sie an einander knüpft. Der Mensch
ist nicht so schwach, um nicht auch vereinzelt leben zu können;
und Rücksicht auf Vorteil, d. h. Egoismus, wie sollte der im
Stande sein, Verbindung, Gesellschaft zu erhalten! Aber die
Schwäche des neugeborenen Menschen, seine lange Kindheit,
unterhält lange Zeit den rein natürlichen Affect elterlicher Liebe,
knüpft zwischen Kind und Eltern ein durch Gewohnheit vieler
Jahre fest geschlungenes und fest gewebtes Band. Mit der Reife
der jüngsten Kinder fällt der Beginn der Altersschwäche der
Eltern zusammen, und das Band knüpft sich in umgekehrter
Weise von neuem. Auch mischen sich in das zunächst rein
natürliche instinctive Gefühl der Eltern- und Kindesliebe sehr
bald ethische Elemente, die ja schon das Tier kennt. So entstehen
sogleich Familienbande, gewebt aus Liebe, Dankbarkeit,
Verehrung, ja religiösem Gottesgefühl.

463. So bilden sich nun Familientraditionen. Die lange
Kindheit des Menschen begünstigt den Unterricht; der Mensch
hat lange Lehrjahre, und ehe der Geschlechtstrieb erwacht, hat
er in sorglosem Leben schon eine bedeutende Bildung und Selbstständigkeit
der Seele erlangt, deren weitere Entwickelung nun
durch die Geschlechtsreife mehr gefördert, als gehemmt wird.
Das Tier gelangt zu dieser Reife schnell; seine Kindheit ist
kurz, und kaum hat es angefangen zu lernen, so hat es die
weitere Lernfähigkeit verloren.

464. Der menschliche Körper ist schwächer, als der tierische,
und dennoch hat er mehr Lebensdauer. Woher mag
das kommen? Gewiss ist er weniger abhängig von den Einflüssen
der Elemente. Das Tier wird so stark von der Außenwelt
ergriffen (455), hat so wenig natürlichen oder künstlichen
Schutz gegen außen, dass es sich schnell abnutzt und aufreibt.
350Des Menschen Körper, in feinerer Weise und schwächer erregt
und alle Stöße von außen kräftig zurückgebend (483), erhält
sich länger durch die Macht und Weisheit der Seele (460).
Die menschliche Seele also, fern davon ein Parasit ihres Körpers
zu sein, benimmt sich gegen ihn wie ein Herr, der seinem
Knecht aus milder Gesinnung und im eigenen Vorteil allen
Schutz angedeihen lässt, um ihn länger zu bewahren. Die
längere Dauer des Lebens nun ist vorzüglich wichtig. Der
Mensch hat lange gelernt; nun bleibt ihm aber noch drei-,
vier-, fünfmal so viel Zeit, um das Erlernte zu bereichern durch
eigene Entdeckung und Erfindung und selbst wieder zu lehren
und später mit dem Lehrling zusammen als Gesellen zu arbeiten.

465. Der Geselligkeitstrieb der Menschen wirkt ganz ans
ders als der der Tiere. Diese sind zusammen entweder wie die
Bienen und Ameisen, weil ihre Erhaltung oder Lebensbetätigung
unmittelbar das Zusammenleben Vieler fordert, oder weil sie
zufällig an derselben Stelle geboren sind, oder sie kommen auch
wohl zu einander etwa, um zusammen zu spielen oder sich zu
begatten. Wenigstens die zahmen Haustiere spielen; ob es auch
wilde Tiere tun? Beim Menschen treffen alle jene Verhältnisse
zusammen; aber jedes an sich hat schon größere Macht und
gewinnt mit den andern Lebensbedingungen des Menschen
höhere Bedeutung. Das Familienleben bildet dabei den Kern.

Wir müssen es näher betrachten.

466. Ich habe einmal sagen hören, alle Poesie sei ein
Product der Hoden — und des Uterus, wenn es auch bloß eine
Sappho gab. Dass dies eine geistreiche Übertreibung ist,
braucht nicht bewiesen zu werden; andererseits aber nehme ich
als zugestanden an, dass etwas wahres darin liege. Es scheint
kaum zu bezweifeln, dass jemand, der in früher Kindheit
castrirt worden ist, für die Schönheit der Venus, selbst der
von Melos, ohne Sinn ist. Was ich also behaupten möchte, ist
dies: der Anblick der Schönheit menschlicher Gestalt findet in
den Genitalien seine Resonanz. Die Folge hiervon für die
Entwickelung des Menschengeschlechts war die, dass die Geschlechtslust
aus dem Kreise der körperlichen Gefühle in den
der ästhetischen Gefühle aufstieg. So haben wir auch schon
erwähnt, dass das Essen ästhetisch vermenschlicht ward (458.
461). Es erhob sich also überhaupt durch die (dem Tiere fehlende)
351Asthesis aus Instinct, aus Trieb und Befriedigung, Freiheit
und Wahl. Die Geschlechtslust verband sich aufs engste mit
dem Schönheitssinn und so ward das Tier zum Menschen. Nicht
bloß dass der Mensch mehr, ja etwas andres sucht als Befriedigung
eines Triebes, dass er den Genuss der Schönheit sucht;
sondern besonders wichtig ist noch, dass er mit jener Befriedigung
auf ein bestimmtes Individuum verwiesen ist, welches ihm
nicht bloß den vorübergehenden Drang stillt, sondern außerdem
uoch den dauernden Genuss der Schönheit gewährt — auf ein
Individuum, welches er liebt.

467. Beim Tier vereinen sich Exemplare derselben Art;
beim Menschen suchen sich Individuen. Dies beruht auf der
großem Fähigkeit des Menschen, Gestalten und Formen aufzufassen.
Darum gefällt ein Mensch dem andern, und dieser
jenem, jener diesem in höherm Grade. Die Macht des Auges
ist größer als beim Tier. Darum geschieht die Vereinigung der
Geschlechter nicht bloß zu vorübergehendem Zwecke, sondern
für die Dauer. — Die Erhaltung der Art erfordert die Sorge der
Mutter für das Neugeborne. Hierauf beschränkt sich das Tier.
Namentlich auch bei Säugetieren ist das Männchen ohne Teilnahme
für die Jungen. Es hat nichts zu tun. Beim Menschen
hat der Vater für Mutter und Kind zu sorgen. — Hierzu kommt
noch ein wichtiger Umstand. Ich glaube allerdings, dass die
Monogamie das ursprünglich menschliche Verhältniss darstellt
und Polygamie eine Ausartung der Menschheit ist; ich bin
überzeugt, dass überall beim Menschen Schönheitssinn sich mit
der Geschlechtslust verbindet; ich fürchte also nicht, unsere
Romantik in die Urzeit ungehöriger Weise übertragen zu haben *)35.
Allein es ist immer wichtig zu beachten, wie auch eine den
Menschen auszeichnende Natur-Einrichtung hier mit ins Spiel
kommt. Alle Tiere haben bestimmte Zeiten der Brunst; beim
Menschen allein kann der Mann zu jeder Zeit eine fruchtbare
Begattung vollführen; seine Geschlechtsdrüsen haben nicht
Perioden der Ruhe und der Tätigkeit, er kann vielmehr zu
352allen Zeiten reifen Samen ergießen. Darum ist der Natur-Drang
beim Menschen schwächer. Was beim Tier auf einen
bestimmten Monat zusammengedrängt ist, tritt hier ausgebreitet
über das ganze Jahr auf. So wird die Neigung zum Weibe,
weil schwächer, dem Geiste zugänglich, von Schönheit beherscht,
aber dauernd; und so bleibt der Mann beim Weibe, der Vater
bei Mutter und Kind, für das ganze Leben.

468. Dadurch bildet sich ein wahres Zusammenleben, nämlich
ein geistiges Ineinander-Leben. Jedes der beiden sorgt für
den andern; und wie zuerst die Eltern für die Kinder, so dann
auch die Kinder für die Eltern. Dabei ist man auch vielfach
zugleich tätig an derselben Arbeit. In allen Lagen aber nimmt
das Bewusstsein des einen Individuums das andre in sich auf
und versetzt sich in das andre. So erst wird der Egoismus
nicht bloß durchbrochen, sondern überwunden, und es gestaltet
sich ein sittliches Leben.

469. Die Verbindung des Schönlieits-Sinnes mit dem Geschlechtstriebe
ist also mehr als Quelle der Poesie, ist vor allem
ein Motiv der Sittlichkeit und aller edlen Menschlichkeit. An
das Gatten-Leben schließt sich die Gemeinschaft der Eltern
mit den Kindern, der Brüder und Schwestern. Den Söhnen
derselben Eltern fallen gemeinsame Aufgaben zu. Das Arbeiten
zu demselben Zwecke erfordert ein genaues gegenseitiges Verständniss
der Arbeiter. Sie müssen klar wissen, was sie wollen,
und sicher sein, dass sie dasselbe wollen, auch darin übereinstimmen,
wie das Erstrebte zu erreichen. Dann muss jeder da
einsetzen, wo der andre ihm Raum lässt und seinen Eingriff
erwartet, wie auch er erwartet, dass der andre ihn eingreifen
lasse, und jeder weiß, dass der andre auf ihn rechne. So arbeiten
Brüder im Hause der Eltern und verweben ihre Vorstellungen
so in einander, dass der größte und beste Teil derselben
sich wechselseitig voraussetzt. Die Gruppen des einen
appercipiren die Gruppen des andern und appercipiren die Objecte
mit fortwährender Rücksicht auf die Apperceptionen des
andern und in der Voraussetzung, dass seine Gruppen vom
andern appercipirt werden.

470. Diese Macht der Geistes - Gemeinschaft entsteht in
der Arbeit, aber wächst noch im Genuss. Der Mensch beurteilt
den andern unmittelbar, ungewollt. Der andre gefällt
353ihm als schön, stark, geschickt. Ungewollt muss er ihm Achtung
schenken. Und darum will er, dass auch der andre ihm
gleiche Achtung schenke. Jeder sucht beim andern Liebe und
Ehre. Dieser Trieb nach Anerkennung erregt in der Arbeit
den Wetteifer und macht sich natürlich noch mehr nach der
vollbrachten Arbeit geltend. Beim Genusse des Erworbenen
erinnert man sich der aufgewanten Mühe, der überstandenen
Gefahr. Da spricht man von seinen Taten und Erlebnissen,
sowohl von den gemeinsamen als auch von denen, bei welchen
der andre nicht zugegen war. Man gedenkt dessen, was man
dem andern schuldet; man wird dankbar.

471. So bildet sich eine Gewohnheit und daraus ein Drang
zu gemeinsamem Denken, der den Menschen auszeichnet. Herbart
bemerkt, wiewohl in einem andern Zusammenhang (Psych. §. 135.
Werke VI, S. 244.): „Das Kind weint, wenn es allein an einem
unbekannten Orte bleibt, nicht bloß seiner Bedürftigkeit wegen,
sondern weil die Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt,
in der unbekannten, eine Hemmung erleiden, die sich auf die
Vorstellung von seiner eigenen Person fortpflanzt. Selbst der
mehr herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hemmung
im Dunkeln; er singt, er spricht, er schreiet, um etwas
von sinnlicher Warnehmung zu haben, das mit der Vorstellung
von ihm selbst zusammenhänge.” Diese Bemerkung wird gewiss
jeder aus eigener Erfahrung bestätigen. Aber das Kind
weint, selbst in der elterlichen Stube, wenn man es allein lässt;
und auch Herangewachsenen ist nicht bloß die Dunkelheit,,
sondern auch, und vielleicht noch mehr, die Einsamkeit drückend.
Die Seele verlangt einen ungehemmten Fluss der Vorstellung.
Ist dieser Fluss weniger lebendig, wird er matt, so fühlt man
drückende Langeweile; man verlangt von außen her Anregung,
man sucht Gesellschaft. Denn das Gespräch, die Unterredung
gewährt dieses Vergnügen, dass Anschauungen in die Erinnerung,
Gedanken in das Bewusstsein gerufen werden. Und wie
die Trägheit des eigenen Vorstellungsverlaufes, die Leerheit des
eigenen Bewusstseins die Gesellschaft aufsuchen lässt: so drängt
auch die Fülle des Herzens und Geistes, die Lebendigkeit des
Wechsels der Vorstellungen zur Äußerung, und jede Äußerung
will Mitteilung sein; also wird man zur Gesellschaft getrieben.354

472. Dieses Zusammenleben ist aber nicht bloß ein Zusammenarbeiten
und Genießen, sondern mit dem Ineinander-Denken
erzeugt sich Sympathie, Ineinander-Fühlen. Man appercipirt
nicht bloß das Bewusstsein des andern, sondern fühlt es
auch in der eigenen Seele. Die zusammen arbeiten, streben
für einander, und so wird man gegenseitig dankbar. Man freut
sich erst zusammen, und dann freut man sich über die Freude
des andern, fühlt schmerzhaft den Schmerz des andern.

So finden sich die Seelen; es bildet sich Freundschaft,
Gemeinsamkeit der Interessen, Wetteifer, und was sonst noch
Tugenden hervorruft und die Entwickelung des Geistes fördert.

473. Wir haben hier einen bloß gedachten vorsprachlichen
Urzustand des Menschen construirt, gewissermaßen eine künstliche
Fiction, deren Wirklichkeit in der Zeit uns gar nicht
kümmert. Wir haben diesen rein theoretisch construirten Zustand
der Menschenseele mit der tierischen verglichen, und für
erstere überall und in allen Beziehungen einen Überschuss an
Kraft gefunden. Diesen Überschuss lassen wir nun die menschliche
Seele auf die Bildung der Sprache verwenden. Darauf
kam es uns ja an, zu zeigen, warum zwar aus der menschlichen
Seele, aus ihrer Warnehmung, Sprache entspringe, nicht aber
aus der tierischen. Nach unserer obigen Vergleichung wird
man nicht mehr darüber verwundert sein, dass die tierische
Seele da mit ihrer Bildung aufhört, wo die menschliche Seele
erst anfängt, in der Schöpfung der Sprache ihre eigentümliche
Natur zu entwickeln. Bei unserer ganzen obigen Darstellung
der Tier- und Menschenseele mussten wir von der Sprache absehen,
deren Möglichkeit ja erst erwiesen werden sollte. Woher
die Kraft stamme, vermittelst welcher die Seele Sprache
bildet, das sollte erst gezeigt werden; diese Kraft zur Schöpfung
der Sprache kann natürlich nicht aus der Sprache stammen.
Darum haben wir einen Zustand des Menschen, wie er vor der
Sprache ist, fingirt. Das ist freilich nur eine Fiction; denn die
Sprache ist dem menschlichen Wesen so notwendig und natürlich,
dass ohne sie der Mensch weder wirklich existirt, noch
als wirklich existirend gedacht werden kann. Der Mensch hat
entweder Sprache, oder er ist gar nicht. Andererseits aber —und
dies rechtfertigt die obige Fiction — darf doch die Sprache
nicht als zum Sein der menschlichen Seele selbst gehörig angesehen
355werden; sie ist vielmehr allerdings schon eine nicht
ohne ein gewisses Bewusstsein vollbrachte Schöpfung des Menschen,
wenn auch noch keine selbstbewusste Tat. Sie ist eine
Stufe der geistigen Entwickelung der Seele und verlangt eine
Ableitung aus den ihr vorangehenden Stufen. Mit ihr beginnt
das eigentlich menschliche Tun und Treiben; sie ist die Brücke,
die aus dem Tierreiche in das Menschenreich führt. Die Materialien
dazu können nur aus ersterm entlehnt werden; im
Tier-Menschen muss die Möglichkeit zur Sprache nachgewiesen
werden. Warum sich aber nur die menschliche Seele diese
Brücke baut, warum nur der Mensch vom Tierstande zur reinen
Menschheit vermittelst der Sprache schreitet, und nicht auch
das Tier: das wollten wir uns durch eine Vergleichung des
Tieres mit dem Tier-Menschen klar machen. Diese Vergleichung
zeigt uns, dass der Mensch, wie wir ihn uns ohne Sprache
fingiren müssen, zwar ein Tier-Mensch, aber kein Menschentier,
noch sonst eine Art Tier ist, sondern immer schon eine Art
Mensch.

474. Zum Beweise, dass der Grund, warum die Tiere
nicht sprechen, keineswegs in Äußerlichkeiten liegt, sondern
wesentlich in psychischen Momenten, führen wir hier ausführlich
folgende Mitteilung an.

Der Alpenrabe des Pfarrers Heidegger.

Gotthard Heidegger, der als Vorstand des Züricher Gymnasiums
am Frauenmünsterstifte seine gelehrte Acerra philologica
(Zürich 1735 in zweiter Auflage) erscheinen ließ, erzählt
folgendes Selbsterlebniss. Als ich noch auf meiner Landpfarre
saß, hielt ich mir bis ins achte Jahr einen Raben, welchen
einige Patrizierknaben, die damals bei mir wohnten, aus dem
Nest genommen und mir zugebracht hatten. Wir sperrten das
junge Tier, dessen ewiges Gekreische unausstehlich war, in
einen leeren Stall und fütterten es in der Absicht auf, es nachher
wieder fliegen zu lassen. Allein Meister Görgel oder Jerl,
wie man ihn nannte, verstand sich zu keinem Abschied und
wich nicht mehr vom Hause. Hatte er sich bei den Hühnern
sattgefressen und wusste uns selber bei der Mahlzeit, so kam
er zu uns ins Zimmer herauf, postirte sich zwischen Hund und
Katze und schnappte diesen die zugeworfenen Brocken in der
356Luft weg, oder riss sie ihnen noch aus dem Maul. Dazu schrie
er uns seinen Namen Jerl her, bellte wie ein Hund, krähte wie
ein Hahn und trieb seine Kunststücke, ohne dass wir uns seiner
Dressur wegen je die geringste Mühe gegeben hatten. So oft
ich rief, Jerl, mach' Reverenz! duckte er den Leib, schlug die
Flügel verliebt zu Boden und fing an, im aufgeblähten Halse
wunderliche Laute zu girren. Als wir einst in seiner Gegenwart
von den Türken erzählten, die keine Kirchenglocken hätten
und desswegen die Gemeinde von den Türmen herab mit dem
Worte Akber-Allah-hoh zusammenriefen, war des Raben Schlagwort
lange Zeit kein anderes als Akber-Allah-hoh!

Hatte er Diebereien begangen, Papiere am Schreibtisch
zerrissen und war dafür gezüchtigt worden, so machte er sich
in die Weite oder verkroch sich unter das Dach und hungerte
hier Tage lang. Ein solches Unwetter merkte aber der Schelm
schon im Voraus, er entnahm es den Mienen, ob man nach
dem Stöckchen suche. Konnte er sich dann nicht schnell genug
davon machen, so versuchte er, durch Schmeicheleien der Sache
eine gute Wendung zu geben, und verfing auch dies nicht, so
legte er sich augenblicklich auf den Rücken und parirte den
ihm zugedachten Hieb mit Schnabel und Klaue. Nach einer
solchen Exekution pflegte er sich in sein Versteck zu begeben,
allemal aber brachte er bei seiner Rückkehr irgendwas zur Versöhnung
mit, ein Geldstückchen oder sonst was, das er entwendet
und in seinem Schlupfwinkel aufbewart hatte. Denn
Geld und überflüssige Speisen vergrub er und wusste sie nach
seinem Gelüsten immer wieder aufzufinden. Alle Tiere, selbst
die Hunde, griff er an, und lächerlich zog er die Hühner am
Schwanze zurück, wenn sie das geschüttete Futter aufpicken
wollten, bevor er satt geworden war. Wurden sie aber unter
sich selbst uneins, so wusste er Frieden zu stiften, so dass sie
ihn zuletzt alle respektirten. In besonderer Freundschaft stand
er zum Haushund, er fing ihm die Flöhe, bellte mit ihm die
Fremden an, verfolgte die Bettler, zerrte sie am Rock und
rannte ihre Kinder zu Boden. Listig stellte er sich ihnen zur
Seite, und wenn sie etwa das ihnen zugeworfene Stück Geld,
oder Brod nicht behende genug auffingen, hatte er es ihnen
schon weggeschnappt und flog damit fort. Wenn man im
Garten Unkraut jätete, tat er es mit und jätete Salat; wenn
357man Wiegenkinder hütete, hütete er auch. Sein Nachtlager
wollte er durchaus auf einem Balken im Wohnhause haben;
hatte man ihn absichtlich einmal ausgeschlossen, so wusste er
mit Anklopfen einen der Bekannten so lange nachzumachen,
bis man zuletzt auf tat *)36. So klopfte er auch an jedem Schlafzimmer
des Morgens besonders an, und seitdem er wusste, dass
ich gerne vor Tag aufstand, pochte er wohlweislich an meine
Tür in aller Frühe, denn Tag und Nacht war ihm völlig eins.
Genau verstand er sich darauf, was das Mittagsläuten oder die
Ankunft von Gästen bedeute; alsdann kam er herbeigeflogen,
wenn er noch so weit im Felde fortgewesen war. Er öffnete
jedes Schloss, an dem der Schlüssel steckte, die Deckel des
Brodtroges und der Tabackdosen; den Fund legte er dann wohlgeordnet
auf einer Bank aus wie ein feilbietender Krämer. Er
hatte sich allmählich so säuberlich gewöhnt, dass er nirgends
anders mistete, als eben auch wo der Ort dazu war. Wenn
ihm fremde Raben Besuch abstatteten, so biss er sich mit ihnen
herum und hielt sich um so freundlicher zu den Menschen. Am
liebsten saß er neben mir und welschte mir aus tiefstem Kropf
seine unverständliche Freundschaft vor. Wie ein Affe tat er
uns Alles nach, trank heißen Kaffe, aß gesalzene Rettich, probirte
den Schnupftabak, blätterte in den Büchern, und ernieste
sich jemand, so gab er sein Salus mit drein. Man durfte nur
mit den Schlüsseln zur Speisekammer klirren, so war er bei
der Hand, um den einträglichen Gang auch mitzumachen. Gar
manche ehrenwerte und gelehrte Männer haben dies alles mit
angesehen und können die Wahrheit davon bezeugen. Kurz,
es ist in diesem Meister Jerl so viel gewesen an Merk's, List
und Schalkheit, und zwar ohne alle Dressur — durch die der
Kerl erst wer weiß was geworden wäre — als man wohl hinter
einem 17- oder 18jährigen Burschen oft vergeblich sucht.

Wir hören hier das unverwerfliche, tadellose Zeugniss eines
Tierfreundes von einem menschenfreundlichen Raben. Er wächst
in menschlicher Gesellschaft auf, wie ein Kind. Er fasst menschliche
Sprachlaute genau auf und kann sie auch selbst erzeugen
358— dennoch spricht er nicht. Er versteht auch andre Zeichen.
Er ist überhaupt sehr klug und kann sich in das Gemüt Andrer
versetzen. Er nimmt vollen Anteil am menschlichen Leben,
wenn auch mehr als Schelm, denn als Arbeiter. Er ruft sein
Salus, wenn jemand niest — und doch spricht er nicht. Er
ist viel klüger als Hans und Grete — aber sprechen lernt er
nicht. Warum nicht? Das Vorstehende und das Folgende
muss die Antwort geben. Hier nur so viel. Immerhin mögen
Hans und Grete dümmer sein, als das liebe Vieh: durch Sprechen
wird man nicht klug; immerhin mögen die Tiere sehr klug sein,
sich höchst zweckmäßig zur Erreichung selbstgesteckter Ziele
benehmen: der Mangel an Sprache macht nicht dumm. Kurz
der Inhalt des Bewusstseins wird nicht unmittelbar von der
Sprache berührt, sondern nur die Form desselben. Es mag
also ein sprechender Mensch weniger geistigen Inhalt, geringere
geistige Beweglichkeit haben als das Tier; aber er hat seinen
Inhalt in höherer Form. Die höhere Form wird denn allerdings
unter sonstigen Begünstigungen auch den Inhalt fördern. Die
Form des tierischen Bewusstseins aber ist die Anschauung; die
Form des menschlichen, des redenden Bewusstseins werden wir,
kennen lernen.

e) Die Sprache als Reflexbewegung.

475. Unser heutiges Sprechen erscheint uns als ein absichtliches
Tun. Wir sprechen, weil wir es wollen; wollten
wir es nicht, wir würden schweigen. Ferner: Wollen wir es,
so tun wir es mehr oder weniger laut oder leise, je nach der
Absicht. Dann brauchen wir auch nicht alles zu sagen, was
wir denken. Wir können unsere wirkliche Meinung und unser
Wissen verschweigen und irgend etwas Erfundenes, irgend ein
Gedachtes aussprechen, sei es als Scherz oder als Ironie oder
als Lüge. Wir können auch die Form des sprachlichen Ausdruckes
gestalten, Wörter und Wendungen suchen, die Reihenfolge
derselben und der Sätze nach Belieben ordnen und die
Sätze nach mancherlei Rücksichten gestalten.

476. Diese Freiheiten haben wir allerdings. Im gesunden
Zustande gehört die Sprache ganz in den Bereich unserer geistigen
Tätigkeit. Die Gebundenheit, welche dabei hervortritt, ist keine
andre und keine größere, als welche bei jeder körperlichen Arbeit
359vorliegt; allemal sind wir an den psycho-physischen Mechanismus
gebunden. Indessen diese Freiheit ist nur eine erworbene.
Je weniger wir uns überwachen, je mehr wir uns
von den augenblicklichen Vorstellungen beherschen lassen, um
so mehr ertönt die Sprache ungewollt. So beobachten wir, wie
Leute auch ohne Affect, aber in sich vertieft, statt zu denken
mit sich selbst laut reden. Kinder in der ersten Sprach-Periode
denken fast nur sprechend; sie erkennen kaum etwas mit ihren
Sinnen ohne auszurufen: da kommt... da ist... Hiernach
könnte man versucht sein, die Sprache als Associations-Bewegung
(346) zu bestimmen. Wie der Virtuos zwar seine Finger
mit den Noten in feste Association gebracht hat, aber doch
recht wohl Noten sehen oder eine Melodie in seiner Phantasie
ablaufen lassen kann, ohne die Finger zu bewegen, wenn er
nicht etwa doch selbstvergessen auf den Tisch trommelt: so
könnte es auch uns mit der Sprache ergehen.

477. Indessen, man würde sehr irren, wenn man meinte,
das Lernen der Sprache seitens der Kinder bestehe auch bloß
darin, dass mit gebildeten Vorstellungen die gehörten Laute
associirt werden, wie wir allerdings fremde Sprachen lernen.
Mit der Mutter-Sprache verhält es sich ganz anders. Hier
bilden die gehörten Reden den Antrieb zum Vorstellen und
Denken. Laute sind gegeben, welche das Kind appercipirt,
und das sind schöpferische Apperceptionen; denn das Kind
muss erst in dem Augenblicke, wo es das Gehörte appercipiren
soll, die Vorstellung schaffen, mit welcher es dies vermag.
Konnte es die appercipirende Vorstellung schaffen, so hat es
die Rede verstanden. Im eigentlichen Besitz dieser Vorstellung
aber ist es erst, wenn es sie auch frei aus sich reproduciren
kann: und das kann es nur mit Hülfe desselben Lautes, durch
den es zuerst Veranlassung gefunden hatte, jene Vorstellungen
zu bilden. So ist für das Kind ursprünglich die Sprache nicht
bloß eine zum Denken hinzutretende Associations-Bewegung,
sondern ein Hebel des Denkens, ohne welchen es nicht denken
kann. Es muss sprechen, um zu denken.

478. Dies führt aber unmittelbar darauf, dass auch für
uns die Sprache mehr als Associationsbewegung ist. Denn
auch für uns ist auf immer die Sprache ein Hebel des Denkens,
wenn auch nicht derartig, dass Denken und Sprechen identisch
360wäre. Wir können freilich ganz stumm und ohne jede Beihülfe
der Sprache ein rechtwinkliges Dreieck anschauen oder bloß in
der Einbildung entwerfen, können jede Seite dieses Dreiecks
zur Grundlage eines Quadrats machen und so den pythagoräischen
Lehrsatz und den ganzen Beweis dafür ohne Sprache
rein anschauen. Vielleicht muss man von diesem wie von jedem
geometrischen Lehrsatze behaupten, dass wer ihn nicht als bloße
Anschauung, ohne Wort, reproduciren kann, ihn gar nicht besitze
und kein Mathematiker sei. Geometrisches Denken ist
sprachloses, anschauendes Denken; ein geometrischer Lehrsatz
ist eine intellectuelle Anschauung. Unser vorstellendes Denken
aber ist so sehr, nicht an den Laut gebunden, sondern in ihn
versenkt, dass es selbst schweigend an eingebildeten, innerlich
vergegenwärtigten Lauten verläuft; und unser übliches Denken
im Leben wie in der Wissenschaft ist vorstellendes (discursives)
Denken. Hier ist zwar auch eine Association von Laut und
Gedanken; aber eine solche, dass die Loslösung des Gedankens
vom Laute kaum ausführbar erscheint. So wie wir uns einen
Gedanken vergegenwärtigen, z. B. man sollte unter allen Umständen
nur die Wahrheit sagen
, so merken wir, dass es eine
vielleicht nie gelingende Anstrengung sein würde, ihn ohne
Laut zu denken.

479. Wir werden also sagen, dass weder das Lernen der
Sprache eine Associirung einer Vorstellung mit einem Laute
ist, noch auch Sprechen bloße Associations-Bewegung: was uns
aber oben (476) als solche erschien, ist eine Reflexbewegung
der Art, dass die vorgestellte Bewegung die wirkliche Bewegung
auslöst (vgl. 354. 5) 357—363), und dies bezieht sich
nur auf den Unterschied von lautem Reden und bloß gedachtem
Reden, aber berührt gar nicht das Verhältniss von Laut und
Vorstellung.

480. So stoßen wir hier zuerst auf den Gedanken, Sprache
sei Reflexbewegung. Dies ist sie jedoch in keinem andern
Maße, als auch jede andre Bewegung es ist. Denn erstlich
wissen wir, dass jede absichtliche Bewegung auf einem Reflex
beruht; und dann kann auch wohl jemand, der sich die Lust
des Schwimmens vergegenwärtigt, in welcher Lage oder Stellung
er auch sein mag, Schwimmbewegungen ganz oder teilweise
machen.361

481. Auch das Lernen der Erzeugung der Sprachlaute
seitens der Kinder beruht zwar auf Reflex, aber doch nicht in
andrer Weise, wie das Lernen des Gehens, Schwimmens und jeder
körperlichen Fertigkeit. Auge und Ohr stehen in Beziehung
zu den Bewegungen, welche es sieht oder deren Erfolg es hört.
Würden nicht die Organe vom Ohre her mechanisch in Bewegung
gesetzt, wie sollte das Kind die nicht geringe Kunst lernen,
Papa und Mama zu sprechen? Hierbei ist zu beachten,
dass die Reflexbewegungen beim Kinde mächtiger und ausgedehnter
sind, als beim Erwachsenen, wie es experimentell erwiesen
ist, dass sie beim jungen Tier stärker sind als beim
alten. Jedes Kind lernt jede Feinheit der Aussprache seiner
Umgebung, die ein Erwachsener niemals lernt. Die Reflexbewegung
aber, der wir hier begegnen, ist ganz derselben Art,
wie die in den beiden vorstehenden Paragraphen bemerkte.

482. Für den Ursprung der Sprache ist hiemit noch nichts
gewonnen. Denn das versteht sich, nach allem, was oben bemerkt
ist, von selbst, dass die Laut-Erzeugung als eine Bewegung,
wie jede Bewegung, ursprünglich auf Reflex beruht, und
dann in den Dienst zweckmäßiger Handlung tritt. Hier ist
aber nicht von Lauten, sondern von Sprechen die Rede; und
in der Sprache liegt eine Verbindung von Gedanken-Inhalt und
Laut, und zwar eine solche, dass eine Trennung gar nicht ausführbar
erscheint (478). Es wird aber auch beim genauem
Hinblick auf das Verhältniss zwischen Laut und Inhalt sehr
leicht die Vermutung Raum gewinnen, dass die Vereinigung
beider, fern davon bloß eine Association zu sein, auf einer umfassenden
und wesentlich eingreifenden geistigen Arbeit beruhe,
deren allgemeines Wesen übrigens auch schon aus unsern einleitenden
Bemerkungen (S. 44—72) sich ahnen lässt. Der Reflex-Laut
kann nur als von der Natur dargereichtes Material
für eine intellectuelle Verarbeitung dienen. Solches Material
kann aber gegen seine Verwendung nicht gleichgültig sein.
Darum wollen wir es noch einmal in bestimmter Rücksicht
hierauf in Betracht ziehen.

483. Die Tierseele, das muss aus unserer Vergleichung
von Mensch und Tier hervorgegangen sein, wird von jeder
leiblichen, sinnlichen Affection, vom Schmerz- und Lustgefühl,
wie von den Empfindungen, aufs lebhafteste mit ergriffen, ohne
362Herr der Affection zu werden; umgekehrt wird beim Menschen
der Leib durch die Affectionen der Seele mitbewegt. Denn
hat die menschliche Seele die Übermacht über den Leib, muss
sie ihn ernähren, waren, schützen, bleibt sie den Sinneseindrücken
gegenüber ihrer selbst mächtig und wird nicht hingerissen
in den Strudel sinnlicher Empfindung: so wirkt sie
auch aus eigener Erregung so kräftig auf den Leib zurück, dass
dieser zum treuen Spiegel ihrer Bewegungen wird. Die Tierseele
ist der Reflex des tierischen Leibes; beim Menschen reflectirt
der Leib die Seele. Sicht- und hörbare leibliche Veränderungen,
veranlasst durch Seelenerregungen, verraten uns
die unsichtbaren Seelenbewegungen, deren Reflex sie sind. Dies
ist der Quell der Sprache. Der Körper ist stumm, wenn er
seine eigne Masse, sein eignes Gewicht gelten lässt; er spricht,
indem er die Form annimmt, die ihm die Seele aufprägt. Die
Herschaft des Geistes über den Körper bricht in
Tönen aus, und Freiheit ist das Wesen der Sprache.

484. Das Sprechen ist also eine Befreiungstätigkeit. Das
fühlen wir ja alle heute noch, wie wir unsre Seele erleichtern,
von einem Drucke befreien, indem wir uns äußern. Die Sprache
wirkt hier wie ein Tränenerguss, und oft zusammen mit ihm.
Besonders aber das erste Hervorbrechen der Sprache beim Kinde
und beim Urmenschen ist eine Befreiung der Seele von dem
Drucke der auf sie eindringenden Sinnesempfindungen. Denn
je größer bei der fortschreitenden Entwickelung des Geistes die
Selbstbeherschung wird, desto mehr lernen wir schweigen; d. h.
die von außen kommenden Eindrücke auch ohne Sprache überwinden;
gemäß dem ursprünglichen Verhältnisse aber muss man
ganz eigentlich, und nicht bloß bildlich, sagen: so wie ein elastischer
Körper, der erschüttert wird, in einen tönenden Zustand
versetzt wird und sich durch dieses Tönen von dem empfangenen
Stoße losmacht, indem er ihn der Luft weiter gibt: eben
so tönt der Mensch, erregt durch die auf ihn einstürmenden
Gefühle und Anschauungen, in der Sprache und befreit sich
von den empfangenen Eindrücken, indem er sie an die Luft
abgibt durch das Wort.

485. Wir bewegen uns hier nicht in Metaphern, sondern
stehen auf dem Boden der genauen Lehre von den physikalischen
Kräften. Es ist zu interessant, die Sprache als Reflexbewegung
363unter das allgemeine Gesetz der physikalischen Kräfte
zu bringen, und sie so von dem umfassendsten Standpunkte
aus anzusehen, als dass ich mir versagen könnte, die hierauf
bezüglichen Bemerkungen aus Lotze's Allgemeiner Physiologie
(S. 450 ff.) ausfürlicher mitzuteilen. Gehen wir nämlich davon
aus, dass jede Wirkung einer Kraft auf einen Körper, nach
dem Gesetze der Trägheit, so lange fortdauert, als sie nicht
durch entgegengesetzte Widerstände aufgezehrt wird, wenn
auch nicht nur ihre Richtung, sondern auch ihre Form sich so
umgestalten kann, dass sie nur in einem ihrer Größe entsprechenden
Aequivalent eines anderen von ihr angeregten
Processes fortdauert: so bemerken wir nun auch, dass auf den
lebendigen Körper in jedem Augenblicke seines Bestehens eine
große Anzahl physischer Kräfte einwirken, deren Wirkungen
ebenfalls entweder auf andere Körper übertragen, oder sonst wie
aufgezehrt werden müssen. Es ist doch auch wohl ferner vorauszusetzen,
dass der organische Körper, wie eine jener sinnvollsten
Maschinen, die zufälligsten und formverschiedensten Einwirkungen
von außen nicht nur zu überdauern, sondern ihnen
zugleich einen benutzbaren Effect für seine eigenen Zwecke abzugewinnen
vermag. Ein Perpetuum mobile freilich ist auch er
nicht. Gewaltsamen Erschütterungen vermag er nicht zu widerstehen.
„Geringere Erschütterungen dagegen müssen wir bei
Pflanzen, wie bei Tieren, als aufgenommen in den Plan des
Lebens ansehen, bei diesen als unvermeidliche Folgen der
Muskelbewegung, bei jenen als Nebenumstände, welche mit dem
Genusse des adäquaten Lebensreizes, der atmosphärischen Luft,
gleich unabtrennbar verbunden sind. Ein großer Teil dieser
zugeführten Erschütterungen geht nun allerdings nutzlos verloren;
der Organismus teilt seine Bebungen dem Boden und der
umgebenden Luft mit; ein anderer Teil der Bewegung wird
auf Erzeugung von Schallschwingungen, ein kleinerer vielleicht
noch auf Bildung von Wärme verwandt.” Andererseits aber
sind diese Erschütterungen förderlich für die Saftbewegung und
den Stoffwechsel, sowohl bei Tieren als bei Pflanzen.

486. Betrachten wir jetzt die Nervenwirkungen. Die
Erregung motorischer Nerven findet ihre Ausgleichung in der
Contraction der Muskeln, und diese verliert sich in Wärmeerzeugung
und chemische Processe, ausserdem dass die Glieder
364ihre Bewegung nach außen mitteilen: dies ist leicht zu sehen.
Aber „wohin verlieren sich die unzähligen zum Teil so starken
Eindrücke, denen unser sensibles Nervensystem jeden Augenblick
ausgesetzt ist? Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit
entscheiden, doch gibt es einige Spuren, die wir verfolgen
können.” Nämlich der Nerv nutzt sich ab, und so wird also
auch seine Erregung in chemische Processe umgewandelt. Doch
dies geschieht nicht schnell genug, und wir erkennen leicht
noch zwei Möglichkeiten, wodurch sich der Körper von den
Nervenerregungen befreit, Muskelbewegung und Absonderung.
„Die Natur hat die erste Art der Ausgleichung sensibler
Erregung, ihre Übertragung nämlich auf motorische Nerven,
nicht nur höchst ausgedehnt verwirklicht, sondern zugleich das
Unvermeidliche zum Besten gekehrt. Zwar nicht immer, aber
überall, wo die Function eines Organs dazu Veranlassung gab,
erscheinen diese Reflexbewegungen nicht nur als Ableitungen
der Erregung in den sensiblen Nerven, sondern zugleich als
Auslösungen nützlicher Leistungen. Ein heftiger Lichteindruck
bringt sofort Schließung der Augenlider hervor... Dem Gehörnerven
scheint kein so lenksamer Muskelapparat eigen zu
sein, durch dessen Erregungen er seine eigenen beruhigt; doch
dürften leicht teils die Stimmorgane, teils die gesammten Körpermuskeln,
in denen wenigstens jede rhythmische Musik so
leicht Bewegungstriebe hervorbringt, eine Ableitung jener Erregungen
enthalten *)37 …. Überraschende Reize, welche eine
große Hautfläche zugleich treffen, oder intensive Schmerzen
der äußern und der innern Teile, bringen besonders deutliche
Nachwirkungen in den Bewegungen des Atmens und der Circulation
hervor”, wobei wenigstens eine Ausgleichung der sensiblen
Erregung, wenn auch keine teleologische Benutzung stattfindet.
Nur kann man recht wohl in den durch Reflexion der
sensiblen Erregungen auf die Tonorgane hervorgebrachten Lauten
„eine zweckmäßige Darbietung eines Ausdruckmittels innerer
365Zustände sehen, dessen sich die Überlegung” (dies Wort ist
nicht eigentlich zu nehmen) „weiter bedient, um durch Gedankenmitteilung
eine Hilfe zu suchen, die nicht unmittelbar
durch organische Processe geleistet wird.” Und endlich heißt
es (S. 462.): „Nur dies möchten wir bitten, dass man die
physiologische Notwendigkeit nicht überhaupt verkennt, die in
dem Zusammenhange dieser Processe, z. B. der sensiblen und
der motorischen obwaltet, und dass man an seine Stelle nicht
eine unbestimmte psychische Verknüpfung setzt. Der Schrei
des Leidenden ist keine Handlung, die aus psychischen Motiven
folgt, sie gehört gewiss zur notwendigen Verkettung physiologischer
Processe … Es hat einen großen Reiz, das ästhetisch
Bedeutsame des Lebens oder die psychisch notwendigen Veranstaltungen
mit unvermeidlichen mechanischen Verhältnissen
zusammenhängen zu sehn. So ist die Sprache nicht allein eine
Erfindung des Menschen, sondern in der Anregung der Stimme
durch innere Zustände überhaupt liegt ein natürlicher Trieb zu
ihrer Erfindung und Benutzung; und selbst dieser Trieb ist von
der Natur nicht bloß willkürlich an jene innern Zustände geknüpft,
sondern enthält zugleich die unentbehrliche mechanische
Ausgleichung, die sie erfordern.”

Wir dürfen also jetzt in ganz eigentlichem Sinne sagen:
der Mensch spricht, wie der Hain rauscht. Luft, welche Töne
und Gerüche trägt, Lichtäther und Sonnenstrahlen, und der
Hauch des Geistes fahren über den menschlichen Leib dahin,
und er tönt.

III.
Hervortreten der Sprache.

a) Verbindung der Anschauung mit dem Laute.

487. Nach allem Vorangegangenen dürfen wir uns nun
vorstellen, daß der Urmensch in größter Lebhaftigkeit alle
Warnehmungen, alle Anschauungen, die seine Seele empfing,
mit leiblichen Bewegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und
366besonders Tönen, ja sogar articulirten Tönen, begleitete. Wir
haben hier Reflexbewegungen derjenigen Art von 354. 2)—4),
womit zum vollen Verständniss zusammen zu nehmen ist, was
oben über die geistigen Gefühle gesagt ist, besonders 387. 388,
und was über den Reflex auf die Atem-Muskeln bemerkt ist
356. 364. Wir haben freilich oben (355) bemerkt, dass die
Reflexbewegungen, auf welche wir uns hier berufen, sich durch
ihren Charakter von den absichtlichen Bewegungen unterscheiden,
dass sie etwas Ungeordnetes und Stoßweises haben. Die Sprache
hat hiervon nichts. Wenn es indessen nicht anders gedacht
werden kann, als dass unsre absichtlichen Bewegungen sämmtlich
nur von dem Zweck in Dienst genommene Reflexbewegungen
sind, wenn die geschickteste, ruhigste und gleichmäßigste
Führung der Hand und des Armes doch vom Zappeln und
Strampeln des Kindes ausgeht, so dürfen wir auch annehmen,
dass der Rhythmus und Wohllaut der Sprache, den wir seit
wenigen Jahrtausenden kennen, nicht ursprünglich vorhanden
war, sondern sich im Laufe von hundert tausend Jahren erst
aus anfänglich nur unrhythmisch und reflexartig ausgestoßenen
Lauten herausgearbeitet habe. Deutlich, bestimmt articulirt
können darum jene uranfänglichen Reflexlaute dennoch recht
wohl gewesen sein. Es waren eben unrhythmisch ausgestoßene
Sylben: die Vocale in unregelmäßiger Abwechslung gedehnt
und gekürzt; die Sylben verdoppelt; die explosiven Consonanten
tragen ja für immer den stoßweisen Charakter in ihrem Wesen,
und zu ihnen verhalten sich die Spiranten oder die Aspiraten
und Affricaten wie die langen zu den kurzen Vocalen. Kurz,
solche Sprache kann sehr zapplig und stramplig gewesen sein,
und doch sehr bestimmt articulirt. Erklärt wird die Herschaft,
die Ruhe, mit welcher wir endlich alle Bewegungen und auch
die Sprache vollziehen durch die Bemerkung von 339. Auch
sage man nicht, die Sprachbewegungen unterscheiden sich z. B.
vom Lachen und Weinen durch ihre größere Mannichfaltigkeit.
Denn schon die Interjectionen des Schmerzes und der Freude,
welche Niemand als Reflexlaute zu erkennen Anstand nehmen
wird, sind mannichfaltiger, als Lachen und Weinen; außerdem
aber gibt es noch andere Interjectionen, und diese überhaupt
sind doch noch nicht einmal die Anfänge der Sprache. Der
Ausdruck der Gesichtszüge aber, je nach den verschiedenen
367innern Erregungszuständen, dürfte eine gleiche Mannichfaltigkeit
und Verschiedenheit zeigen, wie die Interjectionen. Er
wird durch den N. facialis erzeugt, und Müller bemerkt hierüber
(II, S. 92.): „Der so äußerst verschiedene Ausdruck der
Gesichtszüge in den verschiedenen Leidenschaften zeigt, dass
je nach der Art der Seelenzustände ganz verschiedene Gruppen
der Fasern des N. facialis in Tätigkeit oder Abspannung gesetzt
werden. Die Gründe dieser Erscheinung, dieser Beziehung
der Gesichtsmuskeln zu besondern Leidenschaften sind gänzlich
unbekannt.” Der N. facialis, der physiognomische Nerv, ist
„der sensibelste Leiter leidenschaftlicher Zustände” (ebenda),
und wir sehen an ihm, wie ein Nervenfaden vermöge der Spaltung
seiner Fasern mannichfach und verschiedenseitig wirken
kann.

488. Der Nervus facialis ist kein Hauptnerv für die Lautsprache,
sondern er ist nur der mimische Nerv; aber seine
Fasern verzweigen sich doch auch in Muskeln, welche für die
Laut-Erzeugung mit wirksam sind. So versorgt er die Lippen,
die Muskeln, welche die Kinnlade abziehen und überhaupt die
beim Kauen beteiligten Muskeln und die des weichen Gaumens,
der beim Sprechen ununterbrochen tätig ist, da er bei allen
Lauten wirksam ist, wo die Nase nicht tönen darf, Auch bewirkt
er eine Erhebung des Zungenbeins. Die eigentlichen
Nerven der Sprachbewegungen sind der N. vagus und N. hypoglossus;
der erstere „verbreitet sich constant in den Stimm- und
Atmenwerkzeugen”, auch übt er Einfluss auf den Herzschlag;
der andere ist „der motorische Nerv der Zunge bei
allen Bewegungen dieses Organs zum Sprechen, Kauen, Schlingen
u. s. w. Er ist aber auch der Bewegungsnerv der großen
Muskeln des Kehlkopfes und Zungenbeins” (I, 795), der eigentliche
articulirende Nerv.

489. Hierzu nehme man nun noch, dass wir an uns keinen
vollen Maaßstab für die Ausdehnung der Reflexwirkung haben.
Bildung, wie schon bemerkt, unterdrückt und schwächt allmählich
den Reiz zu überflüssigen Bewegungen. Wir lernen, nüchtern
und ohne alle Erregungen Warnehmungeu machen; aber
schon unsre Kinder lehren uns, wie auf ungebildete Gemüter
die scheinbar gleichgültigsten Dinge einen Eindruck machen.
Man beobachte solch ein kleines Wesen im dritten oder vierten
368Lebensjahre. Welch unermüdliche Beweglichkeit! und wie wird
jede Abänderung des jeweiligen Zustandes des Bewusstseins
durch Warnehmung oder Erinnerung mit Sprache begleitet!
Was aber gar von uncultivirten Völkern erzählt wird, z. B. von
den tatarischen Stämmen Sibiriens, das zeigt eine Erregbarkeit,
wie wir sie unter uns nur in nervös krankhaften Zuständen beobachten
können. Die Reflexbewegungen des Negers führen buchstäblich
aus, was wir in übertriebener Ausdrucksweise als Folgen
von Erregungen hinstellen, wie: Rad schlagen bei freudvollen Warnehmungen.
Solche Ausdrücke beruhen also auf Erfahrung auch
unter uns, obwohl nur auf seltener. Und wenn alles dies noch nicht
wahrscheinlich machen sollte, dass in Folge der Reflexe der
Warnehmungen Laute entstehen sollten, welche articulirte Sylben
und so mannichfacher Gestalt sind, dass sie in ihrer Mannichfaltigkeit
die der Warnehmungen decken könnten, so erinnere
ich an das taube und blinde Kind Laura Bridgmann, welche,
obwohl sie doch ihre Reflexlaute nicht einmal hörte, für jede
Person des Instituts, in welchem sie lebte, einen eigenen Ruf
hatte, der so bestimmt geformt war, dass er von allen diesen
Personen in ihrer Umgebung gewissermaßen als die von dem
Kinde gegebenen Eigennamen verstanden wurde.

490. So wird man es denn nicht allzu gewagt finden,
wenn wir meinen, dass bei den Urmenschen erstlich keine
Seelenerregung vorging ohne eine entsprechende, reflectirte
körperliche Bewegung; und zweitens auch, dass jeder bestimmten,
besondern Seelenbewegung eine bestimmte körperliche entsprach,
welche physiognomisch und tönend zugleich war.

491. Diese Reflexbewegungen bedeuten nun tatsächlich
schon die Seelenerregungen, deren Reflex sie sind; sie bedeuten
dieselben, wie jede Wirkung ihre Ursache bedeutet. Was nun
noch zur Sprache fehlt, ist freilich nicht unwichtig, ist vielmehr
das Wesentlichste, nämlich das Bewusstsein dieser Bedeutung,
die Verwendung der Äußerung. Die bewusste Verbindung
erst der reflectirten Körperbewegung mit der Seelenerregung
gibt den Anfang der Sprache.

492. Wir fragen also: wie vollzieht sich die Conception
der Sprache? wie gestaltet sich ihr springender Punkt? —
Denken wir uns den psycho-physischen Mechanismus des Urmenschen
noch so vollkommen, den Zusammenhang von Leib
369und Seele noch so innig, die Anschauungen noch so lebhaft,
ihre Reflex-Wirkung auf das Stimm- und Sprachorgan noch so
fein und bestimmt, so dass auf jede besondre Warnehmung eine
besondre und zwar die klarste Articulation, eine deutliche Sylbe
dem Munde entführe, wie wir uns das freilich vorstellen müssen;
das alles aber ergäbe noch kein Wort, keine Sprache, so wenig
wie Ächzen und Lachen, so wenig wie der Knall des entzündeten
Pulvers und das Rauschen des Haines. Das Thermometer,
welches uns den Grad der Temperatur ansagt, spricht nicht;
eben so wenig der durch Reflex tönende Mensch. Hier ist
überall bloß Wirkung und Ursache, und es mag jemand diese
aus jener deuten, verstehen: so macht er jene zur Sprache;
wie aber lernt der Urmensch den von ihm durch Reflex ausgestoßenen
Laut verstehen? wie gelangt er zu solchem Deuten?
wie lässt er sich durch ihn etwas sagen? macht ihn zur Sprache?
Warum gewöhnt sich der Mensch nicht daran, zu jeder Warnehmung
auch noch einen Laut zu hören, oder geradezu diesen
als Bestandteil der Anschauung zu betrachten? Hier beginnt
die Arbeit, von der wir oben sprachen, die Arbeit, den Gedanken
in den Laut zu bannen.

493. So geformt; wie die aufgestellte Analogie es erforderte,
enthält diese Frage schon die wichtige Erkenntniss vom
Wesen und Ursprung der Sprache, dass Sprechen auf Verstehn
beruht, dass es an sich Verstehen des eigenen Lautes ist, dass
Verständniss der schöpferische Act der Sprache, ihr Springpunkt
ist. Sprechen heißt wesentlich und vor allem sich selbst
verstehen, seine Warnehmung oder Anschauung oder sein Begehr
aus dem eigenen Laute heraushören. Da nun der aus
dem Laute verstandene Inhalt, die Anschauung, schon Bewusstsein
ist, so ist der Anfang der Sprache der Keim des Selbstbewusstseins.
In diesem Anfange liegt zwar noch nicht ein
selbstbewusstes Subject, aber es steht doch schon etwas Subjectives
als Object im Bewusstsein.

494. Dies wäre also die Frage: wie gelangt die Seele zu
solchem Selbstverständniss? Die Antwort ist, wenn das bisher
Erörterte richtig ist, nicht schwer. Eine Warnehmung sei gegeben;
sie löst eine Sylbe aus. Dieser Reflexlaut wird von
dem Menschen gleichzeitig mit der Warnehmung vernommen
und associirt sich mit ihr. Der einmalige Vorgang könnte
370vielleicht genügen, um die gewonnene Anschauung treu im
Gedächtnisse zu bewaren und den Reflexlaut fest mit derselben
zu associiren. Jedesfalls aber treten Wiederholungen ein. Es
ist zunächst noch kein Grund vorhanden, warum der Vorgang
dann anders verlaufen sollte. Sollte die Warnehmung an Reiz
der Neuheit, an Kraft der Überraschung verlieren, so wäre das
nur möglich durch eine beginnende geistige Beherschung,
durch eine entstehende Besonnenheit. Wenn damit die Kraft,
eine Reflexbewegung zu erzeugen, nachlässt, so ist auch die
Association des frühern Reflexlautes schon so fest, dass er nun
nach jener Art des Reflexes hervortritt, die wir als Nachahmung
bezeichnet haben. So wird allemal durch Wiederholung der
Warnehmung auch die Association mit dem Laute um so fester.

495. Auch ist bei keinem Punkte, der für die Erzeugung
der Sprache in Betracht kommt, die Wirkung der Geselligkeit
außer Acht zu lassen. Der Urmensch liebt die Einsamkeit
nicht. Nur der cultivirte Mensch schließt sich ab. Wir denken
uns also jenen auch bei seinen Warnehmungen in Gesellschaft
mit einigen oder vielen. Sie sind alle körperlich und
seelisch gleich organisirt. Dasselbe Object ergreift alle in gleicher
Weise, und auch der Reflex tritt in gleicher Form ein. Es
mag indessen sein, dass nicht alle gleich erregbar sind, dass
sie es für den Augenblick nicht sind. Einer aber ist darunter,
der besonders ergriffen wird. Er tönt — und es tönen alle in
gleicher Weise, wie mitanklingende Saiten (357—360). Wie
wird hier die Wirkung des Reflexlautes verstärkt! wie fest muss
er sich mit der Gelegenheit, der Warnehmung associiren! Nicht
nur der eigene Laut, sondern derselbe aus dem Munde aller
Anwesenden dringt ihm ins Ohr. Und diese verstärkte Wirkung
denken wir uns wiederholt. Der Laut gehört nun zum
Complex der die Anschauung constituirenden Empfindungsmomente.
So kann bald die Warnehmung nicht mehr gemacht
werden, ohne den betreffenden Laut ertönen zu lassen, noch
anch kann der Laut gehört oder eingebildet werden, ohne dass
die Anschauung erinnert würde.

496. Nicht ein Einzelner hat den Laut ertönen lassen,
sondern die Gesellschaft. Die Gelegenheit, wobei sich dies
ereignete, war vielleicht die Arbeit; jetzt denken wir uns dieselbe
Gesellschaft im Genusse der Ruhe. Die Reihe erlebter
371Bilder steigt in die Erinnerung, und damit werden die Laute
neu erregt. Das beginnt in Einem und findet seinen Widerhall
in allen Anwesenden. So erzählen sie sich gewissermaßen
sowohl sich selbst als auch einander gegenseitig, was sie zusammen
erlebt haben.

497. Es ist aber nicht immer durchaus dieselbe Gesellschaft,
welche gestern zusammen war, die auch heute wieder
vereinigt ist; und im Kreise der Ausruhenden sitzen nicht alle
dieselben, die zusammen gearbeitet haben. Nur ein Teil derer,
die gestern ihre Erlebnisse gemeinsam hatten, sind heute ausgezogen.
Sie haben heute dasselbe etwas anders erfahren als
gestern. Siegeslustig kehrt solche Schaar von der Jagd, von
der Fischerei zurück zu den heute daheim Gebliebenen. Können
sie die Gefährten von gestern sehen, ohne dass ihnen das
Gestrige und das Heutige einfiele? Nun wird beides mit einander
verglichen oder es vergleicht sich selbst. Und dieser
Process geht laut vor, nämlich unter Mitwirkung der Reflexe
des Leibes, der Sprach-Organe und des ganzen Körpers. Und
so erzählt man den andern ungewollt und unabsichtlich, was
man heute gesehen und getan hat, erzählt es unter notwendiger
Mitwirkung der Erinnerung an das gestern Gesehene und Getane,
und so ist Mitteilung da und Verständniss.

498. Zu den Verdiensten Wilhelms von Humboldt um die
Erkenntniss des Wesens der Sprache gehört auch besonders der
tiefe Blick, der ihn lehrte, dass für das Problem des Ursprungs
der Sprache nicht sowohl die Schöpfung der Lautgebilde, als das
Verständniss seitens des Hörenden die größere Schwierigkeit
bietet. Nach unserer Darlegung gehen nicht bloß beide durchaus
neben einander, sondern das Verständniss ist sogar der
geistige Springpunkt der Sprache. Dies mögen noch folgende
Einzelheiten erläutern. Wir müssen uns freilich und wollen
uns davor hüten, uns ein phantastisches Gemälde vom Hergange
des Ursprungs der Sprache in der Urzeit zu entwerfen. Was
ich hier heraushebe, soll aber auch gar nicht den Wert solches
Gemäldes haben; es sollen nicht Hypothesen sein; es sollen
bloß Fictionen sein, durch welche die aufgestellten Gesetze,
nach denen die Sprache entstehen musste, beispielsweise erläutert
werden.

499. Ich lege das größte Gewicht auf die freie Mitteilung
372in Folge der Geselligkeit, als Ausbruch der Erinnerung, als
Drang vom andern gewusst, appercipirt zu sein, in ihm zu
leben, als laut werdendes Selbstbewusstsein. Davon war in den
vorstehenden Paragraphen die Rede. Wir wollen aber neben
dem Genuss und der Ruhe die in der Arbeit, dem Drange der
Umstände, der Not liegenden Antriebe nicht unterschätzen.
Festhalten müssen wir immer, dass die Absicht zur Mitteilung
nicht vorausgesetzt werden darf. Woher sollte diese Absicht
stammen? Wie sollte sie vor der Sprache vorhanden sein können?
Sie kann nur erst entstanden sein, nachdem oftmals unabsichtliche
Mitteilung mit dem angemessenen Erfolge durch
Sprache stattgefunden hat. Denn selbst die Möglichkeit der
Mitteilung muss zuerst als noch unbekannt hingestellt werden.
Der Mensch weiß anfänglich von solcher Möglichkeit, von solcher
Fähigkeit, die er habe, noch gar nichts; er kann sie nur,
nachdem sie tatsächlich und unabsichtlich stattgefunden hat,
durch Erfahrung kennen lernen. Wie aber solche Erfahrung sich
bilden musste, das können wir uns durch die Fälle der Not
noch leichter verdeutlichen. Wie oft bedurfte der Urmensch
auf gemeinsamen Zügen bei drohender Gefahr der Hülfe des
andern! So wünscht er ihn herbei. Die bloße Erkenntniss
der Gefahr, aber auch das Verlangen nach Hülfe entringt der
Brust den Schrei ganz ohne Absicht. Ebenso unwillkürlich
aber wendet sich der hörende Begleiter nach der Richtung, aus
welcher der Schrei zu ihm dringt; und unmittelbar deutet, also
versteht er den Schrei als Hülfe-Ruf und eilt hinzu. — Oder
einer ist im Sichern, sieht aber den andern in einer von diesem
nicht bemerkten Gefahr. So wünscht er ihn aufmerksam, er
solle auf der Hut sein, sich wehren. Sei es dieser Wunsch,
sei es zur Warnung — ein Ruf wird sich ihm entreißen, den
der andre hört und beachtet. Überwiegt im Rufenden die
Besonnenheit, so wird es nicht bloß eine Interjection sein, die
er ausstößt, sondern das eingetretene und das gefürchtete Ereigniss,
der gefährliche Gegenstand oder Umstand, der plötzlich
erschienen ist, wird als wargenommenes Object im Ausrufe bezeichnet.
— Oder es sieht einer einen andern in einer gewissen
Entfernung gehen. Er vermutet, wohin dieser will, und wünscht
ihn zu begleiten oder zurückzuhalten, wünscht so oder so, er
möge still stehn und ihn erwarten. Dieser Wunsch, den andern
373zum stehn zu bringen, setzt die Arme in Bewegung, um ihn
mit diesen Hebeln festzuhalten. Die sind freilich zu kurz, und
er greift nur immerfort in die leere Luft. Um so mehr steigert
sich seine Ungeduld, sein Wunsch; die Bewegung der Arme
wird lebhafter, aber auch der Atem und das Lautorgan spannt
sich und die Anspannung entladet sich in einem st oder sonst
einem Laute. Der andre hört, und in Folge von bloßem Reflex
wendet er sich nach dem Rufenden und sieht ihn immer
noch die Arme bewegen, winken. Jetzt versteht er Ruf und
Wink um so leichter, als dieser nun sich laufend ihm zu nähern
sucht. — In allen solchen Fällen bilden sich Reihen von Warnehmungen,
die, wie sie zeitlich verlaufen sind, sich associiren.
Bei der nächsten ähnlichen Gelegenheit, die dem einen oder
andern begegnet, werden dieselben Ursachen denselben Erfolg
haben; aber außerdem wird noch die Erinnerung an den ersten
Fall selbst unbewusst zum Ausstoßen desselben Lautes mitwirken.
— Also: tatsächlich stattgehabte, obwohl gar nicht beabsichtigte,
Äußerung durch einen erpressten Ruf; Verständniss
desselben durch den Hörenden, und in Folge der Beobachtung
des Erfolgs auch durch den Rufenden: dies erzeugt Sprache,
dies ist die Conception derselben, die Apperception des Lautes
als eines bedeutungsvollen, mitteilbaren. So befestigt sich der
Drang und erhebt sich allmählich die Absicht zur Mitteilung.

500. Demnach ist es schon uranfänglich nicht eine bloße
Association des Reflexlautes mit der Warnehmung, worauf
Sprache beruht; sondern diese rein mechanisch sich vollziehende
Association wird durch den Überblick über die ganze Reihe:
Warnehmung, daran geknüpfter Wunsch, aus beiden entspringender
Laut, Wirkung desselben auf den Hörenden, und andrerseits:
gehörter Laut, Achtung auf den Rufenden, Umblick über
die Lage der Sache und Personen, Vermutung über den Wunsch
des Rufenden und Bestätigung dieser Vermutung durch den
Erfolg des demnach eingerichteten Benehmens, nämlich die Befriedigung
beider — durch die beiderseitige Überschau dieser
beiden Reihen, sage ich, wird die Association des Lautes mit
der Warnehmung appercipirt. Damit hat aber einer den andern
appercipirt, sich in dessen Bewusstsein gesetzt und das
Bewusstsein des andern in sich gesetzt. Nicht bloß Objectives
ist gedeutet, wie in der Warnehmung eines Dinges geschieht,
374sondern Subjectives. An der Deutung des Lautes erwacht die
Deutung des Subjects, sowohl des andern als seiner selbst.

501. Wir könnten uns den Einwand machen, dass eine
Warnehmung so wenig mit dem durch dieselbe ausgelösten
Reflexlaute eine Association eingehn müsse, wie mit irgend
einem andern Geräusche, welches zufällig gleichzeitig erfolgt.
Denn zum Inhalte der Anschauung, könnte man meinen, wird
der Laut ja doch nicht gezogen. Indessen liegt schon so viel
auf der Hand, dass der Reflexlaut sich dadurch als nicht zufällig
erweist, dass er, und immer derselbe, immer dieselbe Warnehmung
begleitet. Diese gleichmäßige Wiederkehr des Lautes
mit der Warnehmung, ja sogar mit der erinnerten Anschauung
associirt ihn als wesentliches Element mit derselben. Indessen,
fragen wir nun weiter, da jede Association auf einer Verbindung
beruht, welche einen Inhalt hat, auf einem Verbindungsmerkmal,
wo oder was ist dieses für den Laut und die Anschauung? —
Hierauf müssten wir antworten: die erprobte Kraft der Mitteilung
und der Erinnerung ist es, welche den Laut mit der
Anschauung verbindet und diese zur Bedeutung des Lautes
macht. Und wir könnten uns mit dieser Antwort begnügen.
Es kommt jedoch noch ein besondres Moment in Betracht.

502. Wir wissen, dass jede Warnehmung und Erinnerung
auch Gefühl ist. Derselbe Erregungszustand, welcher nach seiner
objectiven Seite zur Warnehmung oder Erinnerung ausgedeutet
wird, ist nach seiner subjectiven Seite Gefühl. Reflexbewegungen
auslösen vermag solcher Zustand natürlich nur als Gefühl, als
etwas was zum Leibe gehört. Genau genommen müssten wir
allerdings sagen, nur Gefühle verursachen Reflexbewegung; nur
verhindert diese Wirkung nicht, dass dieselben Gefühle zugleich
auch als Empfindungen erfasst werden. Wenn nun die Reflexbewegungen
von uns selbst wiederum wargenommen werden,
so müssen sie sich auch mit den Gefühlen, durch welche sie
jedesmal hervorgebracht sind, associiren. Außerdem aber erregt
auch die Warnehmung der Reflexbewegung selbst wieder ein
Gefühl. Es liegt doch nahe anzunehmen, dass das Gefühl, von
welchem der Reflex ausgeht, und dasjenige, in welches er übergeht,
so viel wie möglich verwant sein werden. Wenden wir
dies auf den Sprachlaut an, insofern er ein Reflex ist, so würde
375der Warnehmung jedes einfachem, wie noch mehr jedes zusammengesetztern
Lautgebildes ein Gefühl innewohnen, das mit
dem Gefühl, welches mit der reflectirten Objects-Warnehmung
gegeben ist, in Verwantschaft steht. Diese im Gefühl gegebene
Verwantschaft zwischen Laut und Bedeutung ist der innerste
Grund ihrer Verbindung und Association. Gemeint ist hier,
wie der Leser schon angenommen haben wird, die von Plato
zuerst aufgedeckte, dann zu allen Zeiten der Beachtung sich
aufdrängende Erscheinung der sogenannten Onomatopöie. Diese
unbeachtet lassen wollen, ihren tatsächlichen Bestand läugnen,
nenne ich eine Laune, welche ihre Entschuldigung nur darin
findet, dass man bis in die neueste Zeit nicht die Mittel besaß,
jene auffallende Erscheinung psychologisch zu begreifen und
mit der neu gegründeten, wissenschaftlichen Etymologie in
Übereinstimmung zu bringen. Man müsste sich Gewalt antun,
um die Onomatopöie nicht anzuerkennen. Nehmen wir sie hier
als Urgrund der Sprache, so müssen wir ihr Wesen ausführlicher
darlegen.

b) Wesen der Onomatopöie.

503. Onomatopöie ist eine gewisse Ähnlichkeit, welche
zwischen dem Laute und der von ihm bedeuteten Anschauung
besteht. Nur muss man den Gedanken fahren oder nicht aufkommen
lassen, als wäre sie eine absichtliche Lautmalerei. Dagegen
ist für keinen Punkt zu vergessen, dass sie ein Reflex
ist, zunächst des Gefühls, dann mittelbar der Warnehmung, und
endlich, durch diese vermittelt, auch des Objects; sie ist also
ein Reflex der Wirkung des Objects auf das Subject. Die
Einwirkung des Objects auf das Subject wird im Laute vom
Subject nach außen zurückgeworfen. So kann die Onomatopöie
auch Schallnachahmung sein, nämlich wenn sie der Reflex von
Schallwellen ist, welche in das Bewusstsein dringen. Dann
gehört sie zu den nachahmenden Bewegungen von 354, 5)
357—360. Wenn also Heyse (System S. 72 f.) unterscheidet
Empfindungslaute (teils subjective, wie der Schrei des Schmerzes,
das Jauchzen der Freude, teils objective, wie Laute des
Staunens, des Ekels, Schallnachahmungen und endlich Laut
geberden, st, he, brr, so ist das ganz richtig classificirt; aber
376alle diese Classen müssen zunächst und wesentlich als identisch
genommen werden, nämlich als Reflexe. — Um nun die Schallnachahmung
für den Ursprung der Sprache fruchtbar zu machen,
nahm Heyse zugleich noch ein anderes Prinzip hinzu, das der
Lautmetapher (S. 94): „Es ist nichts natürlicher, als dass ein
Sinnes-Eindruck, welchen das Gesicht, das Gefühl u. s. w. empfängt,
gleichsam übersetzt wird in einen analogen des Gehörs.
So wird mithin eine Warnehmung irgend eines andern Sinnes
durch ein Lautgebilde ausgedrückt, welches durch das Gehör
auf den innern Sinn denselben oder einen ähnlichen Eindruck
macht, wie die zu bezeichnende Warnehmung sie durch jenen
andern Sinn hervorbringt. Auch ist uns die Anwendung derselben
Wörter auf analoge Eindrücke verschiedener Sinne ganz
geläufig. Vergl. helle Töne und Farben; sanft, scharf, hart,
grell, süß, weich u. s. w. Ein Blindgeborner (Saunderson) äußerte
auf die Frage, welche Vorstellung er sich von der roten Farbe
mache, sie müsse dem Klange der Trompete ähnlich sein.”
Auch diese Tatsache ist richtig; nur darf sie nicht als Metapher
gefasst werden; sie erklärt sich vielmehr aus der Natur des
Reflexlautes, wie er soeben (502) bestimmt ist. (Vergl. auch
Volkmann, Grundriss der Psychologie §. 26. Lazarus, Leben
der Seele II. S. 321. L. Tobler in Zeitschr. f. Völkerpsych.
I. 362—378.)

504. Keine Empfindung trägt eine so große Gefühls-Erregung
in sich, als die des Gehörs. Das Gesicht ist bei weitem
weniger gefühlvoll. Es gibt unreine Farben, es gibt disharmonirende
Farben: sie sind unangenehm. Aber ohne Übertreibung
schmerzhaft sind nur Schälle und Dissonanzen. Das geht bis
zur Erregung wirklicher Mitgefühle: der grelle Ton wird in den
Zähnen schmerzhaft gefühlt. Reine einfache Töne, wie sie die
Stimmgabel gibt, wirken freilich eben so matt, wie Farben.
Solche Töne aber erhalten wir eben selten; die Klänge der
musikalischen Instrumente sind zusammengesetzte Töne, und
alle Geräusche der Natur sind verwirrte Töne. Und daher mag
nun eben die Wärme des Gehörs und die Kälte des Auges
rühren, dass letzteres eine bessere Vorrichtung zur Zerstreuung
oder Ausbreitung der empfangenen Licht-Eindrücke besitzt,
worauf seine Raum-schaffende Kraft beruht. Das Gehör hat
solche Vorrichtung nicht; es ist vielmehr dazu bestimmt, viele
377Erregungen, die zugleich erfolgen, zu einem einheitlichen Eindrucke
zusammenzufassen und Erregungen, die in der Zeit-Reihe
folgen, auf einander zu beziehen und daraus ein ideales
Ganze zu bilden. Das Ohr ist insofern ideeller als das Auge,
als es Kaum und Zeit aufhebt. Daher vermag diejenige Kunst,
die sich an das Ohr wendet, die Musik, mehr Gegensätze zusammenzufassen
als irgend eine andre. Die Kraft aber, die
sich nicht extensiv zerstreuen kann, wirkt um so voller intensiv.
— Wie dem auch sei, die Tatsache steht fest, dass die Musik
die geistigste und doch die ergreifendste Kunst ist. Und nicht
nur die lebendigsten Gefühle gibt das Ohr, sondern auch die
mannichfachsten. Die Klänge und Geräusche sind fähig, jede
Stimmung zu erzeugen. Sie wirken nicht nur auf das Gehör,
sondern lösen auch Reflexbewegungen aus, welche dann wieder
Gefühle erzeugen. Musik beeinflusst die Inspiration, durch
welche unser Gemeingefühl so stark bestimmt wird.

505. Die Sprache gebietet aber über sehr mannichfache
Mittel. Die Vocale erstlich sind verschiedene Klänge; und wie
anders wirkt i als u. Länge und Kürze, gleichmäßige Dehnung
und allmähliches Verhallen oder plötzliches Abbrechen, Sinken
und Steigen des Tones mit Dehnung und Abbruch in mehrfacher
Form verbunden, geben eine Fülle von Variationen der
Vocale und ihrer Wirkungen. Dann die consonantischen Geräusche,
explosiv wie k, t, p oder continuirlich wie f, s; diese,
ohne Intonation, werden sogleich andre Laute mit Intonation.
Nun die Diphthonge und die syllabischen Verbindungen von
Vocal und Consonant; jedes Element wirkt in andrer Verbindung
anders. Das u in pu ist verschieden vom u in ku, das i
in ki vom i in pi, und das k in ka ist nicht dasselbe wie das
k in ki. Nun kommen die zwei- und dreiconsonantigen Sylben,
in denen wiederum jedes Element je nach der Verbindung seine
Wirkung umgestaltet. Die Gefühlsqualität von pat z. B. ist
nicht die Summe von p + a+t, sondern eine aus der Verbindung
ganz neu entstandene, der Sylbe als Einheit angehörige.

506. Mit all dem soll nur gesagt sein, dass der Laut
durch das Gehör die Fähigkeit besitzt, die mannichfachsten
Gefühle darzustellen, wie wir auch schon wissen, dass der Atem
und das Lautorgan besonders empfänglich sind für Reflexe.
Darum ist der Laut so mitteilungsfähig. Die Eindrücke auf
378das Auge dagegen sind freilich zarter. Schon das Element,
welches uns Licht und Farbe zuführt, ist ungleich schwächer,
als die Luft, die uns den Schall zuträgt. Daraus aber folgt
doch nicht, dass das Gesicht nicht viele Reflexbewegungen auslöse.
Selbst, wenn es unmittelbar gar keine oder nur unmerkliche
Gefühls-Erregungen hätte, so würde es solche durch seine
notwendige, innige Verbindung mit dem Tasten und den Bewegungsgefühlen
mittelbar erhalten, und zwar sehr mächtige.
Wir haben des Zusammenhanges des Sehens mit Bewegungen
schon öfter gelegentlich gedacht. Auch hier können wir wieder
nur daran erinnern, was die Physiologie ausführlich darlegt, dass
die Schöpfung räumlicher Anschauungen auf Bewegungen des
Auges und damit sich verbindenden Bewegungen der tastenden
Organe, auch der Glieder und des ganzen Leibes beruht. Wie
das Auge keine Fläche ohne Bewegung sieht, so fühlt man das
Rauhe und Glatte ebenfalls nicht ohne Bewegungen, sondern
indem man etwa mit der Hand über die Oberfläche des Körpers
hin und her fährt. Wie kann man also das Rauhe und Glatte,
Spitze und Stumpfe sehen ohne Gefühl? Leibesbewegungen und
Gliederbewegungen lehren Räume messen; so kann man auch
keine Bewegung im Räume sehen, ohne dass associirte Bewegungsgefühle
wach würden. Darauf beruht es, dass das Auge
besonders die von uns sogenannten (354) Nachahmungsbewegungen
auslöst. Demnach dürfte sich vielleicht die Hypothese rechtfertigen,
dass Gehörs-Eindrücke sich besonders auf die Atmung und
den Kehlkopf reflectiren, Gesichts-Warnehmungen aber auf das
eigentlich bewegliche Sprachorgan, die Zunge.

507. Der Anblick einer ruhenden einfach und sogar mehrfach
gefärbten Fläche mag uns sehr ruhig, träge lassen. Die
Warnemung bewegter Dinge muss nach Vorstehendem lebhafte
Erregungen verursachen. Sie zwingt das Auge zu Bewegungen,
und sie kann sehr mannichfach sein. Ein die Ebene herabrollender
oder aus der Höhe durch die Luft fallender Körper,
eine rollende Kugel oder ein ungleich eckiger Körper, ein im
Bogen oder gerade aus horizontal fliegender Stein, der Flug
des Falken oder der fllatternden Taube, oder der Schwalbe, der
Lerche, die mannichfachen Bewegungen der vierfüßigen Tiere
und des Gewürms — wie verschieden lenken sie das Auge. —
Aber selbst der Anblick des Ruhenden. Das Ding liegt still,
379und das Auge mag daran haften; aber das Bewusstsein ruht
nicht. Das Ding hat sich verändert, und indem wir es in diesem
Augenblicke so sehen, erinnern wir uns, es gestern anders gesehen
zu haben, und das Bewusstsein führt uns die Umwälzung
des Dinges vor, die stattgefunden haben muss. — Endlich aber
kaum eine wargenommene Bewegung ohne Geräusch. Auge und
Ohr wirken zusammen, und der Tastsinn schließt sich ihnen
überall an. So sind allemal auch Bewegungsgefühle da, und
nicht nur die ausgeatmete Luftsäule wird verstärkt, das Stimmband
gespannt, sondern auch die Zunge wird bewegt und der
Mund geöffnet. So entsteht ein Reflexlaut von ähnlicher Gefühlsqualität
wie die Warnehmung, unmittelbar, selbstverständlich,
ohne Metapher. Es ist aber für die Abschätzung der Gefühlsqualität
des Lautes auch nicht zu vergessen, dass dabei
nicht bloß der unmittelbare Eindruck des Lautes an sich auf
das Gehör in Betracht kommt, etwa wie auch der Klang eines
Instruments, sondern dass auch die Bewegung der den Laut
articulirenden Organe Bewegungsgefühle erzeugen, welche sich
mit jener Wirkung des Lautes auf das Ohr verbinden. Dies
gilt für den hörenden nicht minder als für den lautenden.
Denn der hörende empfängt den Laut des andern mit der ganzen
Wirkung, den derselbe für den Lautenden selbst hat, indem der
gehörte Laut mit der Bewegung associirt ist, durch welche er
erzeugt ist. Der gehörte Laut bringt also im hörenden zugleich
den ganzen ihn erzeugenden leiblichen Process in Erinnerung
und damit auch die Bewegungsgefühle, welche dieser Process
veranlasst. Bewusst wird freilich nur die Laut-Empfindung und
das angegebene Gefühl, Denn von der ganzen Bewegung,
welche einen Sprachlaut erzeugt, kommt ja auch nur das Bewegungsgefühl
zu Bewusstsein, während die Bewegung selbst
unbewusst bleibt. Welche Bewegung des Mundes die Sylbe
pat erzeugt, weiß das einfache Bewusstsein nicht; dennoch wird
die Bewegung gefühlt, während allerdings vorzugsweise die von
ihr bewirkte Laut-Empfindung ins Bewusstsein dringt. Ist aber
dem so, so gehen auch diese Bewegungsgefühle mit den Lauten
eine Verbindung ein, die sich in der Erinnerung derartig geltend
macht, dass mit der empfangenen Laut-Empfindung die Gefühle
der diesen selben Laut erzeugenden Bewegungen wach werden.

508. Das onomatopoetische Gefühl erstirbt nie: es ist eine
380psycho-physische Tatsache. Wandelbar freilich ist alles; und
wenn man meint, die Tatsache des Lautwandels, vermöge dessen
heute kein Wort mehr so lautet, wie in der Urzeit, spreche
gegen das Princip der Onomatopöie — wenn man meint, dieses
fordre Unwandelbarkeit der Urwörter, so vergisst man, dass für
die Sprache noch ganz andre Ursachen wirken. Wir werden
solche bald aufsuchen. Indem wir aber zunächst die Tatsache
hinnehmen, dass alle Wörter der Ursprache oder Ursprachen
vielfältig in ihrem Lautbestande abgeändert wurden, bis sie zu
uns kamen: verweisen wir doch auf die nicht minder sichere
Tatsache, dass wir z. B. im Deutschen heute noch unzählige
Wörter mit onomatopoetischer Wirkung besitzen, wie mild, spitz,
weich, hart, sanft, rauh, Donner, Blitz, zucken, Zorn, Grimm,
Wut u. s.w. Wenigstens für unser Sprachgefühl sind hier onomatopoetische
Wirkungen unläugbar, wenn auch der Etymologe nachweisen
kann, dass wir hier gar nicht vor alten Gebilden stehn.

509. Die poetische und auch die prosaische Redekunst
aller Völker macht von der Onomatopöie noch einen ganz andern
Gebrauch. Sie drückt das, was sie darstellen will, in
Wörtern aus, welche durch die ganze Reihe von Klängen und
Geräuschen eines Satzes den dargestellten Gedanken gleichsam
mit einer entsprechenden Melodie begleiten, ohne dass darum
die einzelnen Wörter onomatopoetisch wären, wenn auch eins
oder das andre sich darunter befinden mag. So ist in dem
berühmten Verse

αὖτις ἕπειτα πέδονδε ϰυλίνδετο λᾶας ἀναιδής

nur ϰυλ eine onomatopoetische Wurzel; aber alle übrigen Wörter
wirken ohne Rücksicht auf ihre eigene Bedeutung zu demselben
Eindrucke hin. Ebenso in

Die Werke klappern Tag und Nacht
klappert nicht bloß klappern, sondern auch Werke und Tag
(= Tak). In

Quamquam sunt sub aqua, sub aqua maledicere tentant
quaken die Frösche recht schön, aber in keinem Worte, sondern
im Satze. *)38 — Wir haben in unserer deutschen Poesie
tausend Beispiele, wo ohne onomatopoetische Wörter der Klang
die Stimmung höchst ergreifend malt. Es geht aber dergleichen
381wie auch dem malerischen Ausdruck der Musik: bei aller Macht
und Entschiedenheit des Gefühls bleibt es schwer oder unsicher
zu sagen, worauf die Wirkung beruht. Mit Recht ist (Werneke,
über die Bedeutung des Lautes in der Sprache) auf das Gebet
Gretchens im Faust verwiesen, als auf ein Muster von Laut-Musik;
aber das durchtönende ei scheint mir nicht der klagende
Schmerzenslaut zu sein, als vielmehr Ausdruck der innigen
Sehnsucht, des Verlangens mit Hingabe des eigenen Selbst, wie
es gleich mit dem ersten Worte „ach neige” anklingt.

510. Noch eine Erfahrung aus der Kinderstube finde hier
Platz. Ein Mädchen von fast anderthalb Jahren (es fehlten
noch zwei Wochen) ward von mir an das Fenster getragen, um
es hinaussehen zu lassen. Der Blick ging auf den Fluss, und
zwar gerade auf einen Kahn, aus welchem Fässer ans Ufer gerollt
wurden. Ich sagte ihr: Siehst Du! da! Sie sah den Vorgang,
wie man ihr anmerkte, und sagte: lululu (unbestimmtes u). Es
verdient hinzugefügt zu werden, dass man von dem Geräusche der
rollenden Fässer nichts hören konnte; es gab nur eine Gesichts-Warnehmung.
Den folgenden Tag griff sie meine Hand und
wollte mich offenbar ans Fenster ziehen; denn sie wies dabei
auf dasselbe und sagte: bulululu. Sie bewegte nämlich die
Zunge, bis zu den Lippen vorgestreckt, von einer Seite zur
andern. Sie kannte damals schon die Zwirn-Rolle und nannte
sie mit undeutlichem r: rolle. Sie sprach und verstand damals
schon manches Wort; aber die Aussprache war noch sehr
mangelhaft. Vierzehn Tage nach dem erzählten Vorfalle war
dieselbe Kleine zugegen, als ein Tisch ausgezogen ward. Dabei
war man unvorsichtig verfahren und hatte versäumt, die Hülfsfüße
herauszunehmen, welche, so lange sie nicht gebraucht
wurden, im Tische lagen. Diese rollten nun unter großem Gepolter
herunter. Die Kleine erschrak darüber, ward dann zu
mir gebracht, und sie erzählte mir: bulululu. — Abermals fast
14 Tage später ward sie gefragt, was sie gespielt habe, und
sie antwortete: dullrullul. Man hatte nämlich ein Geldstück
dahin rollen lassen. — Wiederum mehr als 14 Tage später,
ward sie aufgefordert, mir zu erzählen, was sie geschenkt bekommen
habe, und sie sagte: lulhälu. Sie meinte Tonkugeln
(sogenannte Murmelsteine). Das Wort Ball kannte sie schon
382seit längerer Zeit, benannte aber die Kugeln nicht mit diesem
Worte. Dagegen nannte sie etwas später medicinische Pillen
Balle. — Neun Wochen nachdem sie die Fässer zum ersten
Male rollen gesehen hatte, brachte ich sie wieder an das Fenster
zu demselben Schauspiel, und gefragt, was ist das? antwortete
sie lulu. Mehr als acht Tage später spielte sie mit einem Dreier,
warf ihn hin, und als er rollte, sagte sie lululu. Dass sie damit
das Rollen bezeichnete, ergibt sich daraus, dass sie einen
Dreier Taler nannte. Dagegen nannte sie das Armband lulu.
Sie kannte aber schon manches Wort, nur dass sie undeutlich
aussprach. Ihr Wortvorrat mehrte sich in normaler Weise,
und nicht lange, so sprach sie auch mehrere Wörter zum Ausdrucke
eines Inhalts zusammen, bildete also gewissermaßen
Sätze. Nichts desto weniger bemerkten wir, dass sie im Alter
von zwei und zwanzig Monaten noch nicht in dem Maße
Herrin ihrer Zunge war, um sie absichtlich herauszustrecken.
Ward sie aufgefordert, dies zu tun, so bewegte sie die Zunge
erst mannichfach im Munde, ehe es ihr gelang, sie hervorzubringen.
All ihr sprechen war also mehr noch unabsichtlicher
Reflex. So brachte sie auch die Zunge augenblicklich
zum Munde heraus, wenn man selbst nach der Aufforderung,
dies zu tun, es ihr vormachte. Dann wirkte eben wieder der
Reflex (359). Als noch ein Monat zu zwei Jahren fehlte, also
etwa ein halbes Jahr nachdem sie zuerst die rollenden Fässer
gesehen hatte, nannte sie runde Servietten-Bänder von Silber;
blbl. Doch sprach sie damals schon Sätze mit Subject, Prädicat
und Object. Vierzehn Tage vor dem vollendeten zweiten Jahre
sprach sie beim Anblick der gerollten Fässer durch das Fenster:
ölöl. Nun sagte ich zu ihr: Leute rollen Fässer. Tags darauf
sagte sie mit undeutlichem r: rollen. Als sie aber fast volle
vier Jahr alt war, nachdem sich ihre Sprache eher noch über
das durchschnittliche Maß bei Kindern hinaus entwickelt hatte,
als dass sie zurückgeblieben wäre, sah sie eines Tages zu, wie
ich die Wanduhr (eine sogenannte Regulator-Uhr) aufzog, was
sie schon öfter getan hatte. Ich machte sie aufmerksam auf
das Rollen des Rades am Gewicht. Dieses und das Drehen
des Schlüssels erweckte bei ihrer gespannten Aufmerksamkeit
dieselbe Reflexbewegung der Zunge, wie das Rollen der Fässer.
Das knarrende Geräusch blieb ohne Wirkung:.383

511. Ist demnach das onomatopoetische Gefühl und der
Laut-Reffex eine nachweisbare Tatsache, so dürfen wir es auch
theoretisch oder hypothetisch als Princip der ursprünglichen
Sprachschöpfung hinstellen. Die Frage wäre nun, ob es auch
historisch als tatsächlich erwiesen werden könne. Diese Aufgabe
gehört nicht hierher, wo wir nur die Sprache als eine allgemein
menschliche Function betrachten, sondern in den zweiten
Teil, wo uns die Sprachen der Völker vorliegen werden —
nicht hierher, wo uns die Erkenntniss der Gesetzlichkeit genügt,
sondern dorthin, wo die gegebenen Tatsachen gemäß jener Gesetzlichkeit
zu begreifen sein werden *)39.384

c) Sprechen und Verstehen.

512. Wir haben durch die Betrachtung- der Onomatopöie
das Wesen des Sprachlauts genauer erkannt und knüpfen wieder
an 500 an. Dort hatten wir gesehen, dass Sprache darauf
beruhe, dass man sich selbst und einander verstehe. Wir können
jetzt hinzufügen, dass solches Doppel-Verständniss der
beiden Subjecte auf dem Verständnisse des Lautes beruht. Der
Laut schlägt die Brücke zwischen den beiden, führt das Bewusstsein
des einen in das des andern. Er als Wirkung einer
Sensation in dem einen, wird sogleich Ursache der gleichen
Sensation im andern. Er ist gewissermaßen ein Nerv, der die
beiden Personen verbindet und die Erregungen der einen auch
der andern zuleitet. Doch muss man sich diese im Verständniss
gegebene Vermittelung der beiden Personen nicht als eine
passive denken. Der Laut wirkt nicht wie ein übertragener
Ansteckungsstoff und eine Impfe. Geist ist immer Action. Ich
höre einen Laut; der weckt in mir ein Gefühl — gut, so ist
ein Gefühl in mir. Das ist noch kein Verständniss. Dieses
erfordert allemal eine sie bewirkende Tätigkeit, Deutung. Der
Laut, der verstanden sein soll, muss gedeutet werden. Es
deutet aber der Hörende den Sprechenden und zugleich den
Laut, indem er die Sensation, welche der Laut in ihm erregt,
als eine solche ansieht, welche im andern lebt;, sich in diesem
laut gemacht hat, und welche nun ihm aus dem andern zutönt.
Und der Sprechende versteht sich selbst und seinen Laut, indem
er den Hörenden deutet, welcher durch sein Tun und
Lauten kund gibt, dass er die Sensation des Sprechenden als
solche aufgenommen hat.

513. Die hauptsächlichste Ursache, warum man früher
das Wesen und den Ursprung der Sprache missverstand, oder
das hauptsächlichste Missverständniss über die Sprache lag
385darin, dass man sie bloß als Mittel zur Mitteilung auffasste.
Man glaubte, der Mensch habe Vorstellungen und Gedanken,
und überdies habe er die Fähigkeit, dieselben im Laute darzustellen.
Wir sehen jetzt schon und werden mit jedem Schritte
unserer Entwicklung besser sehen, wie alles, was der Mensch
über das tierische Bewusstsein, über die Anschauungen hinaus
erlangt, nur mit der Sprache und durch sie gewonnen wird.
Wir sehen jetzt schon und werden immer besser sehen, dass
Sprache Selbstbewusstsein ist, d. h. Verständniss seiner selbst,
Mitteilung des Sprechenden an sich selbst, eine Darstellung
für ihn und eine Auffassung durch ihn, den Redenden selbst,
während sie allerdings zugleich an den andern, den Hörenden
ergeht. Indem man sich durch den andern verstanden sieht,
verstellt man sich selbst: das ist der Anfang der Sprache.

514. Mitteilung ist also allerdings auch nach unserer
obigen Darstellung ein wesentliches Moment der Sprache von
Anfang an. Nur ist erstlich zu beachten, dass die Absicht zur
Mitteilung ursprünglich noch gar nicht bestanden haben kann
Tatsächliche Mitteilung muss ungewollt stattgefunden haben, ehe
die Absicht dazu erwachen konnte. Und zweitens an der unabsichtlichen
Mitteilung erwacht eben das Selbstverständniss.
Man muss eben den Anfang der Sprache so fassen, dass sie
gar nicht im Geiste des Einzelnen an sich entsteht, sondern
aus der Gemeinsamkeit entspringt. Wir haben oben besondern
Nachdruck auf das gesellige Leben der Menschen, zunächst
das ursprünglichste und innigste Zusammenleben der Familie
gelegt und haben gesehen, wie eine Geistes-Gemeinschaft durch
die gegenseitige Apperception der Personen entsteht. Alles,
was sich hier Geistiges erhebt, ist aber gemeinsames Erzeugniss.
Man war physiologisch durch Geburt gleich organisirt und man
stand denselben Objecten gegenüber; also war man auch in
gleicher Weise von den Objecten afficirt und hatte auf diese
Associationen in gleicher Form reflectirt. Man sah und erlebte
und arbeitete zusammen; man ruhte und genoss zusammen,
man freute sich zusammen an sich und an der Natur, man erinnerte
sich zusammen und erzählte einander. Nicht die Arbeit,
nicht Bedürfniss — Freude und Schmerz, die schönen verschwisterten
Götterfunken, entzünden die Sprache; das Herz
springt, das Gefühl strebt nach Gestaltung und bestimmter
386Form; und so brach es in der Urzeit in bestimmten, articulirten
Lauten aus, wie heute noch die Beethovensche Symphonie nach
dem Worte greift. — Wie sollte nun das nicht verstanden werden,
was in Gemeinschaft erzeugt ist? Das Verständniss war
da vor der Mitteilung und Mitteilung war Sein, Leben. Was
der eine dachte, dachte der andere und sprach der andere
aus, wie der erste: das war Sympathie. Wir haben oben
(360) die Wirkung der Sympathie kennen gelernt, Ihre Grundlage
bildet die Gleichheit der mit Übermacht herschenden Vorstellungen.
Bei der Form und der Armut des Lebens in der
Urzeit war die Gleichheit aller Vorstellungen und aller Gemüter
nicht wie in der historischen Zeit die Ausnahme, beschränkt
auf Zeiten, Personen, Bestrebungen, sondern die Regel. Es
konnte noch niemand etwas besonderes für sich haben.

Wie wir bei lebhafter Freude es heute noch sehen, dass
die Stimme jauchzt, das Auge leuchtet, der Fuß und der ganze
Leib tanzt, Alles in elastischer Spannung ist und der ganze
Mensch spricht: so sprach auch der Urmensch: quot membra
tot linguae. Und so verstand er auch den andern mit allen
Sinnen. Keiner sprach bloß aus sich; sondern so lebte man in
einander, dass jeder aus sich und der Seele des andern zugleich
sprach, und so lernte jeder sich im andern verstehn.
Die Sprache ist das Erzeugniss des Gemeingeistes (496), sein
Selbstbewusstsein. Je mehr der Geist sich entwickelte, je bestimmter
die Vorstellungen wurden, um so kälter wurde das
Gefühl; wie sich die Lautsprache hervortat, so wurde die Mimik
des Leibes stummer, — auch unnötiger.

515. Dass alles Verständniss auf Sympathie beruhe, das
geht auch daraus hervor, dass es nur so weit reicht wie diese,
und da aufhört, wo diese schwindet. Hört auf den Streit der
Parteien und ihr werdet vernehmen, wie es unaufhörlich herüber
und hinüber schallet: ihr versteht uns nicht. Wie oft werden
wir, obgleich wir uns klar genug ausdrückten, selbst vom
Freunde nicht verstanden, weil eine zufällige Association einer
Vorstellung mit einer andern in ihm die Sympathie unterbrochen
hatte.

d) Apperception des Objects.

516. Durch die Deutung des Lautes wird nicht bloß das Subject
gedeutet, von welchem der Laut ausgeht, sondern auch das
387Außere, welches als Reiz dem Subjecte den Laut entrang. Das
gilt wiederum für den Hörenden wie den Lautenden selbst;
beide erkennen durch den Laut das Äußere, und so wird ihnen
dieses zum Gegenstande. Durch die bestimmteste Warnehmung
gelangt der Mensch doch nur zu einem Bilde, einer Anschauung.
Wir sind oft genug in der Lage, bei dem deutlichsten Anblicke
zu fragen: was ist dies? Voller würde die Frage lauten: was
ist dies für ein Gegenstand? Die Warnehmung bietet uns also
das noch nicht, was uns ein Gegenstand, ein Object wäre; ein
solches schaffen wir erst aus der Anschauung. Und wie? Wir
müssen die Anschauung deuten, appercipiren (206). Der Urmensch
fragt nicht: was ist dies für ein Object? Denn wir
fragen so, weil es uns eine Ausnahme ist, dass eine Warnehmung
uns nicht augenblicklich ein Object bietet. Für den Urmenschen
ist umgekehrt jede Warnehmung ein Rätsel. Er hat
sich erst, wie das Kind, eine Welt von Objecten aus Anschauungen
zu deuten, und das tut er mit unbewusstem Triebe,
unter unbewusstem Anstoße, Den Anstoß gibt der Laut, und
er gibt noch mehr, auch das Mittel zur Deutung. Wir haben
den Laut eine Leitung zwischen den Subjecten genannt; er ist
auch die Leitung zwischen Subject und Außenwelt. Er entspringt
dem Subject; er ist jedoch associirt mit der Anschauung
vom Äußern. Aber, da er nur der Reflex des Subjects auf die
Einwirkung des Äußern ist, so entstammt er dem Äußern, der
Anschauung; er wird jedoch als subjectiv gefühlt und gehört.
So bildet er die Brücke zwischen dem Innen und dem Außen,
auf welcher das Innere erst vollkommen projicirt und das Außen
erst zum zweiten Male in das Innere aufgenommen wird. Der
Laut ist das Object — nicht der Laut als Gehörs-Empfindung,
sondern nach seiner (onomatopoetischen) Gefühlsqualität. Diese
ist ihm mit der Anschauung gemeinsam; sie ist seine Bedeutung.
Indem der Mensch durch das Gefühl, welches der Laut erweckt,
den Wert und die Bedeutung der Anschauung für sein Gefühl
ermisst, hat er die Anschauung durch den Laut appercipirt und
ein Object gebildet.

517. Versuchen wir diesen Process, der unbewusst vorgeht,
zu formuliren. Die Anschauung besteht aus Empfindungen
= E, und Gefühlen = G. Also P = E + G. Der Reflexlaut
wird ebenfalls empfunden, nämlich als Laut = L, und er ist
388das gleiche Gefühl wie die Anschauung = G. Also A = L + G.
Klar ist so viel, dass eine Verflechtung von A und P eintreten
muss; und zwar werden E und L nicht bloß durch die Verschmelzung
der beiden G mit einander in Zusammenhang gebracht,
sondern sie sind auch dadurch associirt, dass sie, so
oft sie wiederkehren, immer gleichzeitig zusammen auftreten.
Wir haben also eine feste Association vor uns, und es müssen
E und L einander mit gleicher Leichtigkeit reproduciren. Wie
innig aber auch A und P verflochten sind, sie verschmelzen
dennoch nicht; und L kann sich auch nicht mit E unmittelbar
verbinden, d. h. der Laut kann nicht als Empfindungsbestandteil
der Warnehmung gelten (492): denn wie untrennbar sie
auch für das Bewusstsein associirt sind, so tragen sie durch
ihren Ursprung entgegengesetze Verbindungsmerkmale in sich.
E kommt von außen nach innen und wird projicirt; L dringt
von innen nach außen und wird doch nicht projicirt, sondern
durch das Ohr in die Subjectivität zurükgenommen. Dieser
Widerspruch zwischen E und L, die einander entgegengesetzt
und doch mit einander associirt sind, an sich schon groß genug,
erhält seine volle Schärfe erst noch dadurch, dass mit E wie
mit L, mit jedem untrennbar dasselbe G gesetzt wird. Er
treibt zu einer Ausgleichung, welche eine Apperception sein
muss. Dies, wie es sich aus den bloß subjectiven Verhältnissen
des Bewusstseins ergibt, ließe sich vielleicht behaupten selbst
ohne Rücksicht auf die objectiven Veranlassungen, welche durch
die Gesellschaft herbeigeführt werden. Wie wird nun der Apperceptions-Process
verlaufen?

518. Wir haben hier eine Apperception, deren Eigentümlichkeit
offenbar darin liegt, dass beide Momente a posteriori
gegeben sind, sowohl E als L. Der Verlauf wird analog dem
Processe sein, wo beide Momente innere sind. Auch wird es
weder eine identificirende, noch eine subsumirende oder harmonisirende,
sondern eine schöpferische Apperception sein. Es
wird darauf ankommen, jenes M zu finden (303 ff.), welches,
indem es sowohl E als auch L appercipirt, ein Product ergibt,
welches der Erfolg einer Doppel-Apperception ist. Ja noch mehr:
es wird auch E von L, L von E appercipirt werden, indem sie
beide durch M appercipirt werden. Doch dies sind nur die
vier Seiten, von denen aus wir eine und dieselbe Apperception
389betrachten. und deren Product M2 sein wird. — Die Verhältnisse
der Äctivität und Passivität sind hier so mannichfach
verteilt, dass es willkürlich erscheint, wenn hier (517) der Laut
L als A, die Warnehmung als P angesehen wird. Indessen
da der Laut dem Subjecte angehört, verdient er doch wohl
immerhin als verhältnissmäßig a priori und activ angesehen zu
werden. Er hat auch noch den Vorzug, dass, während die
äußere Warnehmung nur einfach hingenommen wird, er dagegen
sowohl in seiner Erzeugung als in seiner Erscheinung, als erzeugende
Bewegung und als Gehörs-Empfindung zu Bewusstsein
kommt. Und drittens (dies wird das wichtigste, das entscheidende
für das Übergewicht des Lautes sein) hat er bei der
Erinnerung an die Warnehmung dieselbe volle Wirklichkeit wie
bei der ersten Erzeugung gelegentlich der wirklichen Warnehmung.
Die erinnerte Warnehmung unterscheidet sich von der
wirklichen sehr entschieden; auch jene wird projicirt, aber in
die Vergangenheit. Der Laut dagegen ist wirklich und gegenwärtig,
wie die Erinnerung; er ist das einzige Moment jenes
Vorganges der Warnehmung, welches auch bei der Erinnerung
wiederum wirklich wird. Er wird wirklich und doch eben so
wenig wie bei der ersten Erzeugung projicirt; er wirkt nur zur
Verstärkung, Vollbringung der Erinnerung. Daher das subjective
Übergewicht des die Warnehmung begleitenden Reflexlautes
über die Warnehmung selbst. Dazu kommt noch die
größere Gefühlsmacht der Gehörs-Empfindungen.

519. Die Erkenntniss vom Übergewicht des Lautes kommt
uns zu Gute für die Frage: wie verteilen sich die Momente
und Phasen des uns vorliegenden Processes über die Bewusstheit;
oder was von dem hier Vorkommenden wird das Bewusstsein
auf sich ziehen und dadurch das Ergebniss des Vorganges
bestimmen, und was wird nur zur Schwingung gelangen und
bestimmt werden? Denn

image

LG2E findet in der Enge des Bewusstseins, zumal bei der
bloßen Erinnerung keinen Raum. Welches Moment also wird sich
im Bewusstsein behaupten? G2 ist unselbständig und kommt nicht
in Frage. Nach Obigem aber wird L das Übergewicht haben.
390Ihm kommt G2 zu Gute, und zwar so dass es aufhört G2
(d. h. G + G jedes in verschiedener Verbindung) zu sein und
zu G2 (d. h. in verstärkter Bewusstheit) wird. L entzieht dem
E sein G. Es teilt sich also LG2E in LG2 + E. Natürlich
nur für das Bewusstsein schließt sich G2 an L; psychophysisch
verbleibt dem E sein G und zwar G2, eben weil E mit L verflochten
ist. Treffen nun E und L im Bewusstsein zusammen,
so wird L das Übergewicht behaupten Und doch mit E so
associirt, und durch dessen G, welches es sich angeeignet hat,
so verflochten bleiben, dass es E immer schwingend erhält.
Dies gilt selbstverständlich von der Erinnerung seitens der
Hörenden: hier wird der Laut in völliger Wirklichkeit gegeben;
L dringt also mit aller Macht ins Bewusstsein und lässt E
schwingen. Anders Im Sprechenden und vollends bei der Warnehmung.
Hier ist E zuerst im Bewusstsein. Indessen kaum
lässt sich sagen: zuerst. Denn es reproducirt durch sein G2
augenblicklich L. Gerade weil L das Übergewicht der Bewusstheit
hat, wird es schneller von E reproducirt, als E von
ihm *)40; und während L das E nur bis zum Schwingen stößt,
treibt E das L in das Bewusstsein. Was aber beim L vorzugsweise
wirksam sein muss, das ist das ihm innewohnende G2,
vor dem das L selbst nicht minder als das E zurücktritt. Und
dieses G2 wird zum appercipirenden Moment, zum A, dem
gegenüber sowohl das L als auch das E zum P wird; und weil
G2 immer gegeben ist, psycho-physisch dem E wie dem L gehört,
niemals aber für sich da ist, so appercipirt E das L und
L das E durch das G2.

520. Wir bringen demnach den ganzen Process der Sprachbildung
in folgende Formeln.

1) Durch die ursprüngliche Warnehmung mit dem Laut-Reflex
ergibt sich LG2E (519), und zwar so, dass G2 überwiegt
und L wie E verblassen.

2) Erwacht in der Gesellschaft die Erinnerung EG2 mit
dem Drange nach Mitteilung, so ertönt ungewollt LG2, und
im Hörenden wie im Erinnernden befindet sich LG2 bewusst,
und EG2 wird reproducirt, sei es bis zum Bewusstsein, sei es
391bis zur Schwingung. Auch hier jedoch ist G2 überwiegend,
so dass L und E vor ihm zurücktreten.

G2 ist also das was durch L hervorgerufen wird, und
wonach dieses schwindet, und ist auch das was aus EG-2 als
eigentlicher Inhalt gilt. Oder G2 appercipirt im Lautenden
EG2 + LG2, und appercipirt im Hörenden dasselbe in entgegengesetzter
Reihenfolge LG2 + EG2.

3) Es gilt also L = E, weil beide durch G2 appercipirt
werden.

4) So wäre für das gesprochene und verstandene Wort
anstatt der allgemeinen Formel

A1 + P = A2

zu setzen:

LG2 + EG2 = LE/EL} G2
für den Hörenden
für den Warnehmenden und
Sprechenden.

521. Laut und Bedeutung sind also nicht associirt, sondern
so ist letztere in erstere hineingearbeitet, dass beide durch
das Gefühl und damit jedes durch das andere appercipirt wird.
Das appercipirende G2 ist das von uns (518) gesuchte M; und
also ist es der Inhalt des in Folge der Warnehmung vom Subjecte
gesetzten Objects. Wir sagen also gemäß 516: der Urmensch
hatte die Warnehmung E, und der Laut L sagte ihm,
es stehe vor ihm das Object G2. Durch die Sprache, den Laut,
deutet der Mensch den andern, sich und das Object, und diese
drei Deutungen sind nur ein Act, das Verständniss des andern,
seiner selbst und seiner Warnehmung — ein Act, nämlich
Deutung und Verständniss des Lautes. — Und so ist nun
Sprache einerseits Erkenntniss, indem sie zugleich Darstellung
ist. Sie ist als solche in Bezug auf den Hörenden Mitteilung
aber zugleich auch für den Sprechenden selbst Auffassung.

522. Erinnern wir uns nun der Forderung, die wir oben
S. 57 ff. durch Analogie erschlossen; wir haben jetzt die Sprache
als Darstellung und Auffassung kennen gelernt. Wie der Künstler
seine Idee in das Material hineinarbeitet, so der Mensch
sein Inneres in den Laut. Den Anfang dieser Arbeit haben
wir kennen gelernt. Was dem Künstler durch Kunstformen
gelingt, erreicht der sprechende Mensch durch die innere Sprachform
(S. 59). Diese ist, wie wir nun wissen, ursprünglich das
392dein Laute mit der Warnehmung gemeinsame Gefühlsmoment.
Sie wird sich weiter entwickeln. Sehen wir uns jedoch zuvor
den Inhalt der primärsten Sprachform näher an, um zu erkennen,
wie sie über sich hinaustreibt.

523. Wenn ein unangenehmes Gefühl in einem Schmerzenslaute
ausbricht, ein angenehmes in einem Freudenrufe, so
ist hier noch nicht eigentlich Sprache gegeben. Denn Gefühl
und Laut sind zwar mit einander verbunden, und jenes stellt
sich in diesem dar; es kann die Absicht, der Wunsch hinzutreten,
der andere möge das Gefühl erkennen, und der andere
wird es auch aus den Tönen erkennen. Dies wäre allenfalls
anzusehen als die Sprache des Gefühls, die tierische Sprache.
Was hier aber fehlt, ist das was die Warnehmung vor dem
Gefühl voraus hat, ein Object. Vielmehr ist hier der Fühlende
selbst Object, Gegenstand der Warnehmung für den andern.
Er gibt sich durch seinen Schrei materiell als fühlender kund,
und so wird sein Schrei nicht auf ein Object, sondern auf ihn
und sein Gefühl gedeutet. Sprache ist Product der Sympathie,
nicht nur im Hörenden, sondern auch im Sprechenden. Die
Sympathie des Subjects mit dem Object bricht im Sprachlaut
aus; hier ist es das eigene Leiden, welches im Schrei kundbar
wird. Wir stehen hier bei einem rein pathologischen Verhältnisse,
einem physiologischen Processe.

524. Wenn nun aber alle diese Gefühlsausbrüche, im weitesten
Sinne des Wortes, noch nicht wesentlich zur Sprache gehören,
so stehen sie ihr doch nahe, zumal wenn man in den
Gefühlen Unterschiede macht. Sie entspringen theils mehr aus
dem Körper, theils mehr aus der Seele. Wenn auf einen körperlichen
Schlag oder Stoß, welcher Schmerz erregt, ein Schrei
erfolgt: so liegt hier die Vermittlung zwischen Schlag und Schrei
rein körperlich, mechanisch, im Centralorgan. Eine Wirkung
der Seele ist hier nicht sichtbar. Es ist auch gleichgültig, ob
der Schrei auf einen Schlag von außen erfolgt, oder auf einen
Schmerz, der rein innerlich im Leibe entstanden ist. Wo die
Seele nicht wirkt, kann keine Sprache sein. Es entstehen nun
aber auch Gefühle, die dem Leibe von der Seele her zukommen.
Sie wirken im Allgemeinen schwächer auf denselben, als
körperliche Gefühle, und ihre körperlichen Ausbrüche sind sanfter,
393zarter; wiewohl wir nicht übersehen, dass ein Seelenschmerz
oft genug den Körper in das erschütterndste Leiden und die
heftigsten Ausbrüche versetzt. Die sanftesten der hierbei ausgestoßenen
Töne werden von der Sprache schon aufgenommen
als das untergeordnete Element der Interjectionen. Nun gibt
es aber Gefühle, die nichts oder nur wenig mit Lust und Unlust
zu thun haben, wie Verwunderung, Überlegenheit, Spott
u. s. w. Diese vorzüglich liefern der Sprache Interjectionen.
Die Interjectionen bilden jedoch noch keinen Redeteil. Sie
ragen aus einer überwundenen Stufe in die Sprache hinein.
Ungebildete haben deren mehr als Gebildete, die südlichen Völker
mehr als die nördlichen.

525. Wenn bei den rein körperlichen Gefühlen und ihrem
Ausdrucke in pathologischen Tönen nichts von innerer Sprachform
auftritt, weil zwischen Gefühl und Laut bloß der physiologisch
causale Mechanismus liegt; wenn auch bei Seelenschmerz
und Seelenlust Bedeutung und Äußerung durch ein bloßes Naturband
an einander geknüpft sind; wenn hier wie dort die Vermittelung
im Geiste fehlt: so tritt bei den zuletzt genannten
Gefühlen, die einen viel bestimmtem Inhalt haben, als Schmerz
und Lust überhaupt, auch schon zugleich etwas von innerer
Sprachform auf, ein Analogon, ein Vorbild derselben. Zwischen
einem Kitzel oder einem Witz und dem Lachen, zwischen dem
Gedanken an einen Verlust und dem Seufzen ist kein deutbarer
Zusammenhang, keine innere Sprachform, Wenn man aber vor
Verwunderung ah! ausruft, so fühlt man einen Zusammenhang:
die Seele wird von einem unerwarteten Anblicke betroffen; die
neue Anschauung findet in dem Vorrathe der früher gehabten
Anschauungen keine, an welche sie sich anschließt; alles, was
in der Seele liegt, wird also zurückgedrängt, die neue Anschauung
nimmt ganz allein das ganze Bewusstsein ein und
will sich darin behaupten. Bei so starker plötzlicher Veränderung
im Bewusstsein leidet die Seele und dadurch auch der
Leib. Man atmet stärker und der ganze Luftweg ist angespannt;
auch die Stimmbänder sind es, und so tönen sie. Daher entsteht
mit vieler Kraft der ursprünglichste, absichtsloseste, reinste
Laut a. In dieser Deutung liegt noch wenig Sprachliches;
aber der Laut a hat noch zu wenig sprachliches Element; er
ist Stimmton und weiter nichts. Nehmen wir dagegen die
394Interjection der Geringschätzung pah! so haben wir hier schon
etwas mehr. Es liegt darin ausgedrückt, man achte eine Sache
nicht mehr als die ausgeschnellte Luft. Dieser Gedanke ist die
innere Sprachform dieser Interjection, das Band zwischen ihrer
Bedeutung und ihrem Lautgehalt. — „Eh, lass mich doch in
Ruhe”; hier ist der ausgestoßene Laut wie eine Hand, welche
zurückstößt. Kurz, wir haben hier schon nicht mehr das Subject
selbst als Object, sondern ein Verhältniss desselben zu Objectivem.

526. Eigentliche Sprache aber beginnt da, wo jemand
nicht sein Verhältniss zu einem Äußeren, nicht ein bloßes Gefühl,
welches nicht zur Empfindung gedeutet wird, austönen
lässt, sondern da, wo das Äußere Empfindungen veranlasst hat,
welche zu einer Warnehmung zusammengezogen sind. Auch
hier ist es das Gefühl, welches tönt, aber ein Gefühl von ganz
anderm Werte. Freilich ist es subjectiv; aber es spricht aus,
was die Warnehmung, das Äußere, dem Subject bedeutet.
Jenes bloße Gefühl beurteilt die Angemessenheit des Zustandes
des eigenen Leibes oder eines seiner Glieder zu den Bedingungen
seines Lebens und Wirkens; das Warnehmungsgefühl
tut gar nichts andres; aber weil die Empfindungen projicirt
sind, d. h. weil das Gefühl als von außen veranlasst betrachtet
wird, so ist auch mit der Beurteilung des eigenen leiblichen
Zustandes sogleich das Urteil über das Äußere gegeben —
freilich nicht über das Äußere an sich, aber über das Äußere
wie es uns Subjecte afficirt, wie es uns erscheint.

527. Der Anfang unserer Erkenntniss ist sehr subjectiv;
der Fortschritt liegt in der Verobjectivirung unserer Subjectivität.
Die Sprache aber ist nicht Anfang der Erkenntniss überhaupt,
sondern der Selbsterkenntniss, des Selbstbewusstseins.
Auch dieses soll immer objectiver, gehaltvoller werden; zu Anfang
aber ist es sehr dürftig; es enthält eben nur den Inhalt der
innern Sprachform, und als solche ein onomatopoetisches Gefühl.
Das Kind, welches pappen hört und spricht, der Urmensch,
welcher vielleicht mit pap (lat. bibo) das Trinken bezeichnete,
mag immerhin nur eine kleine Erkenntniss-Gruppe von diesem
Vorgange haben; indessen sind es doch gewiss mehrere Momente.
Sie kennen die Form der Tätigkeit als Mundbewegung
überhaupt und außerdem das Behagen, welches dadurch herbeigeführt
395wird, auch die Erregung des Geschmackes. Dies ist
Erkenntniss von Objectivem. Das Selbstbewußtsein von diesem
Inhalt hebt nur das erstgenannte Moment heraus, die Mundbewegung,
und auch dieses nur mangelhaft, nicht die Bewegung
der Zunge, das Kauen und Schlucken, sondern nur die Lippenbewegungen;
denn nur diese liegen in dem Reflexlaut pap. —
Unser Wort plump ist noch ganz die Interjection plumps, plautz.
Wie viele Erkenntniss-Momente nun auch in unserer Anschauung
des Plumpen liegen mögen, unser Selbstbewusstsein, insoweit
es in der innern Sprachform des Wortes plump liegt (und
anfänglich lag es ganz darin) erfasst von jenem Inhalte nur was
in diesem Laute liegt, das Geräusch, welches der Fall eines
breit aufschlagenden schweren Körpers verursacht. Mit diesem
Schall appercipirte der Urmensch den Vorgang und sein Wissen
vom Vorgange; er war das Mittel, den Vorgang erzählend mitzuteilen
und sich mitteilen zu lassen, zu sprechen und zu verstehn;
damit verstand er den andern und den Vorgang und
sich selbst. Und damit hatte er sich und den andern als Subjecte
erfasst und den Vorgang als Object gesetzt, das Object
dem andern dargestellt und dasselbe sich selbst vorgestellt.

IV.
Entwicklung der Sprache.

a) Wort und Satz.

Nachdem wir, um in dem Gleichnisse zu reden, das wir
S. 90 gebraucht haben, die Conception der Sprache dargelegt
haben, liegt uns ihre embryonische Entwicklung an.

528. Wir haben bisher die Sprache kennen gelernt als
pathognomische Darstellung von Warnehmungen. Sie
ist ursprünglich eine Laut-Mimik, und als solche, wie jede
Mimik, Reflex; sie ist allerdings, wie jeder Reflex, durch Gefühle
bewirkt, aber nicht durch pathologische Gefühle, sondern
durch Warnehmungsgefühle; sie stellt dar durch Laute, aber
sie ahmt weder durch Laute nach, noch ahmt sie Lauten nach,
sondern sie drückt zunächst die Warnehmungsgefühle durch die
396den Reflexlauten innewohnenden Gefühle aus, und damit stellt
sie den Warnehmungsinhalt dar. Der Gegenstand der sprachlichen
Darstellung, die Bedeutung der Sprache, der Inhalt der
ursprünglichen Rede sind wargenommene Ereignisse, Veränderungen,
Zustände, Tätigkeiten, kurz Anschauungen aller Art,
so weit sie in den Bereich des primitivsten geistigen Lebens
fallen. Der Unterschied des Bewusstseins des Urmenschen auf
dieser Stufe gegen das Bewusstsein des Tieres besteht darin,
dass, wenn auch der Inhalt des Bewusstseins immer noch aus
Anschauungen besteht, doch schon Selbstbewusstsein, nämlich
dargestellte, mitgeteilte und verstandene Anschauung, erwacht
ist. Hiermit ist Menschlichkeit eingetreten. Die hier bezeichnete
Stufe der Entwicklung des Bewusstseins ist auch die des
ungebildeten Taubstummen. Er unterscheidet sich von dem
redenden Menschen dieser Stufe nur dadurch, dass seine Mimik
nicht Laut, sondern eine Geberde, eine leibliche Bewegung ist.
Er ist eben Mensch und wird nur durch den Mangel des Gehörs
an der weitern Entwicklung verhindert; das Tier kommt
niemals auch nur so weit.

529. Ein näheres Eingehen auf den Umfang des geistigen
Besitzstandes dieser ersten Stufe und auf die Materie ihrer
Lautgebilde, weisen wir als unmöglich von uns ab. Wir haben
den Besitz nur zu charakterisiren. Er bestellt aus Reflexlauten,
welche allerlei Vorgänge und Tätigkeiten darstellen. Diese
sind Warnehmungsinhalte, Anschauungen, Bilder. Der Laut
bezeichnete das Ganze, d. h. eine Person oder ein Tier oder
ein Ding in getaner oder erlittener Bewegung oder in den
Folgen solcher Bewegungen. Man hat in der Warnehmung
niemals weder bloß eine Person oder ein Ding, noch auch bloß
eine Bewegung oder einen Zustand, sondern immer beides zusammen,
ersteres im andern, und oft auch mehrere Personen
und Dinge in Beziehimg zu einander. Der Laut bezeichnet
alles dies als Einheit zugleich. Indessen gibt es doch Natur-Ereignisse,
für welche keine Person als tätig erzeugende erscheint:
die Wetter-Erscheinungen im weitesten Sinne. Man
hört auch sonst Geräusche, deren Ursprung man nicht kennt,
oder bei denen die darin begriffenen Dinge gleichgültig sind
oder deren erzeugender Stoff für die Warnehmung ganz in der
Bewegung aufgeht: es saust und braust, es säuselt und brodelt
397und dampft, es rieselt und fließt und rauscht und schäumt, es
klingt und hallt, es pfeift und heult, es weht und tobt, es sprüht
und glüht u. s. w. hier und da in der Natur. Da bezeichnet
der Laut vorzugsweise und fast nur die Bewegung. Viele
Tätigkeiten freilich, ja die meisten, kennt man nur als vom
Menschen geübt; man fühlt die Ausübung der Bewegungen
und auch das Leiden, wenn man das Ziel der Tätigkeit war,
und sieht den Erfolg der Tätigkeit. Man sieht auch eingetretene
Veränderungen und denkt die Tätigkeit oder Bewegung hinzu?
durch welche sie herbeigeführt sein müssen. Was gestern als
Einheit erschien, liegt heute geteilt vor; die Knospe, welche
gestern geschlossen war, ist heute aufgebrochen; das saftige ist
vertrocknet, das fest geformte zerfällt und zerstiebt u. s. w
Kurz, man begreift wohl, wie vorzugsweise die Bewegung, die
Tätigkeit es ist, welche sich dem Bewusstsein als Bedeutung
des Lautet darbietet. Ja, noch mehr, auch ganz ursprünglich
hat aus der ganzen Warnehmung das Moment der Bewegung
die am meisten erregende Kraft; sie lenkt unser Auge, und
das heißt Kopf und Leib; wir hören auch Töne kommen, und
die Hand hin und her führend, tasten wir. Die Bewegung ist
es also auch, welche vorzugsweise im Reflexlaute ausbricht.
Mit der Darstellung der Bewegung aber ist auch das in dieser
Bewegung befindliche mit dargestellt.

530. Denn wie mächtig auch das Moment der Bewegung
ist, so ist doch das Bewusstsein des Urmenschen und des Kindes
kein heraklitisches. Man muss doch wohl im Gegentheil
sagen: keine Bewegung ohne Object, wenn auch zuweilen mit
einem nur undeutlich hinzugedachten Object. So weit Bewegung,
so weit reicht auch das Feste, Gegenständliche. Dieses
ist in Bewegung, übt sie oder erleidet sie, oder die Bewegung
findet statt zwischen Festem. Wenn auch der wahrnehmende
Blick allemal einen weitern oder engern Horizont umfasst, der
dem Kinde zunächst als Einheit erscheint, so ist derselbe doch
schon vor der Sprache und ohne Sprache aufgelöst in einzelne
Gegenstände. Eine geringe Anzahl von Personen kennt das
noch sprachlose Kind und unterscheidet auch alles, was eine
gleichzeitige und gemeinsame Ortsbewegung erfährt als ein besondres
Etwas von dem, was während dieser Bewegung ruht.
Es unterscheidet auch alles, was es nicht gleichzeitig warnimmt,
398oder alles, was es nur nacheinander in Folge einer Bewegung
warnimmt, welche es selbst vollzogen und erlitten hat. Wer
zweifelt, dass ein Kind im zweiten Jahre die Stube von der
Straße unterscheidet? und von beiden die Menschen, die Tiere
und die beweglichen Dinge, und diese von einander? Es mag
anfänglich einen dahinrollenden Wagen mit zwei Pferden für
ein Ding halten; die darin sitzenden Personen wird es schon
nicht mehr damit zusammenfassen, besonders nicht, wenn es
selbst schon öfter gefahren, in einen Wagen eingestiegen, und
wieder hinausgestiegen ist. Und wenn es Gelegenheit hat, einen
Wagen ohne Pferde und die Tätigkeit des Anspannens zu sehn,
so wird es Wagen und Pferd und Kutscher für besondre Gegenstände
nehmen. So muss auch der Urmensch notwendig viele
Anschauungen von Personen und Dingen gehabt haben. Er
kannte Tiere und Pflanzen und von ihm selbst bereitete Gerätschaften
und Werkzeuge. Nur (das darf nie unbeachtet bleiben)
enthält die Anschauung ihre Objecte immer in einer Tätigkeit
oder Lage, so dass es in der Seele anfänglich doch nur volle
Bilder von Vorgängen gab. Ein Gegenstand ist auf dieser
Stufe bloß ein abgeschlossener Kreis wargenommener und möglicher
Bewegungen und Veränderungen, welche Warnehmungen
mit einander verflochten sind.

531. Es kommt jetzt darauf an, zu erkennen, wie der
menschliche Geist von diesem Standpunkte, wo es noch kein
Wort im eigentlichen Sinne gab, zu der Stufe gelangt, wo er in
Sätzen spricht, womit dann eben erst Wörter entstehn. Dieser
Punkt ist der wichtigste in der Sprachbildung und von großer
Schwierigkeit. Wir wollen zunächst suchen, welche Anlässe
und Begünstigungen für diesen wichtigen Schritt die Wirklichkeit
selbst dem Geiste bietet. Wir wollen uns zunächst in der
Kinder weit umsehen, und es sei mir gestattet, Beobachtungen,
die ich an meinen Kleinen gemacht habe, einzuflechten.

532. Das Kind kennt z. B. den Hund, das Pferd. Es
nennt es Wauwau, Hühü. Ob jemals beobachtet worden ist,
dass ein Kind diese Namen gegeben hat? Ich vermute, es
waren immer die Erwachsenen, welche dem Kinde diese Laute
vorgesprochen haben. Die Kinder aber haben sie nachgesprochen
und verstanden. Sie hätten sicherlich weder Hund noch canis,
weder Pferd noch ἵππος verstanden. Unsere Wärterinnen sind,
399wie der Erfolg lehrt, sehr weise Pädagogen — wahrscheinlich
unterstützt durch lange, lange, viel-, viel-tausendjährige Erfahrung;
denn die Wärterinnen der hellenischen und römischen
Classiker haben das baubau der Hunde und das βῆ der Schafe
gewiss nicht erfunden, sondern durch Überlieferung erhalten.
So wird es denn wohl so alt sein, als es menschliche Säuglinge
gibt. Und woher hat es die erste Wärterin? die erste
Mutter? Nun daher, woher sie auch die Milch hat und das
freudestrahlende Auge, mit dem sie den Säugling anblickt. —
Was ist nun dieses Wauwau? Es ist nicht Substantiv, nicht
Verbum oder Adjectiv; es ist nicht Ding, nicht Tätigkeit oder
Eigenschaft; sondern es ist alles, was der Hund ist und tut;
es gilt dem Kinde für alles, was es vom Hunde weiß, ist ihm
das lautliche Äquivalent der sämmtlichen Warnehmungs-Erkenntnisse,
die es von ihm gewonnen hat. Durch Wauwau
wird vom Kinde diese ganze Erkenntniss-Gruppe, diese ganze
verflochtene Anschauungs-Masse appercipirt, vorgestellt, vor
seinem Bewusstsein vertreten. Das Kind hat nun aber den
Hund liegen sehen, schlafen sehen; es sieht ihn aufstehen und
gehen, — drei oder vier Anschauungen, alle identisch und doch
verschieden. Früher oder später sieht es mehrere Wauwaus
und lernt, dass Wauwau schwarz ist und weiß, groß und klein,
denn dem einen dieser Wauwau setzt man es auf den Rücken,
den andern gibt man umgekehrt ihm selbst auf den Schoß.
Haben wir hier nicht schon die Einheit in der Verschiedenheit?
Nicht wenigstens schon tatsächlich? Und muss nicht die Tatsache
bald auch zum sprachlichen Ausdruck kommen? Wird
nicht Wauwau ein fester Punkt, eine Einheit werden, an welche
sich die bemerkten Verschiedenheiten und Veränderungen anreihen?
Also Wauwau wird Subject, und die veränderlichen
Merkmale werden Prädicate. Wauwau hört auf, ein bloßes
Gebell und ein bellendes Wesen zu sein, und wird ein Object,
welches vielerlei tut und auch bellt. — Ja gewiss, dahin wird
es kommen; nur nicht so bald und so leicht, wie es scheint.
Zunächst ist ein Gegenstand, wie Hund, nur ein Kreis vieler
mit einander ähnlicher, also verflochtener Warnehmungen. Sehen
wir uns noch etwas um.

533. Gerade so wie Wauwau (welches wir für ein Substantivum
zu nehmen geneigt sind), das Bellen und den Beller
400und überhaupt den Gesammtinhalt einer Anschauung, den Inhalt
vieler Warnehmungen bedeutet, ohne sich in unsere Redeteile
zu fügen (weil es noch kein Satzteil, kein Wort ist): gerade
so eignet sich das Kind auch andre Laute an, welche wir für
Verba halten möchten, und welche doch ebenfalls eine Gesammt-Anschauung
bedeutet, z. B. baba. Man würde eben irren, wenn
man meinte, baba bedeute unser schlafen. Es ist ebenfalls uralt
(βαυβάω, βαυ-ϰάλημα); aber es bedeutet den gesammten Zustand
des Schlafes, die Person, die Wiege, das Kissen mit inbegriffen.
Wenn nun das Kind sein baba gebraucht, so scheint
es uns bald die Tätigkeit, bald die Wiege, bald bloß das Kissen
u. s. w. zu bedeuten; es bedeutet aber immer die ganze Anschauung.

534. Längere Zeit kann sich ein Kind dabei begnügen,
mit einem Worte eine Anschauung auszudrücken. So sagt es
auch wohl „holen”, um etwas Bestimmtes zu holen, was aus
der wirklichen Gelegenheit ergänzt wird. Es ist überhaupt hervorzuheben,
dass die Zusammenstellung zweier Wörter nicht
zuerst in dem Sinne stattfindet, um Subject und Prädicat zu
scheiden, sondern um die in einer Anschauung begriffenen Personen
oder Dinge besonders auszudrücken. So rief meine Kleine,
als sie von der Mutter auf dem Arme gehalten ward, der Wärterin,
welche hereintrat, zu: Mama baba, d. h. sie wolle bei der
Mama Baba-machen. Sie kam von der Tante nach Hause und
brachte Kuchen mit, den sie von dieser geschenkt bekommen
hatte, und rief der Mutter entgegen: ah ah! kuke tate. Man
sieht, diese Teilung der Anschauung in ihre Factoren liegt
noch näher, als die Zerlegung der Anschauung des Ganzen in
die Teile, und geht der Zerlegung von Subject und Prädicat
weit voran.

535. Die Sonderung einer Qualität von dem Dinge, die
Bildung eines Prädicats von einem Subjecte ist viel schwieriger,
und ist im Vorstehenden noch nicht erklärt, so richtig auch
das 529. 532 Bemerkte ist. Sie ist deswegen so schwer, weil
erstlich anfänglich das Kind viele unterscheidende Momente,
wie z. B. Farben, gar nicht auffasst, und weil dann zweitens solche
Momente, welche es erfasst hat, so lebendig im Bewusstsein
wirken, dass es in Fällen, wo solch ein Moment geändert ist,
Unterschiebungen begeht. Dies trat mir bei folgender Beobachtung
401recht auffallend entgegen. Mein Knabe, gerade ein
Jahr alt, steht (im Sommer) auf einem Stuhle am Fenster.
Fliegen schwärmen umher, namentlich an den Scheiben. Es
war aber Fliegen-Papier ausgelegt, und auf dem Fensterbrette
lag eine todte Fliege vor dem Kleinen und er bemerkt sie.
Gewiss ist es, dass solche Ereignisse (die Begegnung mit demselben
Dinge in anderm Zustande) die Prädicate, d. h. die Kategorie
des Dinges mit seinen Eigenschaften, hervortreiben.
Aber was geschah in unserm Falle? Der Kleine ergreift mit
seinen Fingerchen geschickt und zart das kleine todte Tier und
hält es an die Scheibe. Das lässt einen Blick in das kindliche
Bewusstsein tun. Der Kleine hatte nur eine Gesammtanschauung
von der umherschwärmenden oder am Fenster kriechenden
Fliege; und so mächtig ist die Unterschiebung, dass er die Anschauung,
wo sie sich nur mangelhaft darbietet, durch eigenhändiges
Zutun ergänzt. — Derselbe Knabe, von dem ich soeben
sprach, lernte bald einige Namen für Dinge seiner Umgebung,
unter andern Hut (für Hut), Huhu (für Pferd), Dat (für Soldat).
Ein und ein Vierteljahr alt sah er mich auf der Straße und sagte:
Papa hut. Sonst kannte er mich ja nur in der Stube ohne Hut.
Als er einen reitenden Soldaten erblickte, sagte er: Dat huhu.
So hatte er die Zerlegung der Anschauung in ihre Factoren
erreicht. — Wie zusammengesetzt aber die Elemente seines
Bewusstseins um jene Zeit noch waren, zeigt folgendes. Es
war Winter, und er sah täglich, wie die Straßen-Laterne angezündet
ward. Die plötzlich aufbrechende Gasflamme ergriff
ihn und er rief dlil (für Licht). Nun kommt aber eines Tages
unter Mittag der Mann mit seiner Leiter, um die Laterne zu
putzen. Der Kleine erkennt ihn schon aus der Ferne und ruft
dlil. Er lernte bald lich und sogar licht sagen. Aber noch
sechs Wochen nach dem eben Erzählten rief er am Tage beim
Anblick der Lampen-Putzscheere: lich und nannte Kirsch-Saft
Äppel, wobei doch nur der Geschmack wirksam sein konnte. *)41
402Er hatte das Wort nähen gut aufgefasst; er brachte z. B. der
Mama ein zerbrochenes Spielzeug und sagte: nähen. Die Scheere
hieß aber eben so. — Da solche Unterschiebungen nur zeigen,
wie die Erinnerung mächtiger ist als die Warnehmung, so kann
es auch nicht wundernehmen, wenn Anschauungen so zerlegt
werden, dass dabei Gegenstände ausgesondert werden, welche
gar nicht gegenwärtig sind, sondern nur gedacht werden. Unser
Kleiner z. B. ist allein in der Stube, als Mama eintritt; er geht
ihr entgegen und sagt, indem er auf die andre Tür der Stube
wies, welche zur Küche führte: Nanni dlil d. h. Nanni, so hieß
die Wärterin, holt Milch. *)42 — Hier haben wir auch die Verbindung
von Geberde und Sprache. Dies ist wohl die erste
Form, wie Subject und Tätigkeit unterschieden werden. Ich
habe sie bei unserm Knaben zuerst beobachtet, als er ein Jahr
und 15 Wochen alt war. Da machte er erst die Geberde und
fügte Mama hinzu, um zu erzählen, dass Mama dies getan habe.
Anderthalbjährig aber hatte er in meiner Abwesenheit ein Blatt
in einem meiner Bücher zerrissen; Mama schalt ihn darob; er
sagte: Papa! und klopfte mit dem Fäustchen auf den Tisch, wie
ich zuweilen tat, wenn ich mich erzürnt stellte. Er drückte
also aus: So würde Papa tun. **)43 — Erst im Alter von einem
Jahre und acht Monaten kam etwas aus seinem Munde, was
ein Satz heißen kann, weil es Subject und Prädicat enthielt.
Die Tante wiegte ihn und sang ihn in Schlaf; die Wärterin
kam dazu und wollte ihre Pflicht üben; er aber rief: Nante
singen
, d. h. die Tante solle singen. Vierzehn Tage später, als
die Tante eben weggegangen war, sagte er: Nante popp. Das
waren Sätze. Noch etwa vierzehn Tage begnügt sich sein
Ausdruck mit einem Worte zur Bezeichnung der ganzen Anschauung;
403dann aber wird die Satzform die gewöhnliche Redeweise,
nur dass das Verbum oft im Infinitiv erscheint, und das
adjectivische Prädicat ohne Copula an das Subject tritt: Tante
bede
(ist böse). Die onomatopoetischen Gebilde traten in den
Satz ein, was wohl bemerkt zu werden verdient: hü kommen
Stall
, sagte er, indem er die Pferde aus dem Stalle kommen
sieht; Onkel lange baba. Während nun seine Sprachform schon
so entwickelt war, sagte er eines Tages, als in der Hausflur ein
Hund bellte, bloß bellt; darauf gefragt: wer bellt? antwortete
er: Ami bellt. Das Kind nämlich spricht anfänglich vorzugsweise
und aus freien Stücken nur das, was ihm in den Sinn,
fällt, und mit großer Aufregung. In unserm Falle bezeichnete
bellt die Erscheinung so wie sie in die Sinne fiel, aber die
ganze Erscheinung, folglich so viel wie Ami bellt; denn als der
Knabe sagte bellt, stand gewiss der Hund vor seiner Seele.

536. Da der Übergang von der bloßen Benennung des
Wargenommenen zur Satzform der wichtigste Schritt in der
Entwicklung der Sprache ist, so mag er noch durch Beobachtung,
die ich. an meinem Mädchen gemacht habe, erläutert werden.
Sie hatte die Puppe in der Hand und sagte: bebé. Dies
ist auch ein onomatopoetisches Urwort. Der Hellene sagte ῤαῤαί
Als ich sie nun fragte: wo hat denn die Puppe Wehweh?
antwortete sie: Bein. Das war Zerlegung des Ganzen in seine
Teile. Etwa acht Tage später hielt sie ein großes Bonbon in
der Hand, ließ es aber fallen, so dass es zerbrach. Da rief
sie: bombom bebé. Innerhalb dieser Woche konnte ich. auch
eine Zwischenstufe beobachten, die wichtig ist. Sie kannte das
Wort „kleiner Junge” (denn für sie war es ein Wort), und sie
sprach es gnunge. Sie kannte auch tanzen. Als man ihr nun
das Bild tanzender Knaben zeigte, rief sie: gnunge! Tanzen!
d. h. sie appercipirte das Wargenommene zwei Mal, je in verschiedener
Weise. So sagte sie nun sehr bald: Tine bomm
(kommt).

537. Kehren wir zum Urmenschen zurück, um für ihn
die Erkenntnisse zu verwerten, die wir durch die vorstehenden
Beobachtungen gewonnen haben. Wie gelangte er aus der Bezeichnung
der Gesammt-Anschauung durch ein onomatopoetisches
Lautgebilde zur zweigliedrigen Satzform? — Den Streit, ob die
Sprache mit Reichtum oder mit Armut beginne, mit Mannichfaltigkeit
404und Vollkommenheit oder mit dem geringfügigsten,
unscheinbarsten Besitz, kann ich nicht ernstlich aufnehmen: er
hat für mich keinen Sinn. Was nennt man Anfang der Sprache?
Meinetwegen die ersten zehn menschlichen Generationen oder
die ersten hundert oder tausend. Das ist also ein sehr ausgedehnter
Zeitpunkt, den wir Anfang der Sprache nennen. Sagen
wir lieber von aller äußerlichen Zeitlichkeit absehend: der Anfang
der Sprache sei das Ende der Zeit, wo man sich damit
begnügte, seine Warnehmungen als Anschauungs-Inhalte durch
ein onomatopoetisches Gebilde und Geberden darzustellen. —
Ferner was ist Reichtum? Wer reich ist an Brot, kann arm
sein an Fleisch; man ist allemal nur an etwas reich. So sage man
denn, woran die Sprache reich sein soll. — Geringfügig und
unscheinbar ist etwas je nach unserer Schätzung. Diese bedient
sich eines Maßstabes. So sage man erst, nach welchem Maßstabe
die Sprache einen geringfügigen und unscheinbaren Besitz habe.

538. Meine Ansicht nun ist, die Sprache habe am Anfange
(nach der gegebenen Bestimmung) eine sehr große Anzahl onomatopoetischer
Gebilde für sinnlichen Warnehmungs-Inhalt gehabt.
Der Urmensch hatte für viele Verschiedenheiten, für
welche heute nur noch der künstlerische Sinn Interesse und
Verständniss zeigt, die größte Aufmerksamkeit und die feinste
Auffassung, und so ergab sich ihm auch aus jeder scharf und
individuell aufgefassten Warnehmung ein individueller Laut-Reflex *)44.
Viele Warnehmungen, die uns nur denselben Inhalt
gewähren, sind für ihn verschieden. Alle unsere Urteile, nicht
nur die quantitativen von arm und reich, sondern auch die qualitativen
von scharfen und stumpfen Sinnen, feiner und grober
Anschauung sind relativ. Neben einer Schärfe, welche uns
unerreichbar ist, mag eine Unempfänglichkeit für solche Unterschiede
bestehen, welche uns sehr geläufig sind **)45. Der Mensch
ist zu allen Zeiten reich und hoch begabt; nur das Object oder
405die Richtung und die Form seiner Tätigkeit ist verschieden;
die Form seines Wirkens und seine Ziele entwickeln sich.

539. Jeder Lautreflex fixirte dem Urmenschen eine Warnehmung
im Bewusstsein. So viel Warnehmungen als er dem
Inhalte nach unterschied, so viel Lautreflexe hatte er. Das
Wichtigste ist dem Menschen immer der Mensch. Nur in Gesellschaft
mit einem Andern erzeugt er Sprache, und vorzugsweise
in der Warnehmung des Menschen entwickelt er Sprache.
Zu wissen, was der Andre tut, wo der Andre ist; dem Dritten
zu sagen, was jener tut: das ist der mächtigste Trieb der
Sprache. Was der Mensch dann am Menschen gelernt hat,
überträgt er danach sogleich auf die leblosen Dinge. Wir
werden also für den Schritt, den wir jetzt belauschen, den
Urmenschen in seinem Verkehr mit Andern, in seinem Familien-Leben,
aufsuchen. — Was ist nun eine Person im Bewusstsein
des Urmenschen? Wie beim Kinde: ein Kreis von verflochtenen
Warnehmungen. Keine Art von Warnehmungen ist wichtiger,
aber auch keine der Entwicklung des Geistes förderlicher als
die Warnehmung tätiger Menschen. Namentlich das, um was
es sich hier handelt, die Zerlegung der Warnehmung in ein
festes Moment, welches als Subject dient, und ein vorübergehendes,
welches Prädicat wird, scheint die Wirklichkeit hier
dem Geiste hineinzutragen. Da steht jemand; nun bückt er
sich, richtet sich wieder auf, wendet sich rechts, links, verschwindet
und erscheint wieder, während alle Dinge umher
unverändert geblieben sind. Man sieht also denselben Körper,
d. h. dieselben Farben in derselben Ausdehnung und derselben
Folge, aber in verschiedener Lage, an verschiedenem Ort. Und
ganz dasselbe tut man auch selbst und beobachtet man an sich
selbst. Wenn aber nun das Bewusstsein von Personen maßgebend
wird für das Bewusstsein von Dingen, so ist noch weiter
für jede Auffassung des Objectiven treibend gewesen das Selbstbewusstsein.
— Dieses ist das erste Subject; das Ich ist das
erste Feste, woran alles Veränderliche als Prädicate erkannt
werden — zunächss natürlich das unbewusste Ich.

540. In der Tat, es lässt sich kein Schritt in der Entwickelung
der Sprache erfassen, ohne dass wir dabei auf die
Entwickelung des Selbstbewusstseins stießen. Dieses wird nun
wohl vorzugsweise durch Tätigkeit, durch Arbeit an den Dingen
406gefördert. Arbeiten aber heißt: an einem unveränderten Stoffe
die Form abändern. Man zerbricht etwas; so hat man dasselbe
wie vorher, aber anders. Wie man Veränderungen schuf, so
sah man welche schaffen oder sich vor Augen vollziehen oder
von einer unerkannten Macht bewirkt. Endlich man musste
doch vieles Ähnliche sehen, wie Tiere, Bäume u. s. w. Allgemein
ausgedrückt: man hatte eine Warnehmimg AN und dann
eine andre AO (194); diese mussten sich mit einander verflechten.

541. Nun ist das gewiss nicht zu läugnen, dass, so weit
Verflechtung unter den Vorstellungsverbänden herscht, die
Sonderung von Subject und Prädicat vorbereitet ist. Das verschmolzene
Gemeinsame in diesen Verbänden wird das Subject
hervortreiben; das hemmende Besondre wird sich zum Prädicat
gestalten. Nur so unmittelbar kann das nicht geschehen. Wir
müssen auf der Hut sein. Bei der gegenwärtigen Untersuchung
besteht nämlich die Schwierigkeit, einsehn zu lernen, wie die
uns geläufigsten subsumirenden Apperceptionen uranfänglich
vollzogen wurden, als sie schöpferische Apperceptionen waren,
d. h. als das appercipirende Moment (hier die Form der prädicativen
Verbindung) selbst erst zu schaffen war. Darum sind
wir in der stärksten Versuchung, das verauszusetzen, dessen
Ursprung wir zeigen sollen, weil wir uns sehr schwer auf die
niedrige Denkstufe zurückversetzen; weil wir sehr schwer von
dem absehen können, was uns so geläufig und unentbehrlich ist.
Haben wir uns vielleicht schon eine Erschleichung zu Schulden
kommen lassen, wenn wir die Warnehmung einer Veränderung
in die Form AN + AO bringen? Da muss freilich wegen des
gemeinsamen A Verflechtung eintreten. Wenn nun aber zwei
auf einander folgende Warnehmungen bloß N und O wären?
Nun, wenn und so lange sie bloß das sind, werden sie allerdings
beziehungslos durch das Bewusstsein gehn, und es wird
gar nichts aus ihnen werden. Soll es anders geschehen, so
müssen wir voraussetzen, dass sie in Beziehung zu einander
gesetzt sind, so dass sie ein N > 0 darstellen. „An dieser
Stelle hat ein Stein gelegen; jetzt ist er nicht mehr da”: das
wäre ein einfachster Fall der Beziehung zweier Warnehmungen
auf einander: N > 0. Fiele der Blick jetzt auf eine Stelle,
wo ein Stein liegt, und bald darauf, nachdem der Stein weggenommen
ist, auf dieselbe Stelle, die nun leer ist, ohne dass
407eine Veränderung bemerkt würde: so könnte dies geschehen,
weil vom ersten Anblicke keine Erinnerung geblieben wäre und
vom zweiten nicht reproducirt werden könnte; oder weil eine
Unterschiebung (97) oder eine Übertragung (102) eingetreten
wäre, wonach der zweite Anblick mit dem ersten verschmelzen
musste. Also nach unsern Formeln: entweder die beiden Anblicke
ergeben ein P und noch ein anderes P, indem letzteres
erfolgte, nachdem ersteres vergessen war, beide also ohne Wirkung
auf einander blieben; oder sie ergaben zwei P = A, also
P + A1 = A2. Das wäre möglich, wenn der weggenommene
Stein ganz unwichtig gewesen wäre. War er aber wichtig, weil
an ihm etwas lag, weil er etwa als Ruhebank diente oder den
Weg versperrte (298), so sind die gemachten Voraussetzungen
unmöglich. Dann kann weder Verschmelzung von N und 0,
noch ein gegen einander gleichgültiges N und 0 eintreten, sondern
nur ein gespanntes N > 0. Dies ist aber allemal ein
AN > AO; d. h. die beiden Warnehmungen müssen etwas
Gemeinsames und etwas Verschiedenes haben und verflechten
sich, und es muss sich dann der Gegensatz ausgleichen (nach
194—196) AN + AO = (A2 — O + N) R.

542. Wie richtig es aber auch sein mag, dass wo immer
eine Veränderung eingetreten ist, oder wo eine Verschiedenheit
auftritt, welche aus irgend einer Ursache wichtig ist, vorzüglich
also wo eine gewollte Änderung eines Gegenstandes bewirkt
ist, da auch ein Vorstellungsprocess vorgeht, nach der Formel
A {N O’, wobei unmittelbar und tatsächlich A als das Subject,
N als das Prädicat wirkt, wozu R kommt, welches den Grund
der Verschiedenheit zwischen N und O enthält; oder R ist das
Prädicat, welches den Wechsel von O und N in sich schließt —
wie richtig dies auch sein mag, im Kindes-Leben aber gibt es
eine Zeit, wo N und O ganz gleichgültig auf einander folgen,
aus Mangel an Erinnerung, oder wo sie mit einander verschmelzen,
weil das Verschiedene noch nicht wichtig geworden
ist. Und sogar wenn N und O in Spannung gegen einander
treten, so werden sie sich mit einander associiren und es ist
vielleicht tatsächlich schon N zu AN und O zu AO aus einander
gegangen; aber darum ist die Sonderung des A noch
nicht im Bewusstsein vollzogen. Dieses Herausschälen des
408Gemeinsamen aus dem Verschiedenen hängt vom Auftreten des
R ab, d. h. von der Erkenntniss, warum das Verschiedene in
der Einheit sein kann, oder wenigstens von der Anerkennung, dass
es sein kann. R ist die Copula; denn es enthält den Sinn,
nach welchem A sowohl N als auch O sein kann. Und gerade
indem es verbindet, trennt es; und indem es trennt, verbindet
es. R, das ist schließlich der Sinn derselben, ist das Verbindungsmerkmal.
Woher aber kommt es?

543. Wenn ein Kind so weit ist, einige Personen bestimmt
zu kennen und zu unterscheiden, wenn sie in seiner Nähe, in
demselben Zimmer bei ihm sind, so erkennt es sie zunächst
doch nicht wieder, wenn es sie etwa durch das Fenster im
Hofe oder auf der Straße erblickt. Tritt nun solches Erkennen
ein, so gibt es sich immer durch besondern Jubel kund. Zuerst
also war dieselbe bekannte Person im Zimmer und auf dem
Hofe ein N und O in voller Indifferenz gegen einander, und
erst später treten sie in Spannimg, durch welche das Kind in
Affect gerät. Noch aber ist nur N > O vorhanden, und nicht
AN > AO. Es fehlt auch R, d. h. das Kind weiß noch nicht,
wie dieselbe Person drin und draußen sein kann; es kennt den
Mechanismus des Gehens noch nicht. Erst wenn es schon oft
hinaus und herein getragen worden ist, und es sich selbst, insofern
es drin und draußen ist, als ein N > O oder vielmehr
ein (N + O) R erfasst, begreift es, wie die Wärterin bald drin,
bald draußen sein könne. Durch solche Reihenfolge dreier
Bilder: der drin befindlichen (O), hinaus gehenden (R) und
draußen befindlichen (N) Person, die ohne subjective Unterbrechung
erfasst werden, löst sich die Spannung der Bilder und
aus N > 0 wird die ruhige Folge N + O, welche sich nun,
da sie tatsächlich AN + AO sind, mit einander verflechten. —
Ein Kind von acht oder neun Monaten unterscheidet Brod von
Holz. Nun sieht es zwei Stücke und ergreift beide nach einander.
Das eine, weil es klein ist, bringt es leicht in den
Mund; das andre, weil es groß ist, geht nicht in den Mund.
Hier beginnt das Kind gar nicht mit N und 0, sondern mit
dem identischen P, welches sich erst, indem es in den Mund
soll (R), als N > O erweist und doch P bleibt. Also P tritt
als N und als O auf. — Das Kind ergreift etwas und lässt es
fallen, und man gibt es ihm wieder. Hier wird es wohl bald
409lernen, ein P als N und O erfassen und dazu das R, die
vermittelnde Bewegung, welche die Einheit des P im verschiedenen
N und O bewirkt und erklärt. Es soll nun in der
weitern Entwicklung des Kindes P, welches sowohl als N wie
als O erkannt wird, umgestaltet werden in AN und AO. Wie
aber wird dies geschehen? Nur so viel wissen wir schon, dass
P als N und P als O mit einander verflochten sind.

544. Werfen wir den Blick zugleich mit auf den Urmenschen.
Ihn nehmen wir sogleich in der Phase, wo wir soeben
das Kind gelassen haben: er erkenne die verschiedenen
Erscheinungsformen desselben Wesens als solche, oder erkenne
dasselbe Wesen in verschiedenen Lagen und Handlungen immer
wieder: P kann N und auch O sein. Man sah also z. B. ein
Weib säugen. In dieser Warnehmung, welche eine einheitliche
Anschauung lieferte, war eine Säugende und ein Säugling enthalten.
Dieselbe Säugende aber hob bald auch ihren Säugling
spielend auf ihren Armen und ließ ihn tanzen und legte ihn
schlafen und schlief auch selbst oder wusch und tanzte u. s. w.
Man hatte also tatsächlich ein A, die Frau, in vielfacher Situation
O, N, L u. s. w. Aber auch die Kuh säugte und ward
gemelkt, und ebenso die Ziege, und viele Frauen wuschen und
tanzten, und auch der Mann schlief; das heißt also: in derselben
Situation (sie sei N) wie A ist gelegentlich auch B, C, D u. s. w.
Man hatte also die verflochtenen Anschauungen AO, AN, AL
... und abermals verflochten AN, BN, CN... Wenn nun
in irgend einem Augenblicke AN durch Warnehmung geboten
war, so konnte es sein, dass dieses AN ganz allein bewusst
ward, ohne irgend einen Reproductions-Erfolg zu haben; denn
die mit ihm verflochtenen Verbände hemmen einander. Wie
aber, wenn der Mann nach Hause kam, seine Frau hier vermutete,
aber nicht fand und sie suchte? wie war da die Frau
in seinem Bewusstsein? Überhaupt: wie dachte er sie, wenn
er sie nicht warnahm? Welche Anschauung war sie in ihm?
Wie denkt das Kind die Personen und die Dinge, welche es
kennt? Die Antwort wird sich bald finden. Zunächst wollen
wir nur bemerken: Beim Kinde können ursprünglich (wie schon
542 bemerkt) sämmtliche Warnehmungen von demselben Gegenstande
nur eine Masse durch Ähnlichkeit verbundener und so
auch associirter Bilder ergeben, welche wir ebenso, als wäre
410sie eine Verschmelzungsmasse Pn schreiben könnten (64. 187).
Sobald aber das Kind eintretende Verschiedenheiten irgend
welcher Art an einem bekannten Wesen bemerkt, in Bezug auf
Bewegung, Haltung, Gestalt, Größe, Farbe (543), so wandelt
sich die Verschmelzungs-Masse in ein Geflecht, dass wir Pn schreiben
(196. 197). Sowohl solch eine verflochtene Vorstellungsmasse
aber, wie auch jene Verschmelzungs-Masse, kann nur schwingen.
Tatsächlich ist allerdings Pn = AL + AM + AN + AO …;
bewusst dagegen kann es nicht als diese Summe werden, sondern
nur, wenn Veranlassung dazu wäre, als Reihe. In Reihenform
aber werden die ungeteilten, einheitlichen Bilder von AL,
AO … eins nach dem andern durchs Bewusstsein ziehen, und
wie wird die Teilung eintreten? Beim Kinde wird die überlieferte
Sprache mitwirken und ein wirksames Hülfsmittel zum
Fortschritt abgeben; aber wie beim Urmenschen, der dieses
Hülfsmittel erst schaffen soll? — Denken wir uns, in diesem
Augenblicke werde AN (das waschende Weib) wargenommen.
Diese Warnehmung P ist einerseits in dem Geflecht Pn (Weib)
enthalten und tatsächlich mit AL, AM, AO (säugendes, gebärendes,
kochendes Weib) verflochten; andrerseits aber ist sie
auch in Πn, (Anschauung der Tätigkeit des Waschens) begriffen
und mit BN, CN, DN (verschiedenen waschenden Personen)
verflochten. AN, durch Sinnesreiz geweckt, wenn auch im
Bewusstsein zunächst nur als einheitliches P vorhanden, muss
auf beide tatsächlich vorhandene Geflechte Pn und Πn wirken;
es muss seine Erregtheit auf alle Momente dieser beiden Geflechte
leiten und beide zur Apperception hervorrufen. Es liegt
aber die Schwierigkeit vor, dass sich Pn und Πn, durch n—1
(alle weniger ein) Elemente widersprechen; sie bilden doppelt
ein entgegengesetztes N > 0; denn die A des P, widersprechen
den B, C, D des Πn, und die N des letztern widersprechen
den L, M, O des P. Es schließen sich also sämmtliche Momente
beider Gruppen bis auf eines einander aus. Da sich
nun diese beiden Geflechte so stark widerstreben, so hemmen
sie einander und drücken einander zur Untätigkeit herab. Indessen
sie bleiben gegeneinander gespannt und schwingend;
und überdies werden sie durch das eine gemeinsame Moment,
welches durch den Sinnes-Reiz mächtig ist, fortwährend gegen
einander gedrängt. Schreiben wir nun das bloß Schwingende
411unter eine horizontale Linie, das Bewusste dagegen über dieselbe,
so erhalten wir als Bild des seelischen Zustandes in
diesem Augenblicke folgende Formel:

image

545. Indem wir den Inhalt dieser Formel genauer erforschen
wollen, müssen wir die beiden (542—544) angedeuteten
Entwicklungsstufen des Kindes unterscheiden. So lange dieses
auf der Stufe bloß associirter Bilder steht, wird die reproducirende
Erregung von der Warnehmung P = AN unmittelbar
und ungeteilt auf das alte Bild AN gehn und dasselbe unmittelbar
in Erinnerung bringen. Nun liegt dieses zwar in zwei
Associations - Massen, erstlich in Pn = AL + AM + AN...
und in Πn = AN + BN + CN... und diese beiden werden
mit in Bewegung geraten. Doch können die Momente B, C …
einerseits und L, M... andrerseits wegen der Hemmung unter
einander und durch A und N nicht zu Bewusstheit gelangen,
und die A und die N beider Massen verstärken mit ihrer Erregtheit
nur das Bewusstsein von P — AN. Letzteres kann von
B, C und L, M … gar nicht gehemmt werden, sondern es verdrängt
seinerseits diese entgegenstehenden Momente selbst aus
der Schwingung. Also das durch Warnehmungen erinnerte AN
als Element zweier Associationsmassen steigt mit voller Energie.
Es vollzieht sich also die Apperception des P durch das reproducirte
(AN)n = Pn in unmittelbarster Weise, und der Erfolg
ist nur das wiedererkannte einheitliche Bild der waschenden
Frau, aber keine Zerlegung. Wir erhielten jetzt folgende Formel,
in welchem wir die gehemmten Momente mit liegenden
Buchstaben schreiben wollen:

image

Man sieht hier klar, wie die Warnehmung P unmittelbar
von dem Bilde AN appercipirt werden muss, wobei dessen
412Bewusstheit von sämmtlichen A und N der beiden Geflechte
verstärkt wird, welche eben von AN reproductive Erregung
erhalten, und die gehemmten Momente bleiben völlig wirkungslos.
Wir haben aber hier das Kind auf dem Standpunkte von
542 vorgeführt. Denn die vorstehende Formel zeigt Pn und
Πn, als zwei auseinander gelegte Associations-Massen.

546. Ganz anders dagegen verläuft der Prozess, sobald
wir uns das Kind auf der Stufe von 543 denken, wie folgende
Formel augenscheinlich macht. Wir schreiben also nun P, und
Πn, als Geflechte, d. h. so dass das Gemeinsame verschmolzen, und
nur das Verschiedene als gesondert erscheint, in folgender Weise:

image

Hier ist sowohl die Reproduction als auch die Apperception
von dem vorigen Falle völlig verschieden. Erstlich geht nicht
die Erregung von einem einheitlichen AN = P auf ein eben so
einheitliches AN, welches in dem Kreuzungspunkte zweier
Associations-Reihen (oder überhaupt im Berührungspunkte zweier
Massen) liegt; sondern das einheitliche AN übt wegen doppelseitiger
Verflechtung eine doppelseitige Erregung auf das Geflecht
P, durch das Moment A und auf das Geflecht Πn durch
N. Die aufgeregten Momente sind hier dieselben Avie im vorigen
Falle, und die Hemmung erstreckt sich über dieselben Momente
wie dort; denn hier ist das Gegebene als Stoff durchaus gleich
dem des vorigen Falles. Dagegen herscht hier eine andre
Combination. Dort war AN als Bild nur einmal gegeben, obwohl
es im Berührungspunkte zweier Massen lag. Hier dagegen
ist AN, obwohl es nur einen Inhalt hat, zweimal gegeben,
insofern es mit zwei Geflechten verflochten und in jedem derselben
eingeschlossen ist. Während also dort ein Bild auf ein
Bild mit ungeteilter Macht reproducirend wirkte, stößt P hier
auf zwei getrennte, aber inhaltlich identische AN, und die von
413diesen aus weiter schreitende Erregung verteilt sich über zwei
Geflechte. Die beiden AN sind freilich vor allen Elementen
dieser Geflechte bevorzugt. Denn sie empfangen den Stoß des
P unmittelbar und ganz, wogegen die andern Elemente nur von
einer Seite her erregt werden, mit dem andern Gliede aber gehemmt
bleiben. Diese wirken zwar auch gegen AN hemmend.
Die Hemmung muss sich aber über die Momente der Geflechte
im entgegengesetzten Verhältniss der Macht verteilen: die nur
einmal vorhandenen B, C... O, L... werden ungleich mehr
gehemmt als An + A und Nn + N, also im Verhältnisse von
1n +1 : 1. Ja, die Begünstigung ist so groß, dass leicht B, C, 0,
L... von diesem An + 1 -+ Nn + 1 völlig verdrängt werden
können. Sobald dieser Fall eintritt, verschmelzen die beiden
AN und steigen (nicht als An Nn; d. h. nicht mit dem herabziehenden
Gewicht der verflochtenen Elemente, sondern, mit der
Kraft von An und Nn (d. h. mit der Macht verschmolzener Momente)
ins Bewusstsein als (AN)n. Dann wird auch hier, wie
im vorigen Falle mit einem erinnerten einheitlichen Bilde appercipirt.
Dies begegnet uns, wenn wir von einer Warnehmung
überwältigt werden und sprachlos da stehen; oder wo wir
energielos, ohne Aufmerksamkeit und Theilnahme warnehmen. Wo
dagegen P so überwältigende Kraft nicht hat, und im Gegenteil
eine innere Lebendigkeit besteht, da wirkt es derartig, dass
einerseits An mit großer Energie in Schwingung gerät, das ihm
gehörende N aber sich aus der Hemmung durch O, L, M...
nicht reproduciren kann, und ebenso andererseits N, in lebendige
Schwingung tritt, während sein A stark unter der Hemmung
der B, C, S... leidet. Die Folge ist, dass die beiden
AN der beiden Geflechte sich nicht zur Einheit verschmelzen
können, und die hemmenden Elemente nicht aus der Schwingung
verdrängt werden. Dadurch, dass hier das N, dort das A
unter der Hemmung steht, kann auch das freie A und das freie
N nicht ins Bewusstsein gelangen; und sie werden dadurch aus
einander gehalten, dass dort das N, hier das A nach verschiedenen
Seiten festgehalten wird. Die AN können also weder
als (AN)n noch als An + Nn bewusst werden. Wenn aber das
A einerseits durch sein N in P, gefesselt bleibt, so wird es
doch andererseits von A in Πn angezogen; und ebenso wird N
durch sein A in Πn gefesselt und durch A in Pn dorthin gezogen.
414Wir stellen dieses Schwingungs-Verhältniss so dar: An + 1 und
Nn +1 statt des einfachen An und Nn um anzudeuten, dass eines
der A, welche in der Summe An enthalten sind, mit N in Πn,
und eines der N, welche in Nn liegen, mit A in Pn verflochten
ist. So löst sich die Formel von 544 zunächst in folgender
Weise auf:

image

Es findet also eine doppelte Apperception des P = AN
statt: einmal durch An + 1 und dann durch Nn + 1. Denn diese
beiden Factoren wirken mit gleicher Macht und rufen sich, da
sie mit einander verflochten sind, einander hervor; und da jedes
mit AN verflochten ist, so appercipirt es dieses so voll es kann,
d. h. einseitig. Nach diesen beiden einseitigen Apperceptionen
ist aber die mit der Verflechtung von An und Nn gegebene
Unruhe beider (welche wir durch n + 1 andeuten) nicht gelöst,
sondern verstärkt. Die bloße Reproductionskraft von P konnte
ja nur An + 1 und Nn + 1 hervorrufen. Nachdem diese aber das
P appercipirt haben, gewinnen sie (durch die Verschmelzung
mit P) volle Bewusstheit und werden nun An + 1 und Nn + 1.
Das + 1, d. h. die Unruhe, welche durch die Verflechtung
dieser beiden Momente bewirkt wird, treibt das Verbindungsmerkmal
R hervor (542), indem es An + 1 durch Nn + 1 und
dieses durch jenes appercipirt. Durch diese dritte und vierte
Apperception sinkt zugleich n + 1 zu, zusammen und aus
An + 1+Nn + 1 wird AnNn als Product vierfacher Apperception.
Also

image

547. Wir haben bei dieser Berechnung und Formulirung
den Einfluss der Sprache noch nicht in Betracht gezogen, durch
welchen der hier dargelegte Process erst seine volle Gestalt
annimmt. Ich möchte behaupten, der eigentliche Ursprung der
Sprache liege mindestens eben so sehr in der Zerlegung der
Anschauung in Subject und Prädicat (P = AnNn) als in der
Schöpfung der Lautreflexe. Diese ist der mehr leibliche, jene
der geistigere Ursprung. Ein Mensch mit Reflexlauten für Anschauungen
415würde nicht über den Taubstummen erhaben sein.
Denn einerseits tritt der Charakter der menschlichen Sprache
erst in der zweigliedrigen Satzform hervor, erst mit dieser ist
die Möglichkeit geistiger Entwicklung gegeben; und andrerseits
würde auch die Zerlegung der Anschauung in Subject und
Prädicat ohne Sprache kaum durchzudringen vermögen. Wie
kräftig auch das trennend bindende (analytisch synthetische) R,
wirken dürfte, es würde als ein rein innerer Vorgang nicht zum
bestimmten Abschluss gelangen, wenn ihm nicht eine äußere
Symbolisirung zu Hülfe käme. Das aus P herausgeschälte An,
das Subject, würde kaum festzuhalten sein, wenn es nicht in
einem Symbol fixirt würde.

548. Wie geschieht dies nun? Erinnern wir uns der
Schwierigkeit (544), dass Pn nur schwingen, nicht in das Bewusstsein
kommen kann. Der Urmensch könnte sein Weib
suchen, während sie nur als schwingendes Geflecht in seiner
Seele wäre. Wenn er aber nun jemandem begegnete, den er
fragen wollte, ob er sein Weib nicht gesehen habe, so musste
er dasselbe vor sein und des Gefragten Bewusstsein stellen.
musste sie sich vor- und dem Andern darstellen. Wie machte
er das? oder vielmehr was geschah da? Da musste ein Moment
jenes Geflechts, welches aus irgend einem Grunde bevorzugt
war, aus der Schwingung zur Bewusstheit gelangen; ein entweder
für den Augenblick oder überhaupt und immer wichtiges,
mächtiges Moment ward frei von der Hemmung. In welcher
Situation z. B. auch immer die Frau mit dem Kinde sich befinden,
was sie auch immer treiben mochte, die Ursache war
allemal das Gebären oder das Verhältniss des Weibes als Gattin.
Dieses konnte also zu jeder Zeit sich als ein wichtiges Moment
aus der allgemeinen Hemmung des Geflechts herausheben; denn
es war die Ursache der ganzen Lebens-Einrichtung der Frau,
aller ihrer Arbeiten, aller ihrer Pflichten und Rechte. Wegen
dieses Momentes wurde sie geehrt und geliebt. Solch ein Moment
des Geflechts also, z. B. die Anschauung von der Gebärenden
oder Säugenden oder der Herscherin im Hause, ein Moment,
das selbst mit dem Bilde ihrer lieblichen Gestalt verflochten
war, war der feste, wenn auch nur schwingende Begleiter
jeder Warnehmung der Frau und jeder bestimmten Erinnerung
an sie. Aus dein Geflechte Weib mochte irgend ein Moment
416bewusst werden, welches es auch war, es musste von jenem in
lebhafter Schwingung begleitet werden. Gerade jenes Moment
aber musste auch schon durch sich allein am häufigsten und
auch bei der beispielsweise gesetzten Gelegenheit reproducirt
werden. Der Mann suchte gerade sein Weib, damit sie etwa
das durstige Kleine beruhigen sollte, jedenfalls damit sie im
Hause walten sollte. Bei jeder Erinnerung also, wo keine der
im Geflechte enthaltenen Anschauungen durch Warnehmung
begünstigt wird, konnte und musste nur jenes Moment begünstigt
sein. Nennen wir es M. Für dieses M trifft alles zu,
was oben 305 bemerkt ist. Es appercipirt das ganze Geflecht
der Warnehmungen vom Weibe.. Wer also sein Weib suchte,
fragte: M? Das hieß nach dem Zusammenhange: wo ist meine
Frau? Konnte aber in anderm Zusammenhange bedeuten: wo
ist oder was macht deine Frau? Nun sei die Antwort: N, d. h.
etwa, sie ist am Flusse waschen. Damit war doch nicht M = N
gesetzt; sondern M + N wurden nach einander aus Pn herausgehoben.
Mit der Frage: M? war die Möglichkeit der Antwort
O, L, K, I... und auch N vorausgesetzt und in gesonderte
Schwingung gebracht. War aber N geantwortet, so musste
es wie P = AN wirken; d. h. es rief Pn und Πn zur Apperception
hervor. Einerseits nun aus dem Geflecht Πn = AN
+ BN + CN + DN... wurden die B, C, D.... gehemmt, und
ebenso wurden aus dem Geflecht Pn = AO+AL + AK... die
O, L, K... latent, so dass nur der Verband AN energisch
blieb. Es bildete sich, wie wir 546 sahen, AnNn; aber dieses
war von M begleitet, welches von jedem Verbande des Geflechts
Pn unzertrennlich, und welches ja als Frage gestellt war. Die
Antwort N hieß ja eben, M sei durch N zu appercipiren. Wenn
nun aber M bei jedem Verbande des Geflechts P, mit bewusst
war, also auch bei AnNn oder AnOn..., so musste es sich mit
dem ebenfalls nie fehlenden An noch ganz vorzugsweise associiren,
so dass AnNn und MnNn, auch AnO und MnO ganz gleich
waren. Nun war aber M mit einem Lautreflex verbunden: so
diente nun dieser als Vorstellungsmittel für An; mit ihm fragte
der Urmensch. Mit einem Reflexlaut aber antwortete er auch.
Wer die Antwort zu geben hatte: N, d. h. deine Frau wäscht,
der hatte von demselben Weibe ebenfalls ein Pn in sich, in
welchem N, tatsächlich = AN enthalten war; und er hatte ein
417Πn (Anschauung des Waschens), in welchem abermals dasselbe
N lag. Und so ging im Geiste des Antwortenden wie des
Fragenden dieselbe Apperception vor sich. Auch Πn kann als
Geflecht nur schwingen; aber es hat seinen Lautreflex unmittelbar,
durch welchen es vorgestellt wird, und welcher aus dem
Munde des Antwortenden tönt.

549. Frage und Antwort stellen also Subject und Prädicat
dar, welche einander appercipiren. Es liegt auch in dieser wie
in jener ein Trieb zur Aussonderung des A, d. h. zum Wandel
des A und N in AM und AN. Denn die Frage M? bedeutete
tatsächlich: findet AO, oder AL oder AN... statt? Nun
war die Antwort: N, welches in Πn = AN + BN + CN + DN …
lag. Ja, der Fragende ging in Folge der Antwort an den Fluss
und sah die waschenden Frauen und darunter die seinige: da
hatte er Πn = AN + BN + CN … nicht als Geflecht von Vorstellungen,
sondern als bewusste Warnehmung. Da musste wohl
AO + AL + AN … sich in An + O + L + N... wandeln,
und auch aus AN + BN + CN … musste Nn + A + B + C …
werden; d. h. die Anschauungen lösen sich auf in Subjecte mit
mehreren möglichen Prädicaten und in Prädicate für mehrere
mögliche Subjecte. Wir ersetzen die Formel von 546 durch
folgende, wobei L den Lautreflex für M, Λ den für N bezeichnet

image

550. Zur Verdeutlichung. Die Anschauung, welche zweigliedrig
bewusst wird, nicht als bloßes M und bloßes N, sondern
als AnNn, veranlasst, wie bemerkt, eine vierfache Apperception,
welche freilich nur eine einzige Gesammtbewegung in
der Seele bildet und nur ein Ergebniss hat. Es wird nämlich
die ganze Anschauung P = A1 erstlich durch das constante
M appercipirt, und dieses bildet das Subject, und zweitens abermals
durch die augenblickliche besondre Tätigkeit oder Situation
N, welche das Prädicat bildet. So sahen wir (536), wie das
Kind das Bild tanzender Knaben zuerst einmal durch Junge
und dann noch einmal durch tanzen appercipirte, während es
sich früher entweder nur mit der einen oder nur mit der andern
Apperception begnügt hätte. Es wird aber nun weiter
418auch das Subject durch das Prädicat, und dieses durch jenes
appercipirt: die Jungen sind diesmal nicht als die lernenden,
sondern als die tanzenden, und das Tanzen ist als das der
Jungen und nicht als das der Erwachsenen gedacht. Dasselbe
geschieht in der entwickelten Sprache, wenn wir eine Warnehmung
in Satzform appercipiren. Wir finden z. B. im Frühjahr
eines Morgens einen Baum in Blüte oder in Blättern, den wir
kurz zuvor noch grau und kahl gesehen haben. Wir sagen
dann: „der Baum blüht”; d. h. die Warnehmung wird erstlich
durch An Baum appercipirt (es ist ein Baum oder der Baum,
den wir sehen); darauf eine zweite Apperception durch Nn
Blühen (es ist das Ereigniss des Blühens, das wir bemerken).
So würde nun die einheitliche Warnehmung durch die zwei
Apperceptionen, deren jede einseitig verfährt, in zwei Seiten
zerfallen. Nun wird aber drittens der Baum als blühender, und
viertens das Blühen als das dieses Baumes appercipirt, wodurch
die Einheit wieder hergestellt ist.

551. Vergegenwärtigen wir uns das bisher Entwickelte,
um daran notwendige Erweiterungen zu knüpfen. Nach 529.
530 gab es im Urmenschen teils Warnehmungen von Bewegungen,
deren Stoff gleichgültig blieb, man möchte sagen: reine
Bewegungen, teils Warnehmungen von bewegten und beweglichen,
veränderlichen und veränderten Dingen. Von ersteren
ist es ohne Weiteres klar, dass ihr Lautreflex nur eine Bewegung
bedeutete, ohne dass an den Tuenden gedacht worden
wäre. Was aber bedeutete streng genommen der Laut für die
Anschauungen von Dingen? Natürlich das, als was die Dinge
dem primitiven Bewusstsein des Kindes und des Urmenschen
erschienen. Und was war das? Die Anschauung von einer
Art oder auch von einem einzelnen Gegenstande war nichts
andres als die Summe der wiederholten Warnehmungen dieses
Gegenstandes oder der Gegenstände dieser Art. Tatsächlich
oder für unser entwickeltes Bewusstsein ist der Inhalt aller
besondern Warnehmungen sogar desselben einzelnen Dinges
nicht ganz derselbe; noch viel weniger sind die Warnehmungen
von Individuen derselben Art völlig gleich. In der ersten Zeit
jedoch, so lange die Wirkung und die Auffassung der Sinnes-Reize
mangelhaft ist, so lange die Erinnerung schwach bleibt
und sich fortwährend Veruntreuungen zu Schulden kommen
419lässt, ist der Inhalt der vielen Warnehmungen derselben Art
immer gleich, und es bilden sich Verschmelzungssummen oder
Associationsmassen (544) für Personen, für Dinge, für Arten
(530). Jede Anschauung ist ein Pn, und dieses ist die Bedeutung
des Reflexlautes. Das gilt vielleicht unbedingt von Papa,
Mama, und jenen ersten Namen, die dem Kindes-Munde entfliegen.
Sehr früh aber muss das beim Kinde anders werden,
wie es bei der Erzeugung der Lautreflexe des Urmenschen anders
war. Der Laut ist bei einer bestimmten einzelnen Warnehmung
M eines Dinges oder einer Art entstanden; er ist also
nicht der Reflex des gesammten Anschauungsinhaltes Pn, wie er
sich durch viele Warnehmungen zusammengesetzt hat, sondern
nur einer einzelnen Warnehmung. Nur diese also ist seine
eigentliche, anfängliche Bedeutung. Da auch das einzelne Wesen
sich in mehren Warnehmungen mehrfach zeigt, so ist die
Bildung der Anschauung von einem Wesen von der Auffassung
einer Art gar nicht wesentlich verschieden. Es kommt auch
dort wie hier darauf an, eine Einheit in der Mannichfaltigkeit
zu erkennen. Es sind hier wie dort ein ursprünglich einander
gleichgültiges N und O, d. h. zwei Warnehmungen desselben
Wesens, welche entweder beziehungslos nach einander erfolgen
oder im Gegenteil mit einander verschmelzen, in ein gespanntes
N > 0 umzugestalten, welche Spannung nur möglich ist, indem
beide auf dasselbe A bezogen werden. Hierbei ist es völlig
gleichgültig, ob N und O zwei an demselben Individuum oder
an mehren Individuen derselben Art gemachte Warnehmungen
sind. Wir dürfen uns also für die vorliegende Frage unbedingt
auf 301—306 stützen. Das gemeinsame M, welches N wie 0
appercipiren kann, wird bei mehreren Individuen Gattungsname,
beim Individuum Eigenname. Es wird aber vom Urmenschen
nicht mühsam und absichtlich gesucht, sondern drängt sich ihm
mit dem Reflexlaut auf. Bleiben wir bei dem 305 gewählten
Beispiel, so war es die Warnehmung des Fluges, das heißt des
fliegenden Vogels, welche mit ihrem Reflexlaut pat auch av oder
va, sich dazu bot, alle Warnehmungen vom Vogel zusammenzufassen
als N > 0, d. h. als mögliche Erscheinungsformen desselben
Wesens oder derselben Wesens-Art. Man sah den Vogel
von hier dorthin fliegen: das war an sich ein mächtiger Eindruck
und erklärte, wie dieses Wesen vorhin hier, jetzt dort
420sein konnte, wie es sein Nest bauen, seine Nahrung finden,
seine Beute packen konnte; kurz pat oder av war das Vermittelnde
(das M) für alle Warnehmungen (für jedes mögliche
N, jedes N > 0) des Vogels, für alle Erkenntnisse von seinem
Wesen. Er war der pat-Machende, auch wenn er nicht flog;
der pat-Machende hatte Flügel, ausgespannt oder zusammengelegt;
er hatte den Schnabel; er hatte die glänzenden oder
stumpfen Farben... Kurz das M mit seinem Lautreflex ward
das A für N > 0. So schwierig es scheint, das A zu bilden,
so natürlich scheint die Schöpfung des A durch die Wirkung
des M mit dem Reflexlaut. — Es ist beim Kind nicht anders.
Wauwau ist der Hund, auch wenn er nicht bellt; hühü ist das
Pferd, auch wenn es ruhig im Stalle steht: es ist die Gesammtheit
der Warnehmungs-Erkenntnisse des Kindes vom Hunde und
Pferde.

552. Wo stehn wir jetzt? Die Anschauung ist jetzt nicht
mehr Pn, eine Verschmelzungsmasse, sondern nun, da N > O
gebildet ist, indem zwei an Inhalt verschiedene Warnehmungen
mit ihrer Verschiedenheit auf dasselbe M bezogen werden, ist die
Anschauung Pn, d. h. ein Geflecht. Der Reflexlaut aber bedeutet
auf dieser Stufe MP, d. h. er ist im Sprechenden wie im Hörenden
Symbol der Apperception eines bestimmten Geflechts
von Warnehmungen durch eine in diesem Geflechte mit enthaltene
besonders mächtige Warnehmung; und da die Anschauung
nur noch so bewusst wird, wie der Laut sie darstellt,
so erscheint eben aush sie selbst von jetzt ab als MPn oder
genauer M/Pn . In solcher Gestalt lebte in der Urzeit die Gattin
im Bewusstsein des Gatten, das Kind, der Sohn im Bewusstsein
des Vaters und der Mutter. So suchte in dem Beispiel 548 der
Urmensch sein Weib. Nun haben wir gesehen, wie MP, sich
zum A, oder vielmehr An umgestaltet. Diese unterscheiden sich
so. Wenn Pn volle mit einander verflochtene Warnehmungen
enthält, so bezeichnet A, das Subject A dieser Warnehmungen,
das so oft gedacht werden soll, als wie viele Prädicate es hat;
An aber bedeutet das Subject A ausgelöst aus An oder Pn als
selbständigen Grund von Pn und als ein Ding und Wesen, welches
wirken und leiden, sich bewegen und verändern kann und
in all dem sich selbst gleich bleibt. Ich möchte sagen: wenn421

Pn = AM+ AN+ AO + AR… und Πn = BN + CN + DN…

und wenn

An = A mal (M + N+ O+ R…) und Nn = N (B+ C+ D …)

so ist

An = Pn dividirt durch (M + N+O+ R…) und
Nn = Πn : (B + C + D…)

So stellt sich klar heraus, dass Pn, An, und An beinahe nur
denselben Inhalt, aber in anderer Form darstellen.

553. Wollen wir nun den Apperceptions-Process in der
Satzform durch zwei Wörter, welche als Subject und Prädicat
dienen, in eine Formel bringen, so mag man Folgendes überlegen.
Das Gefühlsmoment G (517 ff.) kann jetzt kaum noch
mitsprechen. Denn das in Pn enthaltene M, das uns so wichtig
war, war allerdings ursprünglich ein ELG2 (520); jetzt aber, da
von ihm Pn appercipirt ist (MPn), und nachdem es zu An geworden
ist, muss sein G2 sehr abgedämpft sein, und es bleibt
ein ziemlich gefühlloses, nicht mehr, wenigstens nicht mehr unmittelbar
onomatopoetisches L. Günstiger war das Schicksal
des Πn. Denn dieses ist, um Nn zu werden, nicht erst durch
ein besonderes, aus G2 gewonnenes M hindurchgegangen; sondern
es wird, wie ursprünglich, immer noch unmittelbar durch
einen Reflexlaut ΛΓ2 (549) appercipirt. Es ist also:

image

Wir werden bald sehen, wie auch diese Formel noch einen
wesentlichen Umstand außer Acht lässt. Zuvor aber noch einige
Ergänzungen zum Vorstehenden.

554. Die Warnehmung M, womit ein Pn appercipirt wird,
und welches sich zum An (Subject) gestaltet, war ursprünglich
ein Moment von Pn und in diesem enthalten. Denn Pn ist tatsächlich
das Geflecht AO+AN+AM … So sieht man, wie
M ursprünglich und wesentlich eine dem Nn (Prädicat) analoge
Rolle spielt. Auch bleibt es für immer ein Nn, d. h. ein
Moment in Πn= AM+BM+CM… Denn M ist ursprünglich
und an sich eben so wohl wie N ein Πn, d. h. ein Geflecht
von Verbänden mehrerer Prädicate mit demselben Subjecte.
Herausgehoben aus Πn, bleibt es nach seinem Inhalte immer ein
422Prädicat, nämlich eine Bewegung oder Tätigkeit. Wenn wir
nun sagten, bei der vierfachen Apperception des P (546 ff.) werde
P zuerst durch Pn appercipirt, von letzterm aber wirke nur das
Moment A wirklich frei, so ist dieses A doch allemal ein AM,
und das heißt ein Moment aus Πn = AM+BM+CM...
dessen B+C... gehemmt bleiben. Wir sehen hier einen
neuen Grund für die Macht des A. Denn wenn P = AN unmittelbar
auf Pn = AO + AN + AL + AM... und auf
Πn = AN + BN + CN + DN... wirkte, so wirkte es,
weil mit jedem A das AM angeregt ward, auch auf Πn = AM
+ BM + CM... Und wenn dieses nebenbei angeregte
zweite Πn, auch schwächer war, als das erste Πn, und als Pn,
so war es immerhin eine Macht, welche diesen beiden in
allen Elementen bis auf das A widersprach, also in allen
Elementen, welche schon gehemmt waren, einen neuen Widerstand
entgegensetzte, dagegen das schon gehobene A abermals
unterstützte. Gerade aber weil dieses zweite Πn, schwächer war,
als das erste, mussten dessen dem A widersprechende B, C, D...
noch stärker gehemmt werden, als die B, C, D... des ersten
Πn. Um so fester wirkte die Association des M mit A, so dass
bei dem Schwunge, den das A erhielt, es das Mn als Mn mit
sich riss und von ihm appercipirt ward. — Es sind also alle
Namen ursprünglich Prädicate. Wodurch unterscheidet sich
denn aber das Prädicat M, vom Prädicat Nn? oder wodurch wird
M Subject? Lediglich durch den Gegensatz des M zu N. Jedes
andre Prädicat als N, also auch M, ist im Gegensatze zu N
ein O. Man bedenke, was das heißt, oder welche Kraft im N
steckt. N nämlich hat allein projicirende Kraft. Indem P, die
gegebene Warnehmung, durch N appercipirt wird, ist sie als
Erkenntniss eines Wirklichen anerkannt. Durch M aber wird
auch das erinnerte P appercipirt; es ist ein O, jetzt nicht mehr
wirklich. Das M ist aber andrerseits auch mehr als ein O, als
bloße Vergangenheit; es enthält den Eindruck, welchen sowohl
N, als auch jedes O nebenbei macht. Es ist sowohl mit N,
als auch mit jedem O gegeben, obwohl von jedem verschieden.
Es kann also nicht von N, noch von irgend einem O, sondern
nur von dem A abhängen, welches mit jedem N und O gesetzt
ist. M ist so constant wie A; und A mag N oder O sein, es
ist vor allem das was es niemals nicht sein kann, nämlich M.
423Der Gegensatz des M zu N ist also ganz anderer Art, als der
von N > 0. Es ist ein Gegensatz zwischen M und jedem
andern möglichen Prädicate: M > {N O; d. h. es vertritt und
appercipirt nicht ein P, eine Warnehmung; sondern P mag ein
beliebiges AN oder AO sein, M appercipirt das darin befindliche
A, und also ist P = MnNn oder auch MnOn.

555. An ergibt also die Namen für die Wesen, Personen
und Dinge; Nn ergibt die Benennung der Tätigkeiten und Zustände,
Bewegungen und Eigenschaften. Aus dem Vorstehenden
wird schon klar, warum wir im Substantivum weniger Onomatopöie
antreffen können, als im Verbum; warum überhaupt letzteres
größere Ursprünglichkeit bewart. Es geht durch weniger
Apperceptionen (553). Die neuere Grammatik hat längst erkannt,
dass das Verbum der Wurzel viel näher steht, als das
Nomen. War es auch eine Übertreibung, das Verbum unmittelbar
als Wurzel zu nehmen, und das Nomen durchweg,
selbst das stammhafte, vom Verbum abzuleiten, so war dieser Irrtum
praktisch ohne Schaden. In der Tat steht das ursprünglichste
Nomen der Wurzel doch um einen Schritt ferner als
durchschnittlich das stammhafte Verbum (vgl. 557). — Daher
erstreckt sich auch die Disciplin der Etymologie (abgesehen
von den verwickelten oder entwickeitern Übergängen der Bedeutung)
vorzugsweise über Substantiva (An) und Adjectiva (Nn).
Diese beruhen allemal zunächst nicht auf einem Lautreflex, sondern
auf einem MPn, erst durch das M gehn sie auf einen Lautreflex
zurück. Die Aufgabe der Etymologie ist es, für jedes Substantivum
und Adjectivum das M zu finden: dieses ist die Wurzel.

556. Der onomatopoetische Lautreflex, weil und so lange
er ganze Warnehmungen und Anschauungen bedeutet, ist eine
Laut-Geberde (528); erst wenn er ein bloßes Moment einer Anschauung,
ein An oder ein Nn bedeutet, wird er Wort, welches
zunächst in der Gestalt der Wurzel erscheint. Damit aber ist
notwendig der unmittelbare Zusammenhang der Bedeutung mit
dem Gefühle gelöst, der onomatopoetische Charakter der Sprache
schwindet. Die Wurzel also ist nicht mehr onomatopoetisch. Also
gerade schon da, wo die Sprache zuerst in ihrer wahren Eigentümlichkeit
auftritt, wo sie ihren vollen intellectuellen Charakter
gewinnt, durchbricht sie die Onomatopöie; und das Wort in
424seinem wahren Begriff entsteht erst mit der Satzform, also zugleich
mit dem Gegensatze von Subject und Prädicat, der sich bald zu
dem Unterschiede der Benennung von Dingen und der Ausdrücke
für Zustände und Veränderungen fest setzt. Der logische Charakter
des Wortes scheint dem onomatopoetischen Ursprunge desselben
entschieden feindlich zu sein. Wenn unläugbar in den spätern
Perioden der Völker manches Wort in seinem Lautbestande so
abgeändert ward, dass es sich in seinem Klange dem bezeichneten
Gegenstande onomatopoetisch annäherte, so ist wahrscheinlich
andrerseits in früherer Zeit, nämlich als das onomatopoetische
Princip eben verlassen wurde, der Schein der Onomatopöie gemieden
und verwischt worden. Die Benennungen pa-ter, ma-ter
sind, glaube ich, ursprünglich Onomatopöien: papa, mama; diese
wurden aber, als wären sie Wurzeln, nach dem spätem Verfahren
der Wortbildung zu Wörtern ausgebildet und mit einem
Suffix versehen. So ist der anfängliche Charakter getilgt, und
es ist die Anschauung von den Eltern durch das Merkmal (M)
des „Herschenden” und der „Schaffenden” appercipirt worden.

557. Die hohe Bedeutung, welche die Etymologie als
Wissenschaft für die Geschichte des menschlichen Geistes hat,
liegt darin, dass sie die Anschauung M kennen lehrt, (oder zu
lehren die Aufgabe hat), durch welche jedes Volk die Objecte
(Begriffe von Dingen und Verhältnissen) appercipirt oder geschaffen
hat. Denn die Etymologie eines Wortes zeigt, wie der
Mensch das mit diesem Worte benannte Object erfasst hat?
welches Moment jenes M hergab, durch welches die besondren
Anschauungen L, N, O, R... zu Gs (303—306), d. h. zu An
oder Nn umgewandelt wurden. Kurz: die Etymologie ist die
Geschichte der populären (von den Völkern vollzogenen) Begriffsschöpfung.
Denn M ist der Charakter des A, S oder G,
sein ἲδιον oder sein specifisches Merkmal, kurz das ἀντιϰατηγο-
ϱούμενον τοῦ πϱάγματος
, die Antwort auf die Frage: τί ἐστι τὸ
ππϱοϰείμενον nach populärer Metaphysik. Rein sprachwissenschaftlich
angesehen ist M die innere Sprachform, wie sie auf der
zweiten Entwicklungsstufe der Sprache auftritt, nämlich nicht
mehr als onomatopoetisches Gefühl, sondern als bestimmte
das Object charakterisirende Anschauung. Nennen wir also
diese zweite Stufe die charakterisirende. Sie tritt ein, indem
eben aus dem Lautreflex ein Wort wird, indem die Anschauung
425durch zwei Wörter, welche zum Satze verbunden sind,
appercipirt oder vorgestellt wird. — Wir haben jetzt die ganze
vorstehende Entwicklung des An oder Mn durch Beispiele zu
verdeutlichen und damit auch zu ergänzen.

558. Es ist nicht möglich (auch nicht nötig), die Situationen
des urmenschlichen Lebens erschöpfend und bestimmt
zu bezeichnen, auf deren Veranlassung und unter deren Begünstigung
die Auflösung der Warnehmungen und Anschauungen
in Subjecte und Prädicate erfolgen musste. Als günstig
haben wir Frage und Antwort kennen gelernt. Die Frage:
wer hat das getan? und was hat der getan? zerteilen eine Anschauung
durch Wissen und Nicht-Wissen in Subject und
Prädicat. Frage und Antwort zusammen geben den Satz
M+N = P. — Einflussreich mag auch die zeitweilige Warnehmung
gewesen sein, dass gerade das charakteristische Merkmal
M fehlte. Jedem Dinge ist eine gewisse Bewegung wesentlich
und ist in der Anschauung des Dinges durch jede Warnehmung
gegeben — wesentlich, wenigstens nach der Ansicht
des Urmenschen, sei es weil er es am häufigsten so findet, sei es
weil diese Bewegung seinem Zwecke entspricht. Er denkt dieselbe
also hinzu, auch wenn sie nicht gerade gegeben ist. Der
Vogel ist, wie schon gesagt, immer der Fliegende auch in dem
Augenblicke, wo er nicht fliegt; der Säugling ist der Säugende,
auch wenn er nicht saugt u. s. w. Dies würde vielleicht niemals
eine Sonderling in Subject und Prädicat bewirken. Die
gegenwärtige Warnehmung N ist meist unwichtig gegen M und
kann aus der Situation erraten werden. Jedes Ding ist aber
auch Bewegungen oder Veränderungen ausgesetzt, welche ihm
von außen her zustoßen, und welche sein Wesen M aufheben,
zerstören oder verändern. Das bewegliche Wesen, Tier oder
Mensch, „stirbt”; es ist starr gefunden. Dort wurde ein Gegenstand
als der feststehende, der nicht wankende Stamm, stipes,
als die fest aufgerichtete στήλη, στῦλος, als der emporgewachsene
Baum, als in die Höhe ragende col-umna, cul-men, angesehen;
ein Sturm reißt den Baum mit allen Wurzeln aus, stürzt das
Feststehende um, streckt das in die Höhe Ragende zu Boden.
Das ergibt einen mächtigen Gegensatz N > O, um so mächtiger,
weil hier O das M selbst ist. Das M ist nicht mehr M.
Selbst wenn solch ein Process im Urmenschen so erfolglos verlaufen
426könnte, wie derselbe im Kinde wohl verläuft (535), so
kommt für jenen das Bedürfniss hinzu, solche Warnehmungen
zu melden; M ist N geworden, und so ist M das Subject, N
das Prädicat.

559. Die Anschauung M, welche bei jedem Eintritte des
betreffenden Gegenstandes in die Warnehmung oder in die Erinnerung
mit in Tätigkeit gesetzt wird, welche als A (Subject)
dient, konnte für ein andres Object ein vorübergehendes, zufälliges
N sein. Der Lautreflex von M war also im erstem
Falle Subject, im andern Prädicat. — Ferner: In derselben
einheitlichen Warnehmung können mehrere Gegenstände begriffen
sein; das Säugen z. B. enthält das Weib und das Kind
in einer Handlung. Diese Erscheinung sei mit dem Lautreflexe
dha-dha erfasst. *)46 So konnte dieser Laut sowohl für den Säugling
(filius) als auch für die Frau (femina, ϑῆλυς), ja auch noch
für das besondre Organ des Säugens, die Mutterbrust (fela,
ϑηλή, Zitze) als M dienen, und dabei immer noch die Tätigkeit
des Saugens und Säugens als N bezeichnen. Ja derselbe Laut,
während er als M diente, konnte als N hinzugefügt werden:
z. B. dha dhadha, der Säugling saugt, filius fellat. Doch wird es
für diesen Fall genügt haben, den Laut nur einmal zu sprechen.
— Da nun aber auch dasselbe Wesen in mehreren Warnehmungen
auftreten konnte, die alle als in gleich hohem Grade wesentlich
für dasselbe erscheinen mochten, so konnte die Anschauung (das
Warnehmungsgeflecht) von demselben durch die eine wie durch
die andre Warnehmung appercipirt werden; es boten sich mehrere
M dar. Dasselbe Wesen, welches säugt, hat zuvor geboren:
gaga **)47 und wird wieder gebären, und es ist ihre Bestimmung,
die Gebärerin zu sein (γυνή engl. queen). So war
ein mehrfacher Ausdruck möglich, je nach der Wahl für M = A
und für N, und statt der lästigen Wiederholung dha dadha
konnte man sagen: die Gebärende säugt, ga dadha, und die
Säugende hat geboren dha gaga.

560. Aus dem Vorstehenden wird klar, wie ganz ursprünglich
viele Synonyma und Homonyma entstanden und bestanden
427Die Frau kennen wir schon als Säugende und Gebärende. Sie
ist auch die Zeugerin (Skt. stri aus su-tri von su zeugen), der
gegenüber denn der Sohn, ὑ-ιός, als Erzeugter steht. Sie ist
die Frau, die Herrin im Hause, δέσποινα, πότνια; und als die
Zarte, die Schwache, mulier, steht sie unter dem Schutze des
Mannes (des Wehren, vir, ἥϱως, skt. viras, des Schützenden,
Warenden), dem sie zum Danke dafür im Hause waltet als
Weib (die Webende, in dem Sinne: es lebt und webt; also die
Schaffnerin).

Dies genüge zur Verdeutlichung des Ursprungs der Sprache.
Eine volle Ausführung würde in die Geschichte der Sprache
gehören.

b) Dritte innere Sprachform: der Sprachgebrauch.

561. Bei den dargelegten Apperceptionen kam nicht der
heutige Zustand der Sprache, sondern der ursprüngliche in Betracht.
Im Laufe der Zeit aber hat sich dieser geändert, wenn
auch nicht vollständig, so doch teilweise. Bei allen Stammwörtern
ist unserm lebendigen Sprachgefühl das Etymon, die
charakterisirende innere Sprachform, abhanden gekommen. Bei
vielen Wörtern indessen, und folglich Sätzen, lassen sich auch
heute noch jene Apperceptions-Processe nachweisen: nämlich
bei solchen Wörtern, die verhältnissmäßig junge Bildungen
sind. Diese wirken in uns, wie in der Urzeit alle Wörter
wirkten, weil sie damals alle jung waren. Solche neuen Wörter
haben wir in den offenbaren Zusammensetzungen und in
den klaren, dem Sprachgefühl selbst zugänglichen Ableitungen.
Sagt z. B. jemand: „der Dampfwagen oder die Eisenbahn fördert
die Entwicklung des Geistes nach der Höhe nicht minder
wie nach der Breite”, so wird man wohl, denke ich, diese Ausdrucksform
nicht für schlechter halten, als die von tausend
Sätzen, wie man sie täglich hört und liest. Auch wird wohl
niemand meinen, jener Satz sei stark metaphorisch. Indem wir
uns nun der Wörter „Dampfwagen”, „Eisenbahn” bedienen.
wird der gesammte Anschauungsinhalt, den wir von dieser
mächtigen Maschine durch häufige Warnehmung und wohl auch
Beobachtung oder gar physikalische Erkenntniss gewonnen haben,
vorgestellt durch das eine, besonders wichtige und sich sinnlich
aufdrängende Moment des Dampfes und durch den Zweck dieser
428Maschine, der kein andrer ist als der eines Wagens — vorgestellt,
d. h. appercipirt; und zwar liegt hier schon eine doppelte
Apperception vor, durch Mittel und Zweck; aber dennoch
sind diese beiden appercipirenden Momente an Masse geringfügig
gegen die ganze schwingende Erkenntnissgruppe, welche
von ihnen appercipirt wird. „Entwicklung” bezeichnet (oder
repräsentirt, appercipirt) wiederum einen Vorgang, den die Philosophie
der Geschichte und die Psychologie, in sehr umständlicher
Weise darzulegen haben, weil er aus gar vielen Momenten
besteht. Von diesem Inhalte, über den sich Viele kaum annähernd
Rechenschaft geben können, tritt nichts weiter in das
Bewusstsein, als das ihn appercipirende Moment des Aufrollens
eines Zusammengerollten, des Ausdehnens eines in die Enge
zusammen Gedrückten. Ähnlich werden durch „Höhe” und
„Breite” vorstellende Momente geboten, welche einen ganz andern
Inhalt vorstellen, als sie unmittelbar (d. h. in der Anschauung,
aus der sie gelöst sind) bedeuten. Sie appercipiren
die Steigerung des geistigen Inhalts der menschlichen Gesellschaft
nach seinem Werte und die Ausbreitung desselben über
immer weitere Flächen, über immer mehr Schichten der Bevölkerung.
Wir unterscheiden also hier leicht erstlich den intellectuellen
Inhalt, zweitens die innere Sprachform oder den
etymologischen Wortsinn, durch welche jener Inhalt appercipirt,
dar- und vorgestellt wird, und drittens den Laut.

562. Niemand wird läugnen, dass mit jenen Wörtern
wirklich die angegebenen Apperceptionen sich vollziehen. Wenn
sie ihm aber wenig bewusst erscheinen, so möge man bedenken,
dass alle jene Wörter schon nicht mehr neu und jung genug
sind. Woher rührt es nun aber, dass diejenigen Apperceptionen,
welche im Worte vollzogen werden, oder, dass die innere
Sprachform, das Etymon, immer mehr und mehr an Bewusstheit
verlieren? Die unmittelbare Bedeutung der Wörter, ihr
etymologischer Sinn, sei dieser das onomatopoetische Gefühl
oder irgend ein Moment der Anschauung, tritt allmählich immer
weniger ins Bewusstsein, obwohl es doch gerade die Aufgabe
dieses Etymon ist, den schwingenden Inhalt im Bewusstsein zu
vertreten, ja, ihn zu appercipiren. Woher diese sich in sich
widersprechende Erscheinung? Nun einfach daher, weil nicht
Wörter, sondern Sätze gesprochen werden, und weil es dabei
429das Wichtigste ist, dass Subject und Prädicat einander appercipiren.
Denn in dem einzelnen Worte ist immer nur eine einseitige
Apperception und teils eine nebensächliche, teils eine
an sich unverständliche, abstracte, allemal und vorzüglich aber
eine in diesem Augenblicke gar nicht gewollte (581. 582). Wenn
wir sagen: „der Strauch blüht”, so ist die Apperception der
Anschauung durch das straubige Gewächs in diesem Augenblicke
gar nicht das, worauf es ankommt; es ist ein bloßer
Anknüpfungspunkt. Aber die Apperception durch blühen ist
beabsichtigt, und sie lässt die erstere nicht ins Bewusstsein
kommen. Und so geschieht es ja doch in allen Fällen, wo wir
uns in Sätzen ausdrücken. Nur die Apperception von Subject
und Prädicat durch einander ist die Sache; sie überschattet,
verwischt die einseitigen Apperceptionen durch die einzelnen
Wörter. So verliert allmählich das Wort als einzelnes die
appercipirende Kraft; d. h. sein Etymon wird vergessen, die
innere Sprachform vertrocknet, es bleibt nichts als der Laut,
der immer noch mit demjenigen Inhalt, der Erkenntniss-Gruppe,
associirt ist, der ehemals durch den etymologischen Sinn dieses
Lautes appercipirt wurde. Es ist ein abgekürztes Verfahren
eingetreten, wie bei den Associations-Bewegungen (277). An
das erste Glied der Reihe knüpft sich unmittelbar die Schwingung
des Inhaltes mit Auslassung der Apperception, welche
beide ursprünglich verbunden hatte. So ist es denn heute durchgängig
und namentlich bei allen substantivischen Stammwörtern
nicht mehr als die Laut-Empfindung, welche ins Bewusstsein
tritt: und der Anstoß eines mit Mund-Geräuschen und Stimm-Tönen
verbundenen Atemzuges vermag tausend in einander
greifende Räder des geistigen Inhalts zugleich in Bewegung zu
setzen.

563. Es gibt noch andre mächtig wirkende Ursachen, aus
welchen das Etymon aus dem Bewusstsein schwindet, welche
aber doch erst aus der angegebenen folgen, insofern schon
secundär sind und auch nur aus den geschichtlichen Schicksalen
der Sprache erklärt werden können, daher sie hier nicht
darzulegen sind. Es genüge hier die Andeutung, erstlich, dass
die Wandlungen, welche der Laut erfährt, in Wechselwirkung
mit dem Vergessen des Etymon steht; zweitens, dass die Fähigkeit
der Neubildung der Bewarung des Alten schädlich ist;
430und drittens dass aus unbekannten Gründen Wörter aus dem
Sprachgebrauch kommen und verloren gehn. Ist aber ein Verbum
verloren gegangen, so sind die damit zusammenhängenden
Nomina in ihrem Etymon verdunkelt. Vergl. Lazarus, Leben
der Seele II. S. 141 ff. Meine kleinen Schriften I, 87.

564. Die Entwicklung der Sprache selbst also ist die Ursache
davon, dass erstlich (556) die Onomatopöie aufgesogen wird
von der charakterisirenden Innern Form, und dass dann weiter
das Etymon in dem Sprachgebrauch untergeht. Dass die Wurzel
pat für Fliegen onomatopoetisch ist, darauf können wir uns
zwar, wie ich meine, noch besinnen; aber der Grieche hatte
das nicht mehr in seinem unmittelbaren Sprachgefühl. Von
dieser Wurzel kommt πτεϱόν und unser Fittich, auch Feder.
Letzteres ist nach seinem etymologischen Sinne dasselbe, wie
Flügel und Fittich, was ja auch πτεϱόν bedeutet, nämlich genauer:
Mittel zum Fliegen. Dass und wie Feder, Fittich und
Flügel verschiedenes bedeuten, ist ziemlich zufällig: der Sprachgebrauch
hat sich so gestaltet. Nur so viel sieht man in diesem
Falle, dass die Germanen das Verbum der Wurzel pat verloren
hatten, dass ihnen also Flügel, dessen Verbum heute noch besteht,
klarer sein musste, als Feder und Fittich. Daher ward
der Gebrauch des letztern seltener und nur in der Poesie und
in Volksdialekten erhalten; Feder aber hieß ein vereinzelter Teil
des Fittichs und auch des Flaums. Man glaubte wohl, dass
der Vogel nicht bloß mit den Flügeln, sondern mit seiner ganzen
Flaum-Decke fliege. Das lat. penna hat diese selbe Entwicklung
wie unser Feder erfahren. Als man nun mit Federn
zu schreiben anfing, so war bald der Gebrauch einer einzelnen
Feder wohl kaum noch ein andrer, als der zur Schrift; und im
Sprachgefühl war dieselbe aufs häufigste nichts andres als Mittel
zum Schreiben. Und so sagen wir heute: Metallfeder, was nach
ursprünglicher Etymologie ziemlicher Unsinn wäre. Dieses
Object wird nicht etwa als Flugmittel appercipirt, sondern durch
den Zweck, welchen in der Cultur der Federkiel gewonnen hat,
und durch das Material, welches heute dazu verwendet wird.
Vergl. Flieder -Thee u. A.

565. Auf diesem Standpunkte, wo wir mit Wörtern ohne
Etyma, d. h. mit bloßen Lauten sprechen, vereinfacht sich die
431Formel von 553, insofern als nicht nur das G2 und Γ2, sondern
auch das M und N schwindet; es bleibt also

image

566. Abgesehen aber davon, dass die Sprachen bis heute
immer noch eine größere oder kleinere Menge von Wörtern
klarer Ableitung enthalten, gewinnt auch das Wort durch den
Sprachgebrauch eine innere Sprachform. Das Nähere hierüber
gehört ebenfalls in die Geschichte der Sprachen. Was wir
meinen, kann aber hinlänglich angedeutet werden. Ross und
Pferd, Frau und Weib, Lenz und Frühling, Grab und Gruft
und Grube, und wie wir soeben sahen, Flügel und Fittich, und
die Synonyma überhaupt zeigen, dass ohne Rücksicht auf das
Etymon derselbe Gegenstand durch verschiedene Wörter in
mehrfacher.Weise appercipirt wird. Diese Differenz ist eine
der innern Sprachform. Die eben angeführten Wörter unterscheiden
sich nicht durch ihr benanntes Object, sondern lediglich
durch die innere Sprachform, welche aber doch nicht in
der Etymologie liegt. (Meine kleinen Schriften I. 91—95).

567. Wie die Onomatopöie, obwohl aufgesogen, doch nicht
vernichtet ist, so auch die etymologische Sprachform nicht.
Abgesehen davon, dass sie in weiter Ausdehnung, obwohl nur
in einer Jüngern Wortschicht erhalten ist, sucht das Volk, wo
es kann und wie es kann, etymologische Anklänge in das Wort
zu bringen. Hier sind die sogenannten Volksetymologien gemeint.
Fittich z. B. ist im Deutschen insofern ein abgestorbenes,
verknöchertes Wort, als es zu keinem Verbum mehr in Beziehung
steht. Das Volk aber sagt in manchen Gegenden
Flittich, weil es zu fliegen gezogen werden soll. Solche Fälle
sind bekanntlich sehr häufig. Sie entsprechen denen, wo eine
Onomatopöie durch Lautwandel erst später hergestellt worden ist.

c) Vorstellen.

568. Wir haben jetzt genauer zu erkennen, wie sich der
Charakter der intellectuellen Tätigkeit durch die Schöpfung der
Sprache im Gegensatze zur frühern Stufe, der der Anschauung,
geändert hat. Wir bezeichnen ihn mit dem Ausdrucke Vorstellen.
432Vorstellen ist intellectuelle Tätigkeit mit Hülfe der
Sprache; es ist geradezu Sprechen, also genauer: die Erscheinung
der Intelligenz in der Sprache.

569. Vorstellen im eigentlichen Sinne bezeichnet demnach
einen Gegensatz zu Warnehmen. Es handelt sich nämlich bei
diesen beiden Terminis um die Form, in welcher der geistige Inhalt
bewusst ist. Dieser ist erstlich in Folge der sinnlichen Warnehmungstätigkeit
wirklich und vollständig in unserm Bewusstsein
und kann auch später wieder durch Erinnerung in gleicher
Fülle reproducirt werden; — oder aber zweitens der Inhalt
tritt nicht selbst und wirklich in das Bewusstsein, sondern bleibt
schwingend und wird im Bewusstsein nur durch den Reflexlaut
mit dem durch ihn geweckten Gefühl oder durch den Sprachlaut,
das Wort, mit dem durch dasselbe bezeichneten Momente
einer Anschauung, endlich durch den bloßen Wortlaut, vertreten,
repräsentirt, vorgestellt. Wir lesen oder hören z. B. folgendes:
„Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat
einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln
wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin,
die heute im Nachspiele, als junger Offleier gekleidet, das
Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld als sonst, wenn sie
ihr nur ein mäßiges Abendessen vorzusetzen hatte; diesmal
sollte sie mit einem Packet überrascht werden, das Norberg,
ein junger reicher Kaufmann, mit der Post geschickt hatte, um
zu zeigen, dass er auch in der Entfernung seiner Geliebten gedenke.”
So schreibt der Meister erzählender, plastischer Darstellung.
Auch das Angeführte ist, meine ich, voller Plastik.
Indessen, wie viel von Bild ist dabei vor das innere Auge des
Lesers getreten? Man frage sich Satz für Satz. Ich will nicht
fragen, welches Bild er hatte, als er las: „Das Schauspiel
dauerte sehr lange” — obwohl das doch wahrlich keine mathematische
und logische Abstraction enthält. Aber hatte der Leser
vielleicht wirklich ein Bild vor sich, wie die alte Barbara ans
Fenster tritt und horcht? Es ist wohl zugestanden, dass ein
Bild erst entstehen könnte, wenn man den ganzen Absatz gelesen
hat; aber welcher Leser hält es für nötig nun einzuhalten
und sich das Bild zu entwerfen? Er glaubt es zu besitzen und
besitzt es wirklich, aber er schaut es nicht — es schwingt
bloß in ihm. Wer es versuchen wollte, sich bei jedem Worte
433die dazu gehörige Anschauung in das Bewusstsein zu bringen,
das Bild wirklich zu produciren, würde bald in große Verlegenheit
geraten. Wie würde er sich benehmen, während er liest:
„ob die Kutschen nicht rasseln wollten.” Soll er die Kutschen
sehen und hören? aber sie sind ja eben noch nicht warnehmbar.
Er soll sie also schauen und nicht schauen. Wer hat
irgend etwas Anschaubares im Sinne bei den Wörtern „erwartete,
Nachspiel, Publikum entzückte” u. s. w.? Oder hatte etwa
jemand das Bild eines Schauspiel-Saales vor sich mit Bühne
und Decoration und Schauspielern und ein klatschendes Publicum
in allen Rängen. Wer dieses Bild hätte, der würde ja
die Erzählung gerade am wenigsten verstanden haben. Also:
indem dem Bewusstsein lauter Momente discursiv gegeben werden,
welche keine Anschauung produciren können und sollen,
steht schließlich ein Bild vor uns, das wir aber doch nicht entwerfen
und beschauen; das wir aber genießen, obwohl wir es
nicht anschauen.

570. Wir kommen hier zu einem eigentümlichen Verhältniss
schwingender Vorstellungen und zu dem Problem von der
Enge des Bewusstseins. Während wir sprechen oder hören,
geht in uns eine doppelte Bewegung vor: die eine im Bewusstsein,
die andre dort, wo unser ganzer geistiger Besitz von der
Seele aufbewart wird (272). Wir können nicht umhin, wie oben
schon öfter ausgesprochen, jedes geistige Gebilde, jede Anschauung,
jede Erkenntniss, jede Combination als in der Seele
existirend anzusehen. Wir haben aber von dem Sein dieser
Gebilde und von den Schicksalen, welche sie erfahren, indem
sie mit einander verbunden, von einander getrennt, in ihre Elemente
zerlegt werden, ihre Bewusstheit unterschieden. Jetzt sei
ein Gleichniss gestattet. Die Seele sei wie ein Clavier angesehen.
Was wir Bewusstsein nennen gleicht dann der Claviatur:.
während der ganze geistige Besitz, über den wir verfügen und
das Gemüt mit seinen mannichfachen Erregungen den in dem
Kasten verborgenen Saiten entspricht. Das Bewusstsein ist der
Ort, wo wir auf dem Geiste und Gemüte des Menschen spielen.
Wird nun auf dem Ciavier gespielt, so geht eine doppelte Bewegung
des Instrumentes vor: die eine an den Tasten, welche
niedergedrückt werden, und welche offenbar ist, und eine andre,
im Innern des Instruments an den Saiten, welche schwingen.
434Die Bewegung, die mit den Tasten vorgenommen wird, ist nicht
die wesentliche; sondern die Schwingung der Saite empfinden
und fühlen wir als Ton, sie ist die Musik. So ist nun auch
die Bewegung im Bewusstsein nur dem Druck auf die Tasten
vergleichbar; das wirkliche geistige Spiel geschieht in dem unbekannten
Innern der Seele. Die Wörter sind die Tasten. Diese
aber stehen mit den Saiten in Verbindung. Der Druck auf die
Taste setzt die Seite in Schwingung. So setzt das gehörte, im
Bewusstsein angeschlagene Wort den geistigen Inhalt in Schwingung;
Wort und Inhalt sind associirt: dieser wird bewegt, sobald
jenes ertönt. Sagt man z. B. zu jemandem: „N ist gestorben”;
so wird beim Aussprechen und Hören des Subjects
nicht etwa die Totalvorstellung oder Gesammtanschauung oder
allgemeine Anschauung einer bestimmten Person gedacht; denn
all dergleichen wie Totalvorstellung oder Totalanschauung einer
Person ist gar kein psychischer Act, sondern ist nur ein Collectivum,
ein Zusammenfassen des ganzen Inhalts, den wir von
jemandem wissen, und der sich nur in einer langen Reihe von
psychischen Acten denken lässt, niemals aber in einem Momente,
mit einem Schlage gedacht wird (15. 544). Was vielmehr
geht vor, wenn jemand obigen Satz hört? Der Name des
Subjects, Carl, dein Vater, ist associirt mit unserm sämmtlichen
Wissen von dieser Person und allen Gefühlsbeziehungen, in
denen wir zu derselben stehn (Pn). Der Laut ertönt und dieses
Wissen mit allen Gefühlen ist in Schwingung. Eine wirre Masse
ist erregt, welche aus ihrem latenten Zustande ins Bewusstsein
strebt, aber so massenhaft nicht eingehn kann. Indessen ist sie
bereit (253) in einen Process zu treten; sie steht als Subject
und harret eines Prädicates, um es zu appercipiren und von
ihm appercipirt zu werden. An dem Laute „tot” ferner hängt
der Gedanke des Verlustes durch das Verschwinden einer Person
aus dem Reiche der Zeitlichkeit (77,); jener Laut erschallt,
und dieser Gedanke schwingt und geht mit der den Augenblick
zuvor als Subject bereit gestellten Masse den Apperceptions-Process
als Prädicat ein.

571. Wir haben im Vorstehenden ein Gleichniss aus dem
Reiche des Mechanismus gebraucht. Vielleicht fällt jemandem
ein, aus diesem Gleichniss Ernst zu machen. Das Ohr (die
Corti'schen Stäbchen) ist der Ort der Tasten, und diese stehen
435mit den Saiten, die in den vordem Gehirn-Hemisphären ausgespannt
sind, in Verbindung. Indessen dies habe ich nicht
gemeint. Durch das Gehör erhalten wir Laut-Empfindungen.
Der Ort aber, wo diese bewusst werden, das ist der Ort des
Bewusstseins, wo sich die Claviatur findet, die hier gemeint ist.
Meine Tasten sind schon psychisch. Darum würden wir aber
doch schon ein besseres Gleichniss haben, wenn wir die Elemente
der Sprache als seelische Nervenfasern ansähen, die
Sprache als einen sechsten Sinn, als einen Sinn nicht zum Behufe
der Vermittlung der Außenwelt mit dem Innern, sondern
zur Vermittlung der Seele mit dem Bewusstsein. Denn nicht
bloß Mitteilung oder Darstellung für den Andern ist die Sprache,
sondern Darstellung für den Sprechenden selbst, d. h. Vorstellung
des eigenen Seeleninhaltes im Bewusstsein. Nur darin
liegt der Unterschied zwischen dem Sprechenden und Hörenden,
dass für letztern zuerst die Sprache im Bewusstsein spielt, und
dann die Seele schwingt, für den Sprechenden aber zuerst Geist
und Herz bewegt sind und ihre Vertreter, die Sprach-Elemente,
ins Bewusstsein senden. So stellt sich der Mensch vermittelst
des Wortes seinen geistigen Besitz im eigenen Bewusstsein vor.
Ob man uns die Mitteilung macht „N ist hier”, oder ob wir
diese Person wirklich warnehmen, ist für den Inhalt des Erfolgs,
für das bloße theoretische Verhalten, ganz gleich. Hier
ist es ein Anblick, den das Auge gewährt, das innere Bild des
Freundes, welches wegen der sinnlichen Energie seiner Erscheinung
als leibhaftig anwesend appercipirt wird; dort bringt
der Laut N nicht das Bild, aber die gesammte Gruppe unserer
Beziehungen zu dieser Person in Schwingung, und diese wird
nun ebenfalls als hier anwesend appercipirt, obwohl ihr noch
nicht die sinnliche Warnehmung zur Seite steht, sondern bloß
weil durch den Laut solche Apperception angeregt wird. War
man nun durch das Zusammentreffen mit N besonders überrascht,
so bricht man wohl in den Ruf aus: Du hier! Gerade aber
eben so würde die Nachricht von dem Hiersein dieser Person
überraschen, und man würde ebenfalls ausrufen: N hier! Dies
sagt man nur zu sich selbst. Man bringt sich den Inhalt, den
man aufgenommen hat und nun schon besitzt, noch einmal zum
Bewusstsein. Nun ist man erfreut über N's Anwesenheit, oder
betrübt über N's Tod. Diese Gedanken schwingen ununterbrechen
436in uns und geben uns die Stimmung. Von Zeit zu Zeit
aber treten sie ins Bewusstsein, und man sagt sich: „Er ist
hier!” oder: „Sie ist tot!”

572. Vergleichen wir so die Sprache einem Nerven-Apparat,
so müssten wir freilich sagen, er wirke eben so wohl
centripetal als centrifugal, ersteres wenn wir hören, letzteres
wenn wir sprechen. Centrifugal wirkt die Sprache nicht bloß
wenn wir dem Andern Mitteilung machen, sondern auch wenn
wir überlegen. Selbst bei einfachen Fragen um wie viel mehr
bei verwickeltem, streng wissenschaftlichen Erwägungen, werden
große Gruppen von Tatsachen und Urteilen mannichfach
hin und her bewegt. Und dies geschieht, indem wir im Bewusstsein
Wörter bewegen, welche mit jenen Gruppen associirt
sind. Ob wir nun zu uns reden oder zum Andern: das ist
gleich. Alles Sprechen und Denken in Worten beruht darauf,
dass wir den Inhalt, den wir mitteilen oder den wir uns zur
Lösung einer Aufgabe klar machen wollen, in Worte übersetzen;
dass der Inhalt seine stellvertretenden Wörter in das Bewusstsein
schicke, da er selbst nicht dahin gelangen kann. Wie nun
das, was Abgeordnete vollziehen, seine Geltung für die Vollmachtgeber
hat: so haben die Verbindungen und Trennungen
der Wörter ihren Wert für den durch sie vorgestellten Inhalt.

573. So ist wohl klar, wie bei unserm Sprechen, Hören
und Denken sich zwei ganz verschiedene Bewegungen vollziehen,
wie wir oben sagten (570); nämlich noch ganz abgesehen von
der bloßen Aufnahme von Lautempfindungen combiniren wir
im Bewusstsein Wörter, d. h. Vorstellungen, und damit vollzieht
sich außerhalb des Bewusstseins (wie man zu sagen pflegt:
unter dem Bewusstsein) dieselbe Combination derjenigen schwingenden
Inhalts-Gruppen, welche durch jene Wörter vorgestellt
werden. Wenn wir den blühenden Strauch warnehmen, so
kommen wir entweder zu einer einfachen Anschauung durch
die Tätigkeit unseres Gesichtssinnes, wir haben ein A; oder
wir vergleichen zugleich die gegenwärtige Anschauung mit derjenigen,
welche uns derselbe Strauch den ganzen Winter hindurch
und noch gestern durch den Anblick geboten hatte, und
wir kommen zu dem Ergebniss A (N > 0). Dies ist einfache
Anschauungs-Erkenntniss. Wenn wir nun unsre Erkenntniss
mitteilen und sagen: „die Sträucher blühen”, so wird durch
437das Wort Sträucher ins Bewusstsein gerufen das Strauchige,
Straubige und durch blühen das blbl-Machen. Zugleich aber
gerät eine Gruppe von Kenntnissen durch das eine, und eine
andre Gruppe durch das andre Wort in Schwingung. Jene
beiden Wörter, d. h. die Laute und das was sie in das Bewusstsein
bringen, wirken nun als Vertreter dieser beiden viel
reichern Gruppen von Kenntnissen. Wer wüsste nicht vom
Strauch viel mehr, als dass er strauchig ist? und vom Blühen,
als dass es ein blbl-Machen ist? Man mag nun viel oder wenig
davon wissen, immer wird das Gewusste im Bewusstsein vorgestellt
durch jene Wörter. Wie nun diese einander im Bewusstsein
appercipiren, so appercipiren einander auch jene von
ihnen vorgestellten Gruppen in schwingendem Zustande.

574. Wir haben jedoch die hier vorliegende psychologische
Tatsache nur mangelhaft ausgedrückt, wenn wir annahmen, das
Wort sei mit den Erkenntniss-Gruppen associirt. Die Sprachgebilde
sind keine Stäbchen, welche die Tasten mit den Saiten
verbinden, noch auch Nerven, welche Erregungen leiten. Wir
wissen ja auch, dass jede Association auf einer Verbindung,
beruht. Wie ist denn also das Wort mit dem centralen Inhalt
verbunden? Auch dies ist schon gesagt: das Wort appercipirt
den Inhalt und ist eben darum eine Darstellung des Inhalts.
Es enthält unser Selbstbewusstsein, d. h. das, was wir an unserm
Inhalt zu haben meinen, seinen Kern und Wesen, sein
allgemeines Moment M, durch welches es mit anderm Einzelnen
zu derselben Gattung verbunden wird. Wenn wir z. B. von
Gewächsen reden, so geben wir damit kund, dass an diesen
Objecten, aus wie vielen Merkmalen sie auch bestehn mögen,
doch das Wachsen das wesentliche, charakteristische Merkmal
ist.

575. Auch ist es gleichbedeutend, ob wir sagen, das Wort
appercipire eine Erkenntniss-Gruppe, etwa einen Anschauungsinhalt,
also Inneres, oder ob wir sagen, das Wort appercipire
den äußern Gegenstand. Hat eine Warnehmung nach der einfachsten
Formel A+A1 = A2 einen Lautreflex gefunden, so
wird A2, d. h. sowohl das Warnehmungsbild A = P als auch
die Erinnerung A1, von diesem Reflex appercipirt, und derselbe
stellt A2 dar, d. h. das projicirte Innere oder den in das Innere aufgenommenen
Gegenstand.438

576. Ist aber das Etymon vergessen, so wirkt der Sprachgebrauch
noch viel entschiedener. Nicht jedes, aber doch so
manches Wort steht im ausschließlichen Dienste einer besondern
und zwar sehr mächtigen Vorstellungs-Gruppe oder einer Stimmung.
Gleichviel welche Etymologie das Wort „der Lenz”
hat, es bestimmt ohne Rücksicht darauf durch den Sprachgebrauch
den Hörer oder Leser, in der poetischen Vorstellungsweise
zu appercipiren. Dies führt in die Geschichte der Sprache
und die Stylistik.

577. Der Vorteil nun endlich, welchen der Geist durch
das Vorstellen gewonnen hat, muss jetzt klar sein. Er scheint
mir ganz wesentlich und ausreichend, um die Kluft zwischen
Mensch und Tier zu erklären. Er reicht auch aus, um begreiflich
zu finden, mit welchem Rechte man meinte, der Mensch
müsse ein besondres, höheres Seelenvermögen vor dem Tiere
voraus haben. Er hat wirklich in der Sprache ein geistiges
Organ, das dem Tiere ganz abgeht, und das den Keim zu unabsehbarer *)48
Entwicklung liefert. Der Inhalt der Warnehmungen
oder der erinnerten Anschauungen liegt allemal in Bildern,
welche das Bewusstsein ausfüllen und belasten und so
dessen Tätigkeit sehr beschränken. Beim Vorstellen hat das
Bewusstsein den Inhalt selbst gar nicht mehr zu tragen; derselbe
wirkt schwingend und erhält die maßgebenden Anstöße
zu bestimmten Apperceptions-Bewegungen durch ganz geringfügige
Elemente, welche schnell durch das Bewusstsein ziehen.
Und diese Form der intellectuellen Tätigkeit fällt ganz mit
Sprechen zusammen. Es ist doch wohl nicht übertrieben, wenn
ich meine, der Unterschied zwischen dem immer in Bildern
lebenden Anschauen und dagegen dem Vorstellen sei gleich
dem Unterschiede, ob wir das Bild einer Gruppe oder Masse
von vier, zehn, hundert Gegenständen (Schafen oder Punkten)
vor und in uns haben, oder aber ob wir nur mit dem Zahlzeichen
4, 10, 100 rechnen. Ja, wer immer den Unterschied
zwischen Warnehmen und Vorstellen noch nicht begriffen haben
sollte, bedenke dass er hier :: vier Punkte warnimmt, anschaut;
439das Zahlwort vier aber ist die Vorstellung aller möglichen Warnehmungen
von vier Einheiten.

d) Vorstellung.

578. Vorstellen oder Sprechen bezeichnet eine Form, wie
der geistige Inhalt bewegt, wie mit ihm operirt wird —- eine
Form, keinen Inhalt. Noch genauer können wir sagen, Vorstellen
oder Sprechen bezeichne nur eine Weise der Beziehung
des Inhaltes zum Bewusstsein. So müsste ja, scheint es, das
Wort oder eine Vorstellung absolut Form und völlig inhaltslos
sein. Dies ist in gewissem Sinne allerdings der Fall. Ein
Wort ist freilich ein bestimmtes Etwas, nämlich erstlich allemal
mindestens ein Lautgebilde, und ich will nicht zuviel Gewicht
darauf legen, dass ein Lautgebilde doch nur eine Form der
Luftschwingung ist. Doch ist zu allen Zeiten mit Recht darauf
hingewiesen worden, dass sogar das Materielle an der
Sprache nicht Materie selbst, sondern nur Form der (unter den
bekannten) widerstandslosesten Materie ist. Dann enthält ein
Wort ein Etymon, eine innere Sprachform. Wo aber diese
bloß noch im Sprachgebrauche liegt, da ist sie eben nur Beziehung
eines bestimmten Lautgebildes zu einer mächtigen Vorstellungsgruppe,
wenn sie nicht kurzweg Association eines
Lautes mit irgend einem Inhalte ist, also an sich inhaltslos
Selbst aber endlich da, wo das Wort einen Inhalt hat, ein
klares Etymon, welches einen Anschauungsinhalt appercipirt
z. B. bei Dampfwagen, selbst da hat doch der Wort-Inhalt
nur den Zweck, einen andern, viel reichern intellectuellen Inhalt
in Schwingung und Bereitschaft für Denktätigkeit zu setzen
selbst da ist das Wort so sicher etwas rein Formales wie ein
Kunstwerk, das doch auch allemal Materie ist. Wir sagen
aber: nicht der Marmor, nicht das Erz sind das Kunstwerk
sie sind nur die Träger der künstlerischen Form. So sagen
wir denn auch, das Wort, insofern es materiell ist oder einen
Inhalt hat, ist auch nur Träger einer Form, und nur als Form
als Träger einer solchen hat es Wert. Der Denker macht sich
gelegentlich auch eine Form zum Gegenstande; und so wird
das Wort, die Sprache, obwohl bloße Form, doch Gegenstand
440für den Sprachforscher. Für den sprechenden Menschen als
solchen aber ist Sprechen bloßes Formen.

579. Nur Inhalt belastet das Bewusstsein, nicht Form;
und nur insoweit das Wort doch auch ein Inhalt ist, belastet
es dasselbe allerdings. Dies geschieht aber in auffallend geringem
Maße. Ja, wenn wir denjenigen sprachlichen Standpunkt
ins Auge fassen, wo das Wort nicht mehr mit seinem
Etymon, sondern nur als Laut wirkt, muss der Psychologe
wirklich in Verlegenheit geraten, wenn er sagen soll, was
eigentlich im Bewußtsein ist. Denn der Laut der Sprache als
solcher wird in der lebendigen Rede kaum bewusst. Ganz anders
verhält sich unser Bewusstsein dem Sprachlaut gegenüber und
gegenüber der Musik oder dem Gesänge. Und doch erkennen
wir den Sprechenden an der Stimme, merken ob er heiser ist,
fühlen den Wohlklang, unterscheiden durch den Accent gébet und
Gebét (267. 268). Also muss der Laut im Bewusstsein gewesen
sein. Aber erstlich wird ihm die Bewusstheit aufs schnellste
entzogen; denn er soll ja auch nur dazu bewusst werden, dass
er den mit ihm associirten Inhalt in Schwingung bringe. Dazu
aber genügt die kürzeste Dauer. Und zweitens erregt er an
sich und für sich kein Interesse weiter; darum achtet man
nicht auf ihn, merkt ihn nicht (246). Er geht durch das Bewusstsein
als ein bJoßes Mittel, das, sobald es seinen Dienst
getan, wertlos ist. Nur wenn der Laut besonders appercipirt
wird, wenn z. B. der heisere Ton mit der gewöhnlichen Stimme
des Menschen verglichen wird, wenn die Töne in gemessener
Weise sinken und steigen und Harmonien erzeugen, locken sie
die Aufmerksamkeit auf sich (246). Man sieht hier recht klar,
wie Bewusstheit von Verbindung abhängig ist. Was wir aber
hier zeigen wollten, war, welche geringe Last die Sprache dem
Bewusstsein bietet. Dass die Form keine Last für dasselbe ist,
wird im Folgenden mit dem Wesen der Form immer klarer
werden.

580. Es ist nicht leicht, ein solches Wesen, wie das Wort
oder die Vorstellung, welches so reine Form sein soll, richtig
und allseitig zu fassen. Zunächst schien es also, als könnte von
einem Wesen, d. h. einem Inhalt, welcher Vorstellung heißen
dürfte, gar nicht die Rede sein. Denn wenn Vorstellen, wie wir
ausgeführt haben, nur eine gewisse Weise innerer Tätigkeit,
441nur eine Form des intellectuellen Wirkens im Bewusstsein ist:
so kann offenbar von Vorstellung nur in dem Sinne eines Nomen
actionis gesprochen werden: die Vorstellung = das Vorstellen. Der
Inhalt hingegen gehört der Anschauung, der warnehmenden oder
erinnerten Anschauung. Es kann aber keinen Inhalt geben, der
eine Vorstellung wäre, im Gegensatze zu einem Inhalte, der
eine Anschauung oder ein Begriff wäre. Nur in dem Sinne,
wie man von einer theatralischen Aufführung eines Drama's
sagt, es sei eine schöne, eine ungenügende Vorstellung gewesen,
nur so kann man auch ein Wort eine Vorstellung nennen, indem
man hier wie dort von der Vorstellung das Vorgestellte
absondert, dort: das Drama, hier: die Anschauung.

581. So scheint es. Indess ist an den metaphysischen
Satz zu erinnern, dass formende Tätigkeit in vielen Fällen den
Inhalt an sich angreift und wesenhaft umgestaltet; und es wird
wohl bald einleuchten, dass der Inhalt, der dem Bewusstsein
durch Warnehmung oder als erinnerte Warnehmung, also als
Anschauung, gegeben ist, sich auch inhaltlich ändert, wenn er
im Bewusstsein bloß vorgestellt wird. Es lässt sich leicht zeigen,
wie diese Momente, in welche die Anschauung durch mehrere
einseitige Apperceptionen zerlegt ist, aus allen Anschauungen
herausgehoben sind und alle Anschaulichkeit verloren haben.
Wenn z. B. die gegebene Anschauung des tanzenden Weibes
in Person (Weib) und Tätigkeit (tanzen) zerlegt wird: so geschieht
dies, indem das Moment der Person (das Weib) als ein
gesondertes Etwas durch eine Anschauung (z. B. gebären, weben)
appercipirt wird, welche mit dem angeschauten Tanz weiter
keine Berührung hat, als durch die gemeinsame Person. Und
nur dieses geineinsame Moment kommt für den gegebenen Fall
in Betracht, gar nicht der besondre Inhalt der Anschauung des
Säugens oder Gebarens. Wenn aber auch dieser Inhalt jetzt
nicht in Betracht kommt, er gilt doch immer als constanter
Charakter der betreffenden Person, und durch diese charakterisirende
Apperception wird diese Person als isolirtes Moment
festgehalten, vertreten, vorgestellt. So aber wird die Person
aus allen Anschauungen, in denen es enthalten ist, ausgelöst.
Wenn das Weib vom Griechen als γυνή, Gebärende appercipirt
wird, so ist sie aus jeder Warnehmung der Frau, herausgeschält,
nicht nur der waschenden, tanzenden, säugenden u. s. w., sondern
442auch aus der Anschauung des Gebärens selbst; die charakterisirende
Apperception verliert den Wert, Äquivalent eines
bestimmten Äußern, einer Warnehmung zu sein. Ein Wort,
eine Vorstellung ist nie einer Anschauung adäquat; es muss
immer noch ein Wort hinzutreten. Will man das Säugen ausdrücken,
so sagt man ἡ γυνὴ ϑηλάζει u. s. w. und hier soll
γυνή
gar nicht als Gebärende angeschaut werden *)49. Dies soll
so wenig geschehen, dass wenn es Absicht ist, dass es geschehe,
dann auch noch ein Wort hinzugefügt werden muss: ἡ γυνὴ τέτοϰε.

582. Weil nun aber das Wort nicht die zufällige Warnehmung,
sondern den constanten Charakter bedeutet, so drückt
es das Wesen aus: nicht die Wirklichkeit, aber den Grund
derselben, das Ding an sich, welches so und auch so sein,
solches oder solches tun und leiden kann; gar nicht etwas Wargenommenes,
sondern den einem Verbande von Warnehmungen
zu Grunde liegenden Kern, welcher selbst nicht wargenommen
wird, aber zu allem Wargenommenen als dessen Grund und
Wesen hinzugedacht wird (23). Das Wort Baum z. B. deckt
keine Anschauung vom Baume. Eine solche hat immer entweder
einen grünen oder einen trockenen, einen hohen oder
niedrigen u. s. w. Baum zum Inhalt; das Wort dagegen bezeichnet
ein Moment, welches in allen Anschauungen vom Baume
vorkommt, welchem aber jede nähere Bestimmung fehlt; — es
bedeutet einen Baum, welcher nicht belaubt und nicht blätterlos,
nicht reich und nicht arm an Zweigen ist u. s. w.; — aber
es bedeutet den Baum, insofern er sowohl das eine wie das
andre sein kann, und insofern er eine Eiche und eine Tanne
sein kann, kurz das Wesen, welches die wargenommenen Eigenschaften
trägt und hervorbringt.

583. Der Wandel der Anschauung in Vorstellung ist also
nicht ein bloßes Übertragen des unveränderten Inhaltes aus der
einen Form in die andre; es ist nicht ein mechanisches Zerlegen,
sondern eher dem chemischen Fällen und Scheiden durch
Hinzutun von Reagentien vergleichbar. Es wird das Ding als
Grund der wargenommenen Erscheinung hinzugedacht, und
gerade damit die Erscheinung in ihre Bestandteile, d. h. Eigenschaften
443aufgelöst: Der Zucker ist süß, weiß, hart. Sonderling
haben wir oben als einen Grundzug der Entwickelung kennen
gelernt. Mit ihr muss aber das Zusammenfassen, mit der
Analyse die Synthese, zugleich wirken. Süße, Weiße, Härte
sind Empfindungen, die sich mechanisch mit einander verbinden;
als ihr Grund wird das Ding Zucker hinzugedacht, dessen
Eigenschaften dann in gesonderten Urteilen erfasst werden, der
Zucker ist süß, ist weiß, ist hart. Indem eine Anschauung
durch ein An und mehrere Nn vorgestellt wird, und das An die
Nn, die Nn das An im Satze appercipiren, ist die aufgelöste
Einheit des Anschauungs-Inhaltes wieder hergestellt, natürlich
in ganz anderer Form, als sie vorher bestand. Die neue Einheit
liegt in der Beziehung der einzelnen Eigenschaften auf
ihren Grund, das Ding. Dies aber ist sogar nicht ohne Einfluss
auch auf die Einheit der Anschauung. Die tierische Anschauung
mag nicht mehr sein als ein projicirter Verband von
Empfindungen (431); die menschliche, weil sie vorgestellt wird,
erhält selbst dann, wenn sie wargenommen wird, durch Übertragung
von der Vorstellung her eine größere Intensität der
Einheit und der Versetzung in die Wirklichkeit, indem ihr das
Ding als Grund des Seins untergelegt wird.

584. Es wird also zwar durch das Vorstellen kein anderer
Inhalt vorgestellt, als der wargenommene, angeschaute; aber
derselbe Inhalt erscheint anders beim Vorstellen als beim Anschauen.
Der Unterschied liegt zunächst darin, dass der Inhalt,
der im Anschauen als einheitliches Bild erscheint, beim Vorstellen
in gesonderten abstracten Momenten auftritt, deren keines
eine volle Warnehmung vertritt. Erst mehrere (wenigstens zwei)
solcher Momente, d. h. Wörter oder Vorstellungen, decken eine
Anschauung. Solche Vorstellungen, d. h. besonders vorgestellte
Anschauungsinhalte sind nun im Gegensatze zur Anschauung
(vergl. 421):

1) nicht anschaubar, aus Empfindungen zusammengesetzte
Bilder, sondern abstract, einfach, denkbar.

2) nicht etwas Einzelnes, sondern ein Allgemeines, d. h. sowohl
der einen wie vielen anderen Anschauungen angehörend.

3) Das in einer Vorstellung enthaltene Moment einer Anschauung
ist nicht ein räumlich begrenzter Teil der
räumlich begrenzten Anschauung; sondern es hat eine unräumliche,
444abstracte oder ideale Sonderung stattgefunden,
nach der Kategorie des Dinges mit seinen Eigenschaften.
Indem gezeigt wurde, wie die Sprache Wörter gewinnt,
ist auch gezeigt, wie diese Kategorie wirksam geworden
ist, oder dass Vorstellungen nach dieser Kategorie entstehn.
Jede Vorstellung ist entweder der einen oder
der anderen Kategorie angehörig, d. h. sie enthält entweder
eine Person, ein Ding (An) oder eine Tätigkeit,
einen Zustand, eine Eigenschaft (Nn). So ist die intellectuelle
Tätigkeit formal geworden, hat reine, nur
ihr selbst angehörige, apriorische Form gewonnen.

4) Die Vorstellung ist nicht mehr Product eines selbstbewusstlosen
Geschehens, sondern die erste theoretische
Tat, Anfang des Selbstbewusstseins.

585. Diese Unterschiede, einfache, notwendige, klare Folgen
der gegebenen Entwicklung der Sprache, sind schon 552
in Formeln angedeutet: P ist die Warnehmung, die Anschauung
(ein Baum z. B.); Pn ist das Geflecht von vielen Warnehmungen
desselben Dinges (vielmaliger Anblick desselben Baumes
oder vieler Bäume); ihm entsprechen allemal Geflechte Πn von
Warnehmungen derselben Bewegung an vielen andern Dingen
(wachsen, blühen an Bäumen, Sträuchern u. s. w.) Die Resultante
von Pn ist An, die von Πn ist Nn, was wir oben (15. 16) eine
allgemeine Anschauung nannten (Baum in vielfach möglicher
Erscheinung; Blühen in vielfach möglicher Weise). Da aber
An = A+A+A…. — An und ebenso Nn dem Inhalte nach
Nn, so ist nun An der Ausdruck der einheitlichen Dingvorstellung,
und Nn ist die einheitliche Eigenschaft-Vorstellung
(der Baum, das Blühen allgemein und schlechthin, abgesehen
von den Besonderheiten der Erscheinung als Grund dieser Besonderheiten).
— Das Verhältniss des An und Nn zu An und
Nn bedarf noch einer Erläuterung. In tausend Fällen kann
uns eine Differenz zweier Wesen so gleichgültig sein, dass
wir sie völlig unbeachtet lassen; aber in jedem Augenblicke
kann sie uns der Beachtung wert scheinen. Wie sieht diese
Milch aus? Weiß. Wie sieht dieses seidene Zeug aus? Weiß.
Also sieht dieses seidene Zeug wie diese Milch aus? Wenigstens
ungefähr so, mit einer gleichgültigen Verschiedenheit. Ein
andres Mal aber ist diese nicht gleichgültig. Insofern nun die
445Verschiedenheit des Weiß an den vielen weißen Dingen als
eine solche überhaupt anerkannt wird, ist weiß ein Nn; insofern
von solcher Verschiedenheit ganz abgesehen wird, ist es Nn,
eine einheitliche Verschmelzungssumme. Hiernach wird unsere
Bemerkung 53 begründet. An ist A mit seinen vielen Verbindungsmerkmalen
gedacht; An ist derselbe Inhalt ohne dieselben
gedacht. Weiß als Element eines Geflechts von Warnehmungen
existirt viele Male; weiß als Vorstellung nur einmal.
Das jeweilige Verbindungsmerkmal wandelt das eine Weiß der
Vorstellung bald in dieses bald in jenes Weiß der Anschauung.

586. So hat denn also eine Vorstellung, d. h. ein Wort,
außer dem Laute und dem Etymon doch noch einen bestimmten
Inhalt, der weder eine Anschauung ist, noch auch bloß ein äußerliches
Stück einer solchen, einen abstracten Inhalt vom Werte
des Allgemeinen, der Art. Aber auch so, mit diesem Inhalte,
hat die Vorstellung nur die formale Bedeutung oder Aufgabe,
einen Anschauungsinhalt darzulegen, schließt aber in sich selbst,
sogar mit diesem Inhalte, gar keine Erkenntniss in sich. Der
Satz stellt wenigstens eine Erkenntniss oder irgend einen Inhalt
dar; das Wort ist bloß ein Baustein zum Satz. —

587. Aber ein behauener Baustein, ein zu bestimmter
Weise der Einfügung in das Ganze geformter Stein. Vor allem
ist ein Wort entweder eine Subjects-Vorstellung An oder eine
Prädicats-Vorstellung Nn. Das ist ein Wort unter allen Umständen,
obwohl es damit noch nicht ein Substantivum im Nominativ
und ein Verbum ist. Denn ein Subject oder ein Prädicat
ist das Wort an sich und notwendig durch den Process
des Vorstellens; Nominativ und Verbum finitum wird es erst
durch einen neuen Schöpfungs-Act, durch die sprachliche Bezeichnung
der subjectiven oder prädicativen Function des Wortes.
Diese Bezeichnung braucht aber nicht notwendig durch die
Form des Nominativs und eines Verbum finitum zu geschehen,
sondern kann sich andrer Mittel bedienen. Nicht alle Völker
haben die genannten Formen in ihrer Sprache; aber in der
Rede jedes Volkes gibt es Subjecte und Prädicate, weil diese
mit dem Vorstellen an sich schon gegeben sind. Von den
sprachlichen Formen kann hier noch nicht die Rede sein; womit
wir hier beschäftigt sind, ist nur das, was zum Vorstellen
an sich gehört. Nur letzteres dürfen wir in der Seele aller
446Menschen in gleicher Weise voraussetzen: Sprachliches ist sogleich
bei den verschiedenen Völkern verschieden. Wir behandeln
an diesem Orte nur das allgemein Menschliche.

588. Wir haben bisher immer nur Warnehmungen des
Äußern beachtet; es gibt aber auch Vorstellungen vom Innern.
Der Unterschied aber zwischen Äußerm und Innerm ist für
unsre Betrachtung des Wesens der Vorstellung ganz gleich.
Auch wo es sich um die Auffassung oder Erkenntniss eines
Äußern handelt, wird allemal ein Verband von Empfindungen,
also durchaus Inneres, appercipirt. Ob ein Lichtreiz auf das
Auge oder ein Schmerz in den Gedärmen gegeben ist: der
Apperceptions-Process, durch welchen das Gegebene zur Erkenntniss
gestaltet und vorgestellt wird, bleibt in dem einen
wie im andern Falle derselbe. Der Unterschied liegt bloß in
dem Ergebnisse, insofern als dieses dort außerhalb unseres
Leibes, hier in unserm Leib, oder in unser Ich, unsre Seele
projicirt wird. Also die Vorstellung Schmerz, Freude, Andacht,
Aufmerksamkeit, Liebe u. s. w. erfordern keine andre Erklärung
als Blüte, Tanz, Geburt, Essen u. s. w. Eben so wenig Gott. —
Wichtiger wäre, die Apperceptionen durch die Gruppen der
ersten und zweiten Constitution von denen durch die Gruppen
der dritten Constitution (285 -—288) zu unterscheiden. Doch
glaube ich nicht, hier darauf zurückkommen zu müssen. Ich
füge nur hinzu, dass die Vorstellungen wie bald, sogleich, schön,
sehr früh vom Kinde gebildet werden; etwas später mögen Vorstellungen
folgen wie Schuld, Recht, mit Willen u. s. w. noch
früher aber als die ersteren erscheinen hinauf, hinunter u. s. w.

e) Das Denken; der Begriff.

589. Im Gegensatze zum Vorstellen, welches bloße Form
und Darstellung des Inhaltes für das Bewusstsein ist, nennen
wir die Bewegung des Erkenntniss-Inhaltes selbst, wie dadurch
neue Erkenntniss, neuer Inhalt gewonnen, oder gewonnener reproducirt
wird, Denken (27). Es steht auch in Gegensatz zu
Warnehmen und Anschauen, welches auf der Sinnestätigkeit
oder auf Erinnerung derselben beruht: während der im Denken
bewegte Inhalt dem Bewusstsein nicht durch die Sinne, sondern
447durch Vorstellen gegeben wird. — Das niedrige Denken hat
keinen andern Inhalt als das Anschauen; hat ihn aber in anderer
Form, nämlich in der der Vorstellung. Das Denken steigt
auf, indem es allmählich einerseits höhern Inhalt als die Anschauung
bot, und andererseits höhere Formen als die Vorstellung
bietet, erstrebt und erreicht. Die Anschauung soll
zum Begriff werden; und die subjectiven Vorstellungsformen
weichen den logisch, metaphysisch und durch Erfahrung geprüften
und begründeten, den objectiven Erkenntnissformen.

590. Wenn schon das, was wir eine allgemeine oder Gesammtanschauung
nannten (13—15) kein Act des Bewusstseins
werden kann (es ist ursprünglich eine Masse associirter Bilder
und wird dann ein Warnehmungsgeflecht Pn), so kann ein Begriff
noch weniger in das Bewusstsein treten. Begriff ist nur
die Zusammenfassung vieler begrifflicher (d. h. logisch und
metaphysisch geprüfter) Apperceptionen, ein bestimmt abgegrenzter
Complex von begriffllichen Erkenntnissen. Er ist gar
kein psychologisches Wesen (35 f.). Insofern er ein geistiges
Erzeugniss und ein geistiger Besitz ist, muss er ein psychisches
Wesen heißen, und er ist gebildet und lebt nach psychologischen
Gesetzen: wie eine Bildsäule nach Gesetzen der Schwere
ruht und bewegt wird und nach mechanischen Gesetzen angefertigt
ist. So wenig aber die Bildsäule als solche ein Natur-Wesen
ist, so wenig ist der Begriff ein psychologisches Wesen.
Wie jene ein Erzeugniss der Kunst, nicht ein Gewordenes,
sondern eine Tat, nicht ohne und durchaus nicht gegen die
Natur, aber doch eine freie Schöpfung des Geistes: so ist auch
dieser nicht gegen und auch nicht einmal ohne psychologisches
Gesetz, aber dennoch frei gestaltet nach bestimmten Rücksichten
aus psychischem Material. Er ist eine Einheit, aber nicht durch
sein psychisches Sein, nicht etwa als Geflecht, sondern nach
metaphysischer Bestimmung und logischer Fügung. Nicht als
ob er nicht auch ein Verband psychischer Elemente wäre: so
gewiss wie die Säule eine cohärirende und mechanisch verbundene
Masse ist. Was aber diese Masse zu einer Säule
macht, ist nicht ihre natürliche Cohäsion und das Natur-Gesetz,
welches ihre Teile zusammenhält, sondern ihre künstlerische
Bestimmung und Gestaltung. So ist auch ein Begriff diese bestimmt
abgegrenzte und geformte oder gegliederte Einheit nicht
448wegen der psychologischen Verhältnisse, in denen seine Elemente
stehn, sondern durch freie Arbeit. Den Arm des Künstlers
mit Hammer und Meißel nennen wir doch frei, obwohl er physiologischen
und physikalischen Gesetzen folgt; die Arbeit des
Denkers am Begriff ist eben so frei, obwohl psychologisch
gebunden.

591. Die Vorstellung aber, wie sie die Warnehmung und
die Anschauung vorstellt, vermag auch den Begriff vorzustellen.
Erstlich als Sprache benennt sie ihn mit einem Worte. Tier
benennt ein Auschauungsgeflecht (Pn) und auch den Begriff, den
wir wie die Auschauimg Pn schreiben, während die gegenwärtige
Warnehmung einfach P ist. Freilich aber, zweitens, vermag
das Wort, wie keine wirkliche Anschauung, so auch keinen
vollen Begriff vorzustellen. Dieser ist ein größeres oder kleineres
System begrifflicher Erkenntnisse; und die einfachste begriffliche
Erkenntniss bedarf zu ihrer Vorstellung mindestens zweier
Vorstellungen, zweier Wörter. — Man täuscht sich leicht über
die Bedeutung des Wortes. Ich sage z. B. zu einem Kinde:
„Was habe ich hier?” „Kirschen!” erschallt die jubelnde Antwort.
Jemand fragt, auf ein Bild zeigend: „Wer ist dies?”
„W. v. Humboldt.” Hier schienen die beiden Nomina der
Antwort Anschauungen zu bedeuten. Lernt ein Kind in naturgeschichtlichem
Unterricht: der Apfel ist eine Pflanzen-Frucht,
das Silber ein Metall, und die Metalle sind ein Mineral, so
scheinen die Namen Pflanze, Metall, Mineral Begriffe zu bedeuten.
Das tun sie auch in der Tat, aber nur mittelbar. Denn
das Wort ist immer nur Vorstellung, und die genannten Wörter
bedeuten an sich nur das An der betreffenden Anschauungen
und Begriffe, aber nicht das Nn, mit welchem zusammen erst
das An zum P würde. Wir lassen es uns indessen gern gefallen,
dass ein Anschauungsgeflecht oder ein begrifflicher Verband
oder auch eine Warnehmung (also ein P) durch ein bloßes
An für unser Bewusstsein vertreten oder vorgestellt werde. Der
Erkenntniss-Inhalt z. B. vom Silber, Glolde u. s. w. ist selbst
beim Kinde so reich, dass es ihm unmöglich würde, jeden dieser
Inhalte gleichzeitig im Bewusstsein zu haben, und dann weiter
ihre gleiche Natur zusammenfassend und heraushebend den Begriff
Metall zu bilden. Dem Chemiker wäre dies noch weniger
möglich. So tritt die An-Vorstellung des Begriffes statt des
449ganzen Begriffes Pn ein, und insofern bedeutet sie ihn. An aber
kann als P und auch als A1 (187) d. h. passiv oder activ auftreten.

592. Die Anschauung wurde, indem sie vorgestellt ward,
zugleich erst geistig geformt, nämlich in ihre Momente analysirt;
und diese wurden in Kategorien gebracht und in Gemäßheit
dieser Kategorien wieder zur Einheit verbunden (583—587).
Der Begriff ist an sich schon Analyse und Synthese; er ist ein
Gesetz, wenigstens ein Verhältniss, also Beziehung eines Mannichfaltigen
auf einander nach bestimmtem Maße auf Grundlage
metaphysischer Voraussetzungen und in bestimmten Denkformen.
Die Vorstellung soll und kann die Momente des Begriffs in der
ihnen innewohnenden begrifflichen Form darstellen, während
ihr doch natürlich nur die Kategorien des Wortes zu Gebote
stehn. Der Begriff lässt sich herab in die Formen der Vorstellung.
Wir berühren hier wieder die Stylistik, in welcher gezeigt
wird, wie die Anschauung und der Begriff, auch Wille
und Gefühl, in den ihnen fremden Formen der Sprache, d. h.
ja der Vorstellung, dargestellt werden können und dabei ihre
eigene Form nicht verlieren, sondern durchscheinen lassen. —
Hier muss wieder vor Täuschungen gewarnt werden. Sagt man
einem Kinde mit Hinweis auf einen einzelnen Fall: „o, das Tier
ist krank, friert, fühlt Schmerz”, so ist das Vor- und Darstellung
einer Anschauung. Sagt man dem Kinde, es belehrend-.
„Das Tier fühlt (wie Du den Schmerz)”, so ist ein Anschauungsgeflecht
dargestellt; und zwar wird das Geflecht ich fühle
vermehrt oder erweitert durch das Tier fühlt. Der ungebildete
Taubstumme hat dieselbe Erkenntniss, aber nicht als Anschauungsgeflecht,
sondern als Anschauungssumme (544). Wird aber
das Kind über das unterscheidende Wesen des Tieres belehrt,
oder spricht sogar der Physiolog: „das Tier fühlt”, so ist das
Darstellung eines Begriffes. An sich genommen aber sind hier
überall Sätze, genauer: zu Sätzen verbundene Vorstellungen, An Nn,
und was jeder bei diesem AnNn denkt, hängt von seinem geistigen
Besitz, seiner geistigen Entwicklungsstufe ab. „Ein Regentropfen
hat diesen Fleck gemacht” ist Vorstellung einer Warnehmung;
„Wasser macht nass” enthält die Verschmelzungssumme vieler
Warnehmungen; wenn aber der Physiker denselben Satz ausspricht,
so denkt er an die Adhäsionskraft, an einen Begriff.
Der Satz stellt alle diese Erkenntnisstufen dar, ist aber an sich
450mit keiner identisch, ist selbst eine Erkenntnissart: das Wasser,
dieses energievolle Wesen (An), besitzt die Energie nass zu
machen (Nn) oder hat in diesem Falle seine Energie erwiesen.

593. Wie nun derjenige, welcher sich gemäß einer Beschreibung
die Anschauung von einer Landschaft, einem Garten
oder Zimmer, von einer Maschine u. s. w. entwirft, zuerst Vorstellungen
in ihren Formen aufnimmt und dann diese Vorstellungsformen
zerstört und die Vorstellungen in Anschauungen
zurückbildet: so muss derjenige, welchem eine Darlegung eines
Begriffes in Worten gegeben ist, diese Worte mit ihren Formen
aufnehmen, um sie nicht minder zu zerstören, aber um ihnen
gemäß die begrifflichen Momente nach ihrem realen Werte und
ihren metaphysischen Voraussetzungen und in ihren Denkformen
aufzufassen und zu verbinden. Die Logik baut sich insofern
auf die Grammatik auf, als sie dieselbe vernichtet.

594. Der Besitz der Erkenntnisse liegt in Anschauungen
und Begriffen nach ihren mannichfachen und vielseitigen Verbindungen,
das Wort ist nur ein Mittel der Vergegenwärtigung
für das Bewusstsein. Aber die Bildung neuer Begriffe, wie die
Vervollkommnung schon gebildeter, und die Kritik des Erkenntnissbesitzes,
die unaufhörlich zu üben ein Gesetz der Sittlichkeit
ist, fordert solche Vergegenwärtigung. Dabei besteht
freilich die Gefahr, dass das Wort gerade den Begriff verdeckt,
statt ihn bloßzulegen. Die Energie des Denkens hat diese
Gefahr zu überwinden. Der Gedanke schwimmt notwendig im
Worte, aber er darf darin nicht untergehn.

V.
Die Sprache als Mechanismus im Dienste der Intelligenz.

595. Schließlich zu unserm Anfange zurückkehrend richten
wir noch einmal den Blick auf den gemeinen geistigen Besitzstand,
auf die gewöhnliche Denktätigkeit. — Wir haben die
Fähigkeit Warnehmungen zu machen und haben sie gesteigert
bis zur Beobachtung. Wir besitzen demnach individuelle und
discursive Anschauungen und haben diese, indem wir sie durch
451hinzugedachte Kräfte erklärten, zu Begriffen entwickelt. Diese
Bearbeitung der Anschauungen nennen wir Denken. Warnehmen
ist Aufnahme von außen; Denken ist der rein innere Vorgang
der Aneignung des Aufgenommenen. Weder jenes noch
dieses geschieht ohne Bewusstsein. Das Bewusstsein ist wesentlich
Vermittlung: hier wird das Äußere vom Innern aufgenommen,
und hier begegnet Inneres noch Tieferem, um von ihm angeeignet
zu werden. Der äußere Reiz in angemessener Form
und Stärke seiner Wirkung dringt unmittelbar ins Bewusstsein,
und hier angelangt hat er die Kraft zu. erinnern, d. h. das
Innere, von welchem er aufgenommen werden soll, ins Bewusstsein
zu heben. Aber auch jedes Innere, einmal reproducirt,
kann weiter Inneres hervorholen. Indessen das Bewusstsein ist
eng. Hat es auch Raum für ein weites Feld der Warnehmung,
unterhält es wenigstens durch Beweglichkeit den Schein eines
so weiten Feldes: so können doch die discursiven Anschauungen
und der Begriff niemals mit ihrem vollen Gehalte als Einheiten
ins Bewusstsein treten. Nun bestehen neben beiden, neben Anschauung
und Begriff, noch Vorstellungen,1: d. h. Inhalte von geringem
Gewicht, welche nur die Function haben, die Anschauungen
und Begriffe im Bewusstsein zu repräsentiren, zu vertreten.
Also niemals unmittelbar treten die eigentlichen geistigen
Inhalte, die discursiven Anschauungen und Begriffe, ins Bewusstsein,
sondern nur mittelbar, durch Vertretung. Die geistige
Action, das Denken vollzieht sich nicht im Bewusstsein, sondern
wird nur von hier aus geleitet und findet hier ihr Abbild
in Bewegungen der Vorstellungen. Diese füllen das Bewusstsein,
sei es behufs der Aufnahme der Warnehmungen, sei es
behufs der Einleitung von Vorgängen zwischen den verschiedenen
innern Erkenntnissgruppen. Vorstellen aber ist Sprechen, Vorstellung
ist Wort.

596. Wir wissen, wie das Wort entstanden ist: es ist eine
einseitige Apperception eines Erkenntnissinhalts; mehrere Wörter
zum Satze vereinigt ergänzen sich durch gegenseitige Apperception
zur vollen Darstellung des ganzen Inhaltes. Man nenne
das Wort immerhin Symbol: Symbole sind Apperceptionen.

597. Wie die Atome des materiellen Daseins, so stehn
auch die einzelnen Erkenntnissinhalte mit einander in vielfältiger
Verbindung, und ebenso stehn sie mit den betreffenden Vorstellungsmitteln,
452den Wörtern in Verbindung. Jede Verbindung
aber betätigt sich für das Bewusstsein als Association. So erregt
jede Erkenntniss oder Erkenntnissgruppe von selbst diejenige
andre Gruppe, mit welcher sie einen Process einzugehn
vermag und bestimmt ist, und treibt damit zugleich seine eigene
Vorstellung und die Vorstellung der andern in das Bewusstsein.
Oder umgekehrt eine Vorstellung reproducirt die andre, und die
Processe zwischen ihnen im Bewusstsein erzeugen die entsprechenden
Vorgänge zwischen den Erkenntnissen, deren Vorstellungen
sie sind.

598. Zwischen den Vorstellungen haben wir bisher nur
einen Unterschied kennen gelernt, welcher auch der hauptsächlichste
ist, nämlich den von Ding- oder Substanz-Vorstellungen,
An, und Accidenz-Vorstellungen, Nn. Jede Anschauung und
jeder Begriff wird durch eine oder mehrere Substanz- und eine
oder mehrere Accidenz-Vorstellungen gedeckt und ist mit ihnen
associirt, so dass der vorzustellende Inhalt diese seine Vorstellungen
bewusst macht, wie diese ihn zu erregen vermögen. Der
Inhalt, der vorgestellt wird, analysirt sich; die Vorstellungen,
welche ihren Inhalt in Tätigkeit setzen, werden zusammengefasst.
Angemessener Ausdruck, klare Darstellung eines Inhaltes
ergibt sich, wenn die Analyse durch die Vorstellungen
so vollzogen wird, dass die Synthesis der Vorstellungen zur
Herstellung des einheitlichen Inhaltes durch die notwendig wirkenden
Associationen möglich wird.

599. Dies ist der Rede-Vorgang im Allgemeinen und die
Grundlage der Stylistik. Zur nähern Erläuterung wollen wir
einige pathologische Erscheinungen betreffs der Sprachfähigkeit
betrachten. Wenn man prüfen will, auf welchen Bedingungen
irgend ein Erfolg beruht, sei dieser ein Eindruck der Schönheit
oder eine Wirkung der Zweckmäßigkeit, so ändert man an
dem Objecte irgend eine der gegebenen Bedingungen ab; man
zieht etwa irgend eine Linie anders, gruppirt anders, nimmt ein
Rad heraus oder stellt es anders. Bleibt bei solcher Änderung
der Erfolg doch immer der nämliche, so hängt er nicht von
der veränderten Bedingung ab; wird er aber dabei gestärkt
oder geschwächt oder qualitativ umgestaltet, so ist erwiesen,
dass diese Bedingung wirksam ist und auch inwiefern sie es
ist. Solche Abänderungen werden uns in Fällen wo Experimente
453unerlaubt oder unmöglich sind, durch die Krankheit geboten.
Daher der Wert der Pathologie für die Physiologie des
Leibes wie der Seele.

600. Das Stammeln ist das Unvermögen, gewisse einzelne
Laute hervorzubringen, beruhend auf einem anatomischen
Fehler entweder in den Sprech-Organen, oder im Gehirn. Es
ist darum eine ohne Unterbrechung dauernde Behinderung im
Sprechen; der Laut, der dem Stammler unmöglich ist, gelingt
ihm unter keinen Umständen; es fehlt ihm dazu das gesunde
Organ. Lispeln und Näseln, insofern es in einer gewissen Unfähigkeit
der Organe begründet liegt, ist Stammeln.

601. Das Stottern dagegen ist eine nur augenblicklich
unter der Einwirkung gewisser Seelenzustände eintretende Störung
beim Sprechen. Es ist allemal Folge einer Gemütsbefangenheit,
während es bei voller Gemütsruhe, namentlich in
der Einsamkeit, nicht vorhanden ist. Tritt es ein, so kann es
die Bildung jedes Lautes verhindern (während sich das Stammeln
nur auf gewisse Laute erstreckt), und nebenbei doch auch
jeden Laut gestatten. Denn es wirkt nur stoßweise, bedingt
durch Krämpfe in den Muskeln, welche beim Sprechen wirken
sollen. Es gehört demnach unter die functionellen Nervenkrankheiten,
während das Stammeln auf fehlerhafter Bildung
oder Verletzung eines Organs oder Gehirnteils beruht. Stammeln
ist ein Articulationsfehler: es werden bestimmte Laute gar nicht
oder schlecht ausgesprochen oder durch andre ersetzt. Stottern
dagegen ist ein Fehler beim Atmen und Lauten.

602. Stammeln wie Stottern bezieht sich lediglich auf die
leibliche Tätigkeit der Sprach-Organe. Ebenfalls nur auf diese
somatische Function erstreckt sich die Anarthrie, d. h. die
dauernde Unfähigkeit, Wörter auszusprechen, die der Kranke
doch so klar im Bewusstsein hat, dass er sie zu schreiben vermag.
Ich lese von „Fällen, wo zwar ein totales Unvermögen
des sprachlichen Ausdrucks bestand, jedoch die Fähigkeit, den
Gedanken durch die Schrift auszudrücken, nicht im geringsten
alterirt war”. Das kann nur Anarthrie gewesen sein. Bei dieser
Krankheit sind die Sprech-Organe unverletzt; aber entweder ist
das motorische Centrum der Sprache, d. h. derjenige Teil des
Gehirns, in welchem alle die Sprech-Organe regierenden Nerven
454zusammentreffen, verletzt oder bedrückt; oder die Leitung zwischen
diesem motorischen und dem psychischen Centrum der
Sprache ist gehemmt, so dass die Befehle des letztern nicht
ausgeführt werden, die von ihm ausgehenden Anregungen ohne
Erfolg bleiben. Das innere Bild des Wortlautes, das Klang-
und Schall-Bild hat seine motorische Kraft (363) verloren. Sobald
die Hindernisse geschwunden sind, hört die Anarthrie auf.
Eines solchen Falles erinnere ich mich aus meiner Gymnasial-Zeit.
Einer meiner Mitschüler stand eines Morgens anarthrisch
auf. Er konnte kein Wort hervorbringen, aber schriftlich erzählen,
er habe in der vergangenen Nacht einen heftig erschütternden
Traum gehabt, er sei nämlich von einer Schlange
gebissen worden. Ich vermute, dass nicht dieser Traum die
Anarthrie, sondern irgend ein Vorgang im Gehirn sowohl diese
wie jenen hervorgebracht habe. Die Heilung trat wohl erst
nach einigen Monaten ein.

603. Unter Aphasie versteht man die ohne irgendwelche
Beeinträchtigung der Articulations-Mechanik in Folge einer
Störung der Function des psychischen Centrums der Sprache
eingetretene Hemmung oder Aufhebung der innern Wortbildung,
so dass hier für vorhandene Vorstellungen entweder gar keine
oder verkehrte Wortlaute gefunden, diese aber übrigens ohne Anstoß
und ohne irgend welche äußere Schwierigkeit ausgesprochen
werden. Die Störung betrifft also in diesen Fällen das innere
Wort selbst. Es besitzt seine motorische Kraft und würde sie
geltend machen, wenn es nur reproducirt werden könnte. Es
fehlt aber eben für die Wörter überhaupt oder für den größten
Teil derselben oder für eine bestimmte Gruppe derselben die
innere Reproductions-Fähigkeit. Es sind leicht verschiedene
Grade der Aphasie bemerkbar. Bei völligem Wörtmangel ist
meist (wohl sogar immer) eine tiefe Störung der Intelligenz mitgegeben,
oder es besteht auch Anarthrie daneben. Anziehender
sind die Fälle, wo die Aphasie rein ohne Anarthrie einerseits
und ohne Störung des gemeinen Bewusstseins andrerseits und
nur partiell, in Bezug auf gewisse Wort-Gruppen besteht. Dann
wollen für gewisse Vorstellungen, welche der Kranke recht
wohl besitzt, die bezeichnenden Wörter sich nicht einstellen,
während die Articulationsfähigkeit ungestört ist, und das Benehmen
des Kranken einen durchaus sinnigen, gesunden Menschen
455verrät. Solche Kranke wissen die bekanntesten Sachen
nicht zu benennen, obwohl sie sonst fließend sprechen können
und sogar in gewisser Weise redselig sind. Hier stoßen wir in
auffälligster Weise auf den Fall von 116. Denn Ding und
Name sind bei diesen Kranken häufigst so associirt, dass die
Vorstellung des Dinges den Namen nicht reproducirt (denn sie
wissen das gewünschte oder vorgezeigte Ding nicht zu benennen),
dass aber umgekehrt der Name die Vorstellung reproducirt;
denn sie verstehn das ausgesprochene Wort. Dies beweisen
sie, indem sie etwa das von ihnen Verlangte und sprachlich
Kundgegebene holen; oder sie beschreiben mimisch den Inhalt
des genannten Gegenstandes. Man zeigt ihnen z. B. einen
Löffel und fragt, was es sei; es erfolgt keine Antwort. Ist es
ein Messer? Ein Zeichen der Verneinung. — Ist es eine Gabel?
Dasselbe Zeichen. — Erinnern Sie sich des Namens des Gegenstandes?
Wieder eine Verneinung. — Dann wissen Sie vielleicht,
wozu er dient? Die Kranken führen den Löffel sofort
zum Munde. — Dasselbe einseitige Associations-Verhältniss
liegt vor, wenn jemand der sich in zwei Sprachen, z. B. russisch
und französisch, gleich geläufig auszudrücken vermochte,
in Folge der Krankheit, obwohl er immer noch beide versteht,
wenn er in ihnen angeredet wird, doch nur noch in einer zu
antworten weiß. Und wiederum dasselbe beobachten wir in dem
Falle, dass Aphatiker nicht sprechen, wohl aber laut und deutlich
vorlesen konnten; ja sie suchen sogar zuweilen aus einer
Reihe ihnen vorgewiesener Zahlen die verlangte heraus, ohne
die Zahl aussprechen zu können.

604. Aphasie ist also die Unfähigkeit, sich der Wörter zu
erinnern; dieser Mangel an Gedächtniss für die Elemente der
Sprache kann vollständig sein. Freilich besitzen auch dann die
Kranken immer noch einige Wörter; aber sie bedienen sich
derselben ganz sinnlos bei jeder Gelegenheit, glauben aber damit
etwas Ordentliches gesagt zu haben und werden ärgerlich,
dass man sie nicht versteht. Solche Wörter sind die Jahreszahl,
der Name, ein gewöhnlicher Fluch u. s. w. Es kommen
ihnen auch wohl bald wieder einige Wörter zurück, aber zunächst
ebenfalls, ohne sie nach ihrer wirklichen Bedeutung zu
verwenden. — In manchen Fällen ist ein nicht unbeträchtlicher
Wortschatz erhalten; aber die Namen werden falsch verwendet,
456z. B. sagen sie „Stock” für „Hut”. Die Kranken wissen aber,
dass sie sich irren und werden darüber verdrießlich.

605. Oft sind die Aphatiker auch in der Schrift gestört.
Aufgefordert, ein Wort oder einen Buchstaben zu schreiben,
machen sie immer dieselben nichts bedeutenden Züge. Doch
können sie zuweilen die Jahreszahl, den Namen und ähnliches
wohl schreiben, schreiben dies aber für jedes verlangte Wort.
Manche merken, dass sie falsch schreiben, und geben ihren
Verdruss darüber kund.

606. Merkwürdig ist der teilweise Verlust der Sprache.
Es fehlen gewöhnlich die Substantiva, namentlich die Eigennamen,
während die Verba und die andern Wortklassen noch
zur Verfügung stehn. Die Kranken fangen also einen Satz
richtig an, stocken jedoch, sobald sie zu einem Hauptworte
kommen.

607. Wie mit der Sprache und Schrift, so geht es auch
mit der Mimik. Im Allgemeinen wird der Gesichtsausdruck
der Aphatischen grob und unbeholfen. Es geht aber so weit,
dass mancher bei der Bejahung mit dem Kopfe schüttelt, bei
der Verneinung dagegen nickt.

608. Zuweilen geraten nicht bloß die mimischen Bewegungen,
sondern auch die praktischen in Unordnung. Im Übergange,
denke ich, von den mimischen zu den praktischen Bewegungen
steht der Gebrauch der Finger, um Zahlen damit
anzuzeigen. Wenn der Kranke nicht auszusprechen weiß, wie
viel Finger man ihm zeigt, während er, wenn man ihm die
Zahlen der Reihe nach vorspricht, sobald man an die betreffende
Zahl gelangt, durch Zeichen kund gibt, dass er diese im Sinne
habe: so ist das eigentliche Aphasie; es fehlt ihm die Erinnerung
der Zahlwörter wie vieler andrer. Wenn er aber nicht
im Stande ist, für eine ausgesprochene Zahl die entsprechende
Anzahl Finger zu heben, und er eine unrichtige Anzahl ausstreckt,
während er durch Zeichen des Unwillens zu verstehn
gibt, dass er falsch zeige, so ist das eine Verwirrung der Fingerbewegungen
(mimisch oder praktisch), die der Verwechslung
von „Stock” für „Hut” gleichkommt.

609. Bei Kranken, welche Musik verstanden, zeigten sich
in Bezug auf Ton und Note Erscheinungen, welche der Aphasie
ganz analog waren. Von solch einem unglücklichen ἄμουσος
457wird berichtet, dass er in einer ihm vorgespielten Tonleiter
sofort den gewünschten Ton bezeichnete: aber einen vorgesungenen
oder durch eine Note bezeichneten Ton fand er auf der
Violine erst nach längerem Tasten und konnte ihn weder nachsingen
noch auch benennen. Obwohl Componist, schrieb er die
Noten ungeschickt und setzte oft bei Viertelnoten das Köpfchen
rechts statt links vom Stäbchen.

610. Der Kranke, von dem letzteres erzählt ist, war schon
in der Besserung. Ursprünglich war er in höherm Grade leidend.
Er war aphatisch und anarthrisch gewesen; doch war
er bei Verstand geblieben. Als er aber schreiben sollte, ergriff
er die Feder verkehrt; auch Löffel und Gabel fasste er an, als
ob er sie nie gebraucht hätte. Er verlangte nach seiner Geige,
fasste sie aber so ungeschickt an, dass der Gebrauch derselben
unmöglich war. — Dies stelle ich, wie auch das falsche Angeben
der Zahlen durch Ausstrecken der Finger, nicht der
Anarthrie gegenüber, sondern der Aphasie, nämlich der Wort-Vertauschung.
Denn nicht die Bewegung der Glieder an sich
ist gehemmt, sondern die Beziehung der Bewegungen auf den
zu behandelnden Gegenstand, die Beziehung des Mechanismus
auf den Zweck ist gestört.

611. Diese Apraxie ist eine offenbare Steigerung der
Aphasie. Nach anderer Richtung erweitert sich die Aphasie
zum allgemeinen Mangel an Erkenntniss von Zeichen, Asemie.
So berichtet Finkelnburg (Berliner klinische Wochenschr. 1870
Nr. 37, 38) von einer Frau, deren Gedächtniss für Sachen und
Personen unversehrt, und deren praktisches Benehmen in keiner
Weise auffällig war, die aber den Gebrauch der Sprache völlig
verloren hatte. Sie stieß statt aller Rede nur die paar Sylben
bassa und ton aus, und meinte damit etwas Verständliches zu
sagen. Sie verstand aber auch nicht was man ihr sagte, noch
auch konnte sie lesen, was man ihr schriftlich vorhielt, obwohl
sie vor der Krankheit lesen und schreiben konnte. Sie war
eine fromme Katholikin gewesen; jetzt aber machte sie weder
von selbst, noch in Folge mündlicher Aufforderung das Zeichen
des Kreuzes. Nur wenn man es ihr vormachte, machte sie es
nach (357—360). Obgleich drei Monate in der Anstalt, lernte
sie doch nicht, dass das Läuten mit der Glocke ein Zeichen
zum Essen sei. — Es fehlte also hier das Verständniss für
458Zeichen und Symbol in allgemeinster Weise und derartig, dass
diese Frau nicht bloß für die Sache das Zeichen nicht fand,
sondern auch für das Zeichen die Sache nicht. Es fehlte ihr
wie die Kenntnissgabe, so auch die Kenntnissnahme durch
Zeichen. Ihr Bewusstsein war voll von Sach-Anschauungen, es
war völlig auf den tierischen Standpunkt zurückgesunken. —
Bei einem Kaufmanne ging die Aphasie so weit, dass er Wörter
verwechselte, ganze Satztheile chaotisch durch einander warf und
bald auch den kleinsten Satz nicht mehr richtig zu bilden vermochte,
obwohl er die einzelnen Wörter immer noch richtig
aussprach. Eben so wenig konnte er einen Gedanken niederschreiben.
Auch seine Mimik und Gesten beim Sprechen waren
plump, ungeschickt und nicht mehr congruent mit dem, was
ausgedrückt werden sollte. Ja sogar den Wert der Münzen
verwechselte er, der Kaufmann. Die Münzen sind Zeichen,
Wert-Symbole. In Folge eines neuen Schlages ward seine
Sprache völlig unverständlich, es trat also auch noch Anarthrie
ein, wozu sich aber außerdem allgemeine geistige Verwirrtheit
und Gedächtnissschwäche gesellte. — Ein 30jähriger Beamter
erlitt nach längerer Krankhaftigkeit einen epileptiformen Anfall
mit nachfolgender fast dreitägiger Bewusstlosigkeit. Als er
wieder zu sich kam, fehlte die Sprache gänzlich; nur einzelne
Sylben wurden in steter Wiederholung ausgestoßen. Nach
einigen Tagen begannen allmählich ganze Wörter sich immer
deutlicher einzufinden, zunächst Eigenschafts- und Zeitwörter,
nach einigen Wochen auch Hauptwörter, doch unter steten
Verwechslungen in deren Anwendung. Im Verlaufe von drei
Monaten stellten sich die meisten Wortbezeichnungen wieder
her bis auf die noch gänzlich fehlenden persönlichen und geographischen
Eigennamen. Wiederholte Anfälle jedoch warfen
den Kranken wieder in fast völlige Sprachlosigkeit zurück, indem
sie das Wiedergewonnene wieder verwischten. Wie das
Sprechen und Schreiben, so litt auch die Auffassung gehörter
und gelesener Wörter an Einbuße. Zugleich aber wird auch
der mimische Ausdruck und die Gesticulation immer plumper
und unverständlicher, und ebenso nimmt andrerseits das Verständniss
für die Pantomimen Andrer ab. Überhaupt aber geht
der Sinn für das Zeichen verloren. Obgleich in Beamten- und
Hof-Kreisen aufgewachsen, verwechselt der Kranke Rang- und
459Dienstzeichen; er wendet.die Conventionellen Umgangsformen
verkehrt an; und obwohl frommer Katholik und fleißig die
Kirche besuchend, weiß er doch das entsprechende Benehmen
während der Messe nicht zu finden, kniet z. B. nur nieder,
wenn er zufällig um sich blickend die Andern knieen sieht;
ganz ähnlich wie die zuvor genannte Frau. Es ist ihm also
das Verständniss entschwunden für die Symbole des Cultus,
wie des Staatsdienstes und der menschlichen Geselligkeit.

612. Dass der Kranke Wörter nicht mehr versteht, ist
ein hoher (und, soviel ich sehe, seltenerer) Grad der Aphasie.
Häufiger ist die Unfähigkeit zu lesen, und zeigen sich hier verschiedene
Grade. Manche können es (603); manche aber (605)
(so finde ich behauptet) können es nur insofern, als sie Schriftliches
zwar verstehn, aber ohne die Wörter aussprechen zu können.
Dies kann wohl nur bei Gebildetem, im Lesen viel
Geübten vorkommen; denn es setzt voraus, dass die Schrift
mit den Vorstellungen selbst auch ohne Vermittlung des Lautes
ascociirt sei. Dies ließe sich vielleicht psychologisch erklären,
wenn ich nur sicher wäre, dass hier nicht bloße Anarthrie für
Aphasie genommen ist. Dass ein Patient ein ihm bekanntes
Gedicht nicht versteht, wenn er selbst es laut liest, wohl aber
es als bekannt bezeichnet, wenn man es ihm vorliest, ist nicht
seltsam (273). Der oben erwähnte Musiker erkannte ein von
ihm selbst componirtes Gesangstück, dessen Notentext man ihm
zeigte, nicht; dagegen erkannte er es, wenn es ihm vorgesungen
wurde. Wenn Aphatische (603) laut lesen können und das
Gelesene verstehn, so ist es ein sehr niederer Grad der Krankheit.
Denn, so finde ich, „die meisten Aphatischen heften beim
Versuch zu lesen den Blick auf dieselbe Stelle des Buches”,
oder sie lesen zwar, jedoch ohne Verständniss; „sie lesen dann
meist laut dieselbe Reihe immer wieder.” In einem bestimmten
Falle, einen 63jährigen Zimmermann betreffend, der sehr hart
getroffen war, weder sprechen konnte, noch auch an ihn gestellte
Fragen zu verstehn schien, der auch in den Bewegungen
der Beine und der rechten Hand und Finger sehr gehemmt
war, ward folgendes bemerkt. Etwa drei Wochen nach dem
Anfalle trat Besserung ein. Er sprach schon einiges zusammenhängend
in Sätzen. Noch aber kann er nicht lesen; selten gelingt
ihm ein Wort. Er übt sich fleißig im Schreiben; indessen
460nur seinen Namen schreibt er deutlich, das Übrige bleibt meist
unleserlich. Er setzt die Übungen „mit einer bewunderungswürdigen
Ausdauer” fort, und mit Erfolg. „Es geraten ihm
sein Name, die Zahlen und das Alphabet einigermaßen richtig.”
Es wird nicht gesagt, ob er dies nach einer ihm gegebenen
Vorlage schrieb; doch setze ich dies voraus. „Beim Lesen
hingegen spricht er kein Wort richtig aus, jedoch fasst er immer
einige Buchstaben der Wörter richtig auf, so dass ähnlich klingende
herauskommen.” In der nächsten Woche lernt er einzelne
Wörter und selbst ganze Sätze ziemlich richtig lesen. Er kann
auch aus Büchern ziemlich richtig abschreiben, das aus eigenem
Kopfe aber Geschriebene enthält sinnlos zusammengestellte Worte
oder unsinnig zusammengesetzte Buchstaben. Die Substantiva
sind erkenntlich. Beim Sprechen verwirrt er sich noch häufig,
findet die Worte schwer, drückt sich aber verständlich aus. Sein
Benehmen ist recht vernünftig; er hilft gern bei Hausarbeiten.

613. Was hindert die Kranken am Lesen? Beim Gesunden
kommt dem Anblick der Schrift sogleich der erinnerte
Wortlaut und der Sinn appercipirend entgegen. Wo dies nicht
stattfindet, muss der Process mindestens dem Falle gleichen,
wenn wir eine uns völlig fremde Sprache in einer bekannten
Schrift lesen sollen: das geht etwas beschwerlich. Je weniger
willig aber die appercipiren sollenden Elemente hervortreten,
um so stärker muss die Warnehmung der Schrift werden, wenn
ein Erfolg eintreten soll. Es müssen die einzelnen Zeichen erst
für sich aufgenommen, dann zu Sylben, diese zu Wörtern unter
Anstrengung zusammengefasst, ja es müssen die Züge der einzelnen
Zeichen mühsam verfolgt und zusammengezogen werden.
Bei dieser Arbeit erlahmt das matte Gehirn, nach verschiedenen
Graden der Krankheit in verschiedenem Maße.

614. Wenn geschrieben werden soll, so kann vom Kranken
das Bild der Buchstaben innerlich nicht reproducirt werden,
wie auch der Wortlaut nicht. Ich weiß nicht, ob es möglich
ist die Agraphie in zwei Classen zu sondern, welche sich zu
einander analog der Anarthrie und Aphasie verhalten; d. h. ich
weiß nicht, ob die Agraphie immer darauf beruht, dass die
innere Reproduction des Buchstaben-Bildes nicht gelingen will
(analog der Aphasie); oder ob es auch vorkommen kann, dass
(wie bei der Anarthrie) das innere Bild vorhanden ist, dieses
461aber keine motorische Macht hat und die Hand, die übrigens
unbeschädigt ist, nicht lenken kann. „Manchen Kranken sieht
man es an, dass sie bei gewissen Buchstaben darüber nachdenken,
wie die Züge folgen sollen”; d. h. doch die innere
Reproduction macht ihnen Mühe. Dagegen wird von einem
erkrankten Maler berichtet, der nicht mehr die einfachste Figur
zu zeichnen vermochte. Bei Versuchen, dies zu tun, kam trotz
der größten Anstrengungen ein formloses Gekritzel zu Stande,
das einem Bilde nicht im Geringsten ähnlich sah. Hatte dieser
Maler etwa innerlich kein Bild? Aber Hand und Arm waren
doch nicht lahm? Also hatte sein inneres Bild nur keine motorische
Kraft, wie bei der Anarthrie.

615. Hierbei muss noch notwendig folgendes beachtet
werden. Wir schreiben die Buchstaben, ohne uns zuvor ihr
Bild innerlich vorzuführen; diese Bilder wirken vielmehr bloß
schwingend. Man versuche es, sich erst jeden Buchstaben,
bevor man ihn schreibt, vor das innere Auge zu bringen; dann
wird man nur sehr langsam und zögernd schreiben können. Ja,
noch mehr. Unser Bewusstsein ist sehr eng. Vielleicht kann
sich unter hundert nicht Einer ein zusammengesetzteres Zeichen
wie Th als ein mit allen Teilen zugleich gegebenes Bild innerlich
vorhalten; alle werden wir dasselbe Strich nach Strich
(also discursiv) innerlich zeichnen, ohne dass jemals die Striche
sämmtlich zugleich im Bewusstsein wären. Die chinesischen
Schriftzeichen setzen sich aus zehn, zwanzig, auch dreißig
Strichen zusammen. Die besten Sinologen, und die Chinesen
nicht ausgenommen, werden nicht im Stande sein, sich ein verwickelteres
Zeichen anders zu vergegenwärtigen, als dadurch,
dass sie es sichtbar schreiben. Bewusst wird das schwingende
Bild nur durch die Ausführung und mit derselben; aber schon
das schwingende Bild hat ausführende Kraft, hat sie in höherm
Grade als das bewusste Bild, welches leicht in Verwirrung
gerät, und macht sich bewusst, indem es sich ausführt. In der
Krankheit aber verliert das schwingende Bild die Kraft sich
auszuführen und sich bewusst zu machen. Dennoch schwingt
es bei schwächerm Grade der Krankheit wenigstens in dem
Maße, daß der Kranke merkt, dass die Ausführung falsch ist.
Er merkt dies eben so wohl, wie wir, wenn wir uns auf einen
Namen nicht besinnen können, dennoch wissen, dass irgend ein
462uns vorgesprochener oder uns einfallender Name nicht der gesuchte
ist (202). Wenn aber der Kranke meint, mit seinen
unsinnigen Lauten etwas gesagt, mit seinen unsinnigen Strichen
etwas Bestimmtes geschrieben zu haben, so werden die innern
Laut- und Schrift-Bilder auch nicht einmal schwingend. Dass
sie nicht völlig vernichtet sind, ergibt sich daraus, dass sie sich
von selbst wiederherstellen. Ja, selbst während der Krankheit,
so lese ich, stellen sich plötzlich Wörter ein, die freilich eben
so plötzlich wieder verschwinden.

616. Die Ärzte haben vielfach Gelegenheit gehabt, die
Störungen der Sprache mit den Ursachen dieser Störungen
(Verwundungen oder innerlich entstandenen Zersetzungen bestimmter
Theile des Gehirns) zusammenzuhalten, und sind dabei
zu dem Ergebnisse gelangt, dass die Function des Sprechens,
abgesehen von dem allgemeinen Centrum der Intelligenz, noch
durch zwei andre, von einander gesonderte Centra regiert werden,
nämlich erstlich durch ein Centrum, welches dem leiblichen
Mechanismus der Articulation vorsteht, also das motorische oder
Laut-Centrum, und dann durch ein Centrum für die psychische
Seite der Sprache. Diese Dreiheit der Centra, welche für die
Rede in Betracht kommen soll, dürfte ich um so mehr mit
Freuden anerkennen, als sie offenbar der von mir zuerst, und
zwar schon in meinen ersten Abhandlungen, ausgesprochenen
Ansicht von der Dreiheit der in dem Acte der Rede wirksamen
Factoren bestätigend entgegen kommen würde. Die Sache
liegt jedoch so, dass ich die eigentliche Bestätigung noch abwarten
muss. Das erstgenannte motorische Centrum steht allerdings
sowohl nach seinem Wesen als seiner Stelle, wie es
scheint, außer Zweifel. „Es liegt unter den Vierhügeln und
erstreckt sich vom Pons bis zu den Oliven; es enthält die Ursprünge
aller Nerven, die sich zur Musculatur der Zunge, des
Gaumens, des Kehlkopfs, des Gesichts begeben (hypoglossus,
vagus, facialis). Eine Erkrankung dieses Centrums wird sich
demgemäß aussprechen durch unvollkommene oder gänzlich behinderte
Bewegungen dieser Muskeln, die der Stimmbildung
vorstehn”, also als Anarthrie. — Dagegen besteht nicht nur
über den Ort des zweiten Centrums noch immer Streit, sondern
die ganze Betrachtungsweise scheint mir noch mangelhaft. Die
463Erkrankung dieses Centrums soll Aphasie ergeben. Über den
Bemühungen, den Ort desselben zu finden, hat man (dieses
Urteil glaube ich vertreten zu können) die psychischen Krankheitserscheinungen
an sich zu beobachten vernachlässigt. Man
hat die Krankheitsbilder viel zu unvollständig und ungenau aufgenommen;
unseren Ärzten ist noch nicht klar geworden, worin
die Function der Sprache besteht.

617. Zuletzt hat sich Finckelnburg (a. a. O.) über die
Aphasie geäußert. Er sieht in ihr nur eine besondre Erscheinungsform
der Asemie überhaupt, worin ihm sicher zugestimmt
werden muss. Das innere Centrum der Sprache wäre demnach,
meint er, eben der Sitz der symbolischen Erkenntnissbeziehungen
überhaupt, und bezeichnet als solchen „denjenigen.
Teil der Gehirn-Rinde, welcher die letzte Endigung
des centralen Markstammes umhüllt und aufnimmt,
die Inselwindungen mit den unmittelbar darunter gelegenen
Markstreifen und die mit den Inselwindungen zusammenhängenden
Grenzwülste des Vorder- und Mittel - Lappens. Es
ist also derjenige Abschnitt des Central - Organs, in welchem
sich die Endausstrahlung der sensorischen und motorischen
Markbündel mit grauer, psychisch fungirender
Cortical-Substanz unmittelbar begegnet — ein Abschnitt,
welcher sich zugleich (nach Meynert's neueren Untersuchungen)
durch eine besonders reiche Entwicklung von Faserzügen
(der sogen. Fibrae propriae) auszeichnet, welche ihn mit
den verschiedenen andern Abschnitten der Gehirnrinde in eine
besonders vervielfachte Wechselverbindung setzen.”

618. Zur vollen Würdigung dieses Satzes muss ich hier
eine Lücke ausfüllen, die ich oben bei der anatomischen und
physiologischen Übersicht (etwa hinter 336) gelassen habe. Ich
muss einiges über das von mir in den obigen Abschnitten immer
nur kurzweg genannte Centralorgan hinzufügen, soviel nämlich
unsre Zwecke unabweislich fordern. Bemerkt ist schon,
dass unter Centralorgan das Rückenmark und das Gehirn verstanden
wird. Ein so ausgedehnter Raum und ein so mannichfach
gebildetes Organ aber kann nicht in allen Teilen gleichmäßig
Centrum sein. Nur dem übrigen, bei weitem größern
Teile des Leibes, den übrigen Organen und den Nerven gegenüber
ist es Centrum.464

619. Die Nerven entspringen teils im Rückenmark, teils
im Gehirn. Die ersteren versorgen die Muskeln des Rumpfes
und der Glieder mit motorischen Fasern und die Haut des
Rumpfes, der Glieder und der hintern Kopfpartie mit sensitiven
Fasern; die letztern versorgen die Sinnesorgane, die vordere
Kopfhaut (das Gesicht), den Mund mit seinen Kau-, Schling-
und Sprach-Werkzeugen, endlich den Schlund, den Kehlkopf,
die Luftröhre, die Lungen, das Herz und den Magen, auch die
Leber mit den notwendigen sensitiven und motorischen Fasern.

620. Nun sei der Vollständigkeit wegen nur noch hinzugefügt,
dass es außer dem Nerven-Systeme der Cerebrospinalachse
noch ein andres gibt, das sogenannte sympathische. Es
besteht aus einer längen knotigen Schnur (oder Ganglien-Kette),
welche zu beiden Seiten der Wirbelsäule verläuft, sich also
durch den Bauch, die Brust, den Hals und auch in den Kopf
hineinerstreckt. Diese doppelte Schnur tritt unten im Becken
und oben in der Tiefe des Gesichts zusammen, zeichnet also
eine ovale Linie. Von ihr gehen in alle Eingeweide und auch
in die tiefern Teile des Kopfes Nervenfasern, welche unter sich
Geflechte bilden, teils motorische, teils sensitive, aber welche
keine objective Empfindung, sondern nur subjective Gefühle
gewähren (380). Jene Schnur steht aber durch Fäden mit der
Cerebrospinalachse in Verbindung. Daher hat dieses Ganglien-System
einerseits eine gewisse Selbständigkeit gegen das Gehirn-
und Rückenmark, jedoch ohne dass die Einheit der nervösen
Betätigung des Organismus verloren ginge. Die Teleologie
oder Zweckmäßigkeit dieses zweiten Systems ist klar. Es
verwaltet nämlich vorzugsweise die vegetativen Processe, wodurch
diese den Störungen entzogen werden, denen sie durch
das intellectuelle und Gemütsleben, d. h. durch die unaufhörliche,
oft affectvolle Tätigkeit des Gehirns und Rückenmarkes
ausgesetzt wären. Ja die einzelnen Geflechte dieses Systems
haben für sich eine gewisse Selbständigkeit. Daher pulsirt das
ausgeschnittene Herz noch eine längere Zeit in selbständigem
Leben (365); es trägt nämlich ein reiches Geflecht von Fasern
des sympathischen Systems in sich. Abgesehen aber davon,
dass dieses System mit dem andern in Zusammenhang bleibt,
erhält das Herz auch Fasern von einem Gehirn-Nerven (dem
N. vagus), wodurch es doch wieder in Abhängigkeit vom viel
465bewegten Gehirn-Leben tritt, wie wir ja fortwährend an dem
Wechsel des Rhythmus des Herzschlages fühlen (365). Mit
seinen sensitiven Fasern aber beherscht das sympathische
System das Gemeingefühl (381), nur dass es eben dem Gehirnleben
nicht fremd bleibt.

621. Kehren wir zur Cerebrospinalachse zurück. Das
Rückenmark ist den von ihm ausgehenden Nerven gegenüber
wohl als Centrum anzusehen, und es hat auch eine gewisse
Selbständigkeit der Betätigung. Dennoch muss es in der Hauptsache
dem Gehirn gegenüber als bloße Leitungsbahn zwischen
den Nervenfasern und dem Gehirn gelten. Es besitzt sensitive
und motorische Stränge. Ist es verletzt, so verhält es sich, wie
beim verletzten Nerven (335): nur der Teil, der mit dem Gehirn
in Verbindung bleibt, ist noch wirksam; dagegen sind alle
Glieder, welche ihre Nerven von dem weiter unten (vom Gehirn
aus gerechnet: jenseits der Verletzung) gelegenen Stück
des Markes bekommen, völlig gelähmt, ohne Gefühl und ohne
Bewegung.

622. Man unterscheidet aber im Centralorgan zwei Elemente:
erstlich die weiße Substanz, welehe in ihrem Bau ganz
gleichartig ist mit den Nerven, und welche schließlich doch
nichts andres ist, als die zusammengefassten Stämme der im
Leibe verzweigten Nervenfasern; und zweitens die graue Substanz,
welche außer denselben Fasern oder vielmehr Rörchen,
aus denen die weiße besteht, auch noch Bläschen, Nervenzellen
genannt, in sich schließt. Diese Zellen sind von grauer Farbe.
Während nun die graue Substanz im Rückenmark den mittlern
Teil bildet und von der weißen umschlossen wird, dreht sich
im Gehirn das Verhältniss um, und die graue Substanz bildet
eine Rindenschichte. Die Nerven, wenn wir sie von der Peripherie
her verfolgen, treten beim Eingang in das Rückenmark
zunächst in die graue Substanz ein und durch diese hindurch
gehend setzen sie sich als weiße Substanz fort. Ist die Verbindung
mit der grauen Substanz unterbrochen, so verlieren die
Nerven ihre Kraft. Wie aber diese Verbindung hergestellt ist,
ist noch dunkel. In der grauen Substanz endet die centrale
Tätigkeit; sie ist im engern Sinne Centrum. Ist das Rückenmark
nicht in seiner ganzen Dicke durchschnitten, sondern nur
die vordere oder die hintere weiße Substanz, so ist Bewegung
466und Gefühl nicht aufgehoben. Ist aber die graue Substanz
durchschnitten, so sind alle Teile unterhalb des Durchschnittes
völlig gelähmt. Darum eben, weil das Rückenmark auch graue
Substanz enthält, ist es Centrum, obwohl es wesentlich leitet.
Die Betätigung als Centrum liegt in der Erzeugung der Reflexbewegung.
Denn wenn ein sensitiver Nerv genügend gereizt
wird, so geht die Erregung durch die graue Substanz des
Rückenmarkes hindurch auf einen motorischen Nerven über.
Dies geschieht am entschiedensten, wenn das Tier enthauptet
ist. Ja, die Reflextätigkeit erfolgt sogar an dem Teile des
Rückenmarkes, welcher unterhalb eines Schnittes durch das
Rückenmark liegt. In allen diesen Fällen erzeugt die Reizung
des sensitiven Nervs gar kein Gefühl, aber wohl Reflexbewegung;
und hierin liegt der Beweis, dass innerhalb des Rückenmarkes
selbst durch die graue Substanz eine Übertragung der
Reizung eines sensitiven Nerven auf den gegenüber liegenden
motorischen Nerven stattfindet. Ja, es scheint sehr klar, dass
solche Übertragungen leichter und kräftiger vor sich gehen
müssen, wenn das Rückenmark nicht mehr mit dem Gehirn
zusammenhängt; denn sonst wird ein Teil des Reizes nach dem
Gehirn verpflanzt, während er jetzt ungeschwächt auf den motorischen
Nerven übergeht.

623. Endlich das Gehirn. Es kann hier genügen, zu bemerken,
dass das Gehirn ein höchst künstlich gegliedertes Gebilde
ist. Man kann die Function der Leitung, welche das
Wesen des Nervs erschöpft, auch im Rückenmark und noch
weiter durch die verschiedenen Teile des Gehirns verfolgen;
dagegen hört die Leitung, sowohl der Bewegung als des Gefühls,
in den Lappen (Hemisphären) des großen, vordern Gehirns
auf. Dieses ist nicht mehr Leitungsorgan, sondern Perceptionsorgan.
Hier kommt die Bewegung zum Schlusse. Die
graue Substanz scheint auch hier der Ort zu sein, wo die
Leitung mündet. Sie bildet die äußere Rindenschicht des ganzen
kleinen und großen Gehirns, findet sich aber auch schon
an Stellen mitten im Gehirn. Die verschiedenen Massen der
grauen Substanz, nämlich die im Rückenmark, und die im und
am Gehirn, bilden nicht eine zusammenhängende Masse, wie
die weiße Substanz; die eine graue Masse ist nicht Fortsetzung
der andern. Sie dient eben nicht der Leitung, sondern steht
467ganz eigentlich in psychischem Dienst. Nichts destoweniger
stehn die abgesonderten Massen der grauen Substanz unter sich
durch besondere Fasern in Verbindung, wodurch die Einheit
des organischen Systems erhalten bleibt.

624. Hiernach wird man die Bedeutung der oben (617)
mitgeteilten Ansicht Finkelnburgs über den Ort des innern.
Sprachcentrums verstehen können. Während das motorische,
äußere Centrum über dem verlängerten Rückenmark liegt, da,
wo dieses sich mit dem Gehirn verknotet, liegt das innere
Centrum dort, wo überhaupt die Leitung endet und das eigentlich
centrale, psychisch arbeitende Organ beginnt. Das klingt
sehr plausibel. Wir erlauben uns aber folgende Kritik.

625. Sehen wir in der grauen Substanz des Gehirns den
Ort, wo erstlich alle empfangenen Reize zu Empfindungen und
Gefühlen werden, und wo darauf zweitens jene Verbindungen
und Beziehungen gestiftet werden, welche ein geistiges Leben
und Bewusstheit bilden: so muss es einen Ort geben, wo diese
percipirende Masse an die zuleitende anstößt, und dicht daneben
muss der Ort sein, wo die Absicht sich dem Motor mitteilen
kann, um sich ausführen zu lassen. Diesen Ort bezeichnet
Finkelnburg als Sitz der symbolischen Erkenntnissbeziehungen.
Aber weder nach der oben dargelegten Ansicht vom Centrum
des organischen Leibes, noch aus allgemeinen Rücksichten kann
oder darf die symbolische Tat von der praktischen in ihrem
ursprünglichen Sitze getrennt werden. Denn dem Motor muss
es völlig gleich sein, welcher Sinn mit der Bewegung verbunden
wird, zumal ein und dieselbe Bewegung bald symbolisch,
bald praktisch ist. Es kann nach physiologischer Mechanik
keinen Unterschied machen, ob ich den Arm zum Gruße oder
zur Arbeit hebe, ob ich im Dienste Gottes oder meines Handwerks
niederknie. Und so sahen wir ja oben (609) in der Tat,
wie mit Aphasie sowohl die Mimik als auch die praktischen
Bewegungen in Unordnung geraten waren. Und wenn es in
die Symbolik gehört, eine musikalische Note richtig aufzufassen,
so ist doch die Hervorbringung eines bestimmten vorgesungenen
Tones auf dem Instrumente eine Tat. Und ist es Symbolik
oder Praxis, wenn jemand nicht im Stande ist, eine Zahl durch
Hebung der Finger richtig auszudrücken, sondern eine falsche
Anzahl hebt, obwohl er weiß, dass sie falsch ist? Es kann also
468schon deswegen kein locales Centrum für Symbolik geben. —
Zweitens aber ist die Symbolik als solche eine rein psychische
Tat, die Beziehung einer Handlung auf einen bestimmten Kreis
von Gedanken. Auch liegt ja das Symbol häufig nicht in einer
Handlung, sondern in einer bloßen Erkenntniss. Der Wert der
Münze, der Rang- und Dienstzeichen liegt nicht in Verbindungen
von Vorstellungen mit Handlungen, sondern von Anschauungen
mit Anschauungen und Begriffen. Das Verständniss des
Läutens mit der Glocke als Rufes zu Tische ist auch Zusammenhang
einer Warnehmung (des Geläutes) mit einer Anschauung
(der Malzeit). Eigentlich aber soll jedes Symbol verstanden,
d. h. von einer besondern Vorstellungsgruppe appercipirt
werden. Das Symbol des Kniens z. B. besteht nicht darin,
dass diese bestimmte Handlung des Laien mit einer Cultus-Handlung
des Priesters associirt ist; sondern das Knien beruht
auf der vermittelnden Apperception durch das Gefühl und den
Begriff demütiger Unterwürfigkeit. Die symbolische Handlung
mag dann durch Gewohnheit zur bloßen Associationsbewegung
herabsinken. Diese Association ist ebenfalls psychisch oder
rein central.

626. Demnach scheint es nicht wahrscheinlich, dass, sei
es bloß für Sprache, noch überhaupt für Symbolik ein besonderer,
von der Intelligenz im allgemeinen verschiedener Ort im
Gehirn angenommen werden könnte. Denn erstlich muss es
für die praktische Ausführung gleich sein, ob es sich um utilistische
oder symbolisch-ästhetische Bewegungen des Leibes
handelt, und darum ist sogar ein motorisches Sprachorgan unwahrscheinlich,
da mit dessen Erkrankung nicht bloß Anarthrie
entstehen müsste, sondern auch die Functionen des Kauens und
Schluckens und alle Zungenbewegungen und Mimik aufhören
müssten. Ferner aber stimmen Praxis und Erkenntniss und
Symbolik auch innerlich insofern überein, als allemal eine durch
Apperceptionen (bewusste oder unbewusste) vermittelte Beziehung
zwischen verschiedenen Momenten herzustellen ist.
Diese Beziehung ist eine Tätigkeit. Unsere Ärzte scheinen es
sich noch nicht klar gemacht zu haben, eine wie unzulängliche
Kategorie „Association” ist. Weder das Wort, noch das Knien
und Sich-bekreuzen, noch Münzen und Abzeichen für Stellungen
und Grade beruhen auf bloßen Associationen. Solche sind freilich
469überall vorhanden; aber sie bilden nur die Vorbedingungen
für die geistigen Processe. Und eben so wenig ist es bloß eine
unwirksam gewordene Association, wenn jemand die Feder oder
Messer und Gabel zu gebrauchen oder die Violine mit dem
Bogen richtig zu fassen verlernt hat. Zwischen den Fingern
und dem Instrument besteht doch nicht eine Association. —
Und sollen wir nun gar sagen, dass die Substantiva einen besondern
Ort innerhalb des Sprach-Ortes einnehmen, und die
Eigennamen wiederum eine Provinz für sich bewohnen? Wie
käme es aber, dass bei allen Verwundungen und Schlägen gerade
diese Provinz zuerst leidet. Ist sie allemal den ersten
Angriffen ausgesetzt?

627. Andrerseits aber gibt es allerdings zu denken, dass
häufigst die Aphasie mit Schwächung des symbolischen Vermögens
zusammen eintritt, und dass beide, wie viele Fälle lehren,
sich in niedrigem Stadien der geistigen oder Gehirn-Erkrankung
allein zeigen, während die Fähigkeit für Auffassung
der Sachen noch ungestört ist und erst in den schlimmem
Fällen zugleich mit Aphasie eintritt, und dass bei der Genesung
in den letztern Fällen das Verständniss für die Sachen zuerst
zurückkehrt, und später erst die Symbolik wiederkommt. Das
zeigte sich besonders klar in einem von Finkelnburg mitgeteilten
Falle. Ein 60jähriger Postillon fällt, vom Schlage getroffen,
vom Bocke herab und wird bewusstlos weggetragen.
Wieder zu sich gekommen, stößt er sinnlose Worte unter tobenden
Geberden aus. Nach 3—4 Tagen wird er ruhig; aber er
erkennt weder Personen noch Orte, mit welchen er sein ganzes
Leben hindurch verkehrt hatte. Die Erinnerung ist also
allseitig und tief gestört. Daneben bestellt Aphasie; denn er
verwechselt die meisten Wörter, besonders die Benennungen
der Dinge. Aber Anarthrie ist nicht eingetreten. Zunächst
stellt sich nun das Erinnerungsvermögen in der Weise wieder
her, dass Tag für Tag neue Vorstellungen sich gleichsam stückweise
restituirten, bis der Kranke nach etwa drei Wochen sich
aller Personen und Ortsbeziehungen wieder erinnerte; — nicht
aber ging damit die Wiederkehr der Wortbezeichnungen gleichen
Schritt. Anfangs wusste der Kranke noch keines der wiedererkannten
Objecte mit Namen zu benennen und erst während
der darauf folgenden 4—5 Wochen kehrte auch dies Vermögen
470in der Weise täglichen Wiederauftauchens weiterer Namen zurück,
bis der Kranke zuletzt der gesammten Local- und Personal-Bezeichnungen
wieder mächtig war. Andererseits gibt
es ja geistige Verkümmerungen ohne Störung der Sprache,
insofern der Kranke alles, was ihm an Gedanken und Erkenntnissen
bleibt, auch in Worten auszudrücken vermag.

628. Wohl gibt dies zu denken; aber man findet denn
auch bald, dass alles dies nichts Singuläres ist. Wir wissen
erstlich, dass unser geistiger Besitz in mehren größern und
kleinern Gruppen von Erkenntnissen und Urteilen besteht, welche,
wie sehr auch unter einander verbunden, auf einander oder auf
ein gemeinsames Höheres bezogen, doch eine große Selbständigkeit
jede für sich haben. Nicht wie in einem Uhrwerke jedes
Rad sich nur bewegt, wenn alle andern sich bewegen, und sie
sämmtlich still stehn, wenn eins in Stillstand gerät, ist auch
die Intelligenz gänzlich gehemmt, weil eine Gruppe gestört ist,
sei es dass sie in sich, ihre Elemente gegen einander, in Unordnung
geraten sind, oder dass ihre Beziehung auf andre
Gruppen unterbrochen ist. So sind ja doch die meisten Formen
der Seelenkrankheit derartig, dass nur einige Gruppen
leiden, neben denen andre sich ganz gesund zeigen. Warum
sollte also nicht die Gruppe der Symbole oder enger die Sprach-Gruppe,
noch enger, wenn jemand mehre Sprachen inne hat,
die der einen, oder ein Teil der Sprach-Gruppe, wie die Substantiva,
gestört sein können, ohne dass für solche Störung in
anderer Weise oder in höherm Grade eine Localisirung im
Gehirn gesucht werden dürfte, als bei allen jenen Seelenkrankheiten,
wo nur eine bestimmte Gruppe leidend geworden ist.

629. Zweitens aber ist nach der rein psychologischen
Theorie die leichtere Erkrankung und spätere Genesung der
symbolischen Gruppen in Verhältniss zu den Sach-Gruppen
wohl begreiflich. Denn alle Associationen, welche auf unwesentlichen
oder unsachlichen, rein subjectiven Verbindungsmerkmalen
beruhen (und zu solchen gehören die Symbole),
haben nur geringe Kraft und geraten leichter in Verwirrung
und Untätigkeit als die in objectivem Zusammenhange begründeten
(115). So erklärt sich auch weiter, warum vor allem
die Nomina propria dem Gedächtniss entschwinden. Denn der
Eigenname steht in einer individuellen Association zu dieser
471Person, zu diesem Orte; der Gattungsname dagegen in unzähligen
Associationen zu den unzähligen Dingen derselben Gattung.
Ich glaube auch, dass aus meiner Darstellung der Entstehung der
Satzform, sich noch weiter ergibt, warum die Verba und Adjectiva
sich besser erhalten, als die Substantiva. Denn für die
Bildung der Bewegungs- (oder Tätigkeits-) und Qualitäts-Vorstellungen
ist das Wort viel wichtiger als für die Vorstellungen
vom Ding, welche den Anschauungen viel näher stehn. Das
Wort „Löffel, Schlüssel” u. s. w. verbindet sich leicht mit den
Bildern von diesen Dingen; Verba und Adjectiva dagegen, z. B.
essen, geben, grün u. s. w. können bei weitem nicht so leicht
Anschauungen erwecken. Das heißt in unserer Formelsprache:
An, welchem ein Substantivum entspricht, ist leicht durch Pn
ersetzt oder schlägt in P um; Nn dagegen, wofür das Verbum
und Adjectivum gilt, steht dem Πn viel ferner und kann nicht
so leicht in dieses oder in P umschlagen, weil Πn, eine Masse
ist, die so stark heterogene Elemente in sich schließt, dass sie
gar nicht ins Bewusstsein kommen kann. Nn ist also nur mit
Hülfe des Wortes festzuhalten und darum die Association von
Nn mit dem Worte sehr fest, weil nämlich von wesenhaftem
Werte. Das Bild eines Dinges kann man in sich tragen ohne
das Wort dafür zu haben; eine Eigenschaft und eine Tätigkeit
denkt man meist nur mit dem Worte. Weil letztere abstract sind,
kann man sie nicht ohne Wort im Bewusstsein haben. Je wichtiger
aber eine Verbindung, desto mächtiger die Association.
Darum halten sich auch die abstractern und die rein formalen
Elemente der Sprache noch besser, weil sie ohne Laut gar
nicht festzuhalten sind, ihre Existenz am Laute hängt, z. B.
schlecht, gut, nichts, ist, kann, doch, so, die Pronomina u. s. w.
Ein aphatisches Mädchen, das zugleich in ihrer Intelligenz sehr
gestört war, antwortete doch, als man sie bei ihrem Namen
rief, mit „Was gibt's?” Legte man ihr eine Frage vor, so
sagte sie: „Was?” Fehlte ihr ein Verbum, so ersetzte sie es
durch „so machen” mit der entsprechenden Geberde.

630. Die Ärzte werden fortfahren, bei psychischen Erkrankungen
das Gehirn so genau wie möglich zu untersuchen,
und das vorstehend Gesagte ist nicht dagegen gerichtet. Was
ich meine, ist nur dies:

1) Die. Arzte müssen sich klar zu werden suchen, wofür
472oder inwiefern oder wie es überhaupt für geistige Functionen
ein local begrenztes Organ im Gehirn geben kann.

2) Dazu ist es aber vor allem nötig, dass sie die psychischen
Erscheinungen genauer beobachten, dass sie dieselben
sorgfältiger analysiren, nach ihrem Inhalt und ihrer Form besser
kennen lernen.

631. Hier mag der Ort zu einem Winke sein über das
Verhältniss der Psychologie nach der Weise, wie sie hier bearbeitet
ist, zu einer Physiologie des Gehirns, wie sie sich der
Materialist als zu erstreben und zu verwirklichen denkt. Der
Chemiker kann die ausgeatmeten Gase eines Menschen, seinen
Hauch, chemisch erkennen, ohne das geringste von der Function
des Atmens physiologisch zu verstehn. Ob der Atem aus den
Lungen oder aus dem Herzen oder dem Magen kommt, ist für
seine Untersuchung gleichgültig. Er findet, dass ein gewisses
Quantum Kohlendioxyd im Atem enthalten ist. Dieses kann nicht
aus der umgebenden Luft eingeatmet sein; es stammt also aus
dem Körper. Das kann er wissen. Woher aber jenes Gas
stammt, ob aus dem Blute oder sonst woher, davon weiß er
als Chemiker nichts. Er ist eben kein Physiologe; aber er
könnte nebenbei schon Arzt sein. Er untersucht nämlich des
Menschen Atem unter verschiedenen Umständen, den Atem des
Schlafenden und des Wachenden, des Satten und des Hungernden,
des Frierenden und des Warmen, des Trägen und des
stark Arbeitenden, und merkt die Verschiedenheiten. Findet er
nun einen leidenden Menschen, und bemerkt er, dass dieser zu
wenig Kohlendioxyd ausatmet, so wird er ihm Bedingungen anraten,
unter welchen mehr von diesem Gase ausgeatmet wird.
Und solches Verfahren wäre nicht empirisch, sondern ganz rational.
Die Physiologie der Atmung dagegen, wie würde sie
ausfallen, wenn man nicht wüsste, welche Stoffe ausgeatmet
werden? So ist auch unsre Psychologie die notwendigste Vorarbeit
für eine Physiologie des Gehirns und lässt auch eine
rationale Psychiatrie zu.

632. Ich erlaube mir über Aphasie noch folgende Bemerkungen:

Das Wort ist zunächst ein Lautgebilde, welches durch die
Lautorgane hervorgebracht wird, welches wir aber, bevor es
ausgesprochen wird, wie eine Melodie, als inneres Lautbild, so
473wie das Ohr es uns zuführen würde, in uns tragen. Nur
beachte man auch hier die 615 bemerkte Beschränkung. Das
innere Lautbild, welches dem gesprochenen Worte vorangeht,
ist unter den gewöhnlichen Verhältnissen der Rede zunächst
nur schwingend und wird erst durch die Aussprache und zugleich
mit ihr bewusst. Doch können wir es uns, wie auch
eine Melodie, bewusst machen, ohne es auszusprechen, aus dem
einfachen Grunde, weil es dem Bewusstsein nicht ein Mehres
gleichzeitig, sondern successiv bietet. Also kann auch der
Anarthrische das Wortbild ganz lebhaft besitzen. So berichtet
Benedict (Wiener mediz. Presse 1865. S. 1141 ff.) von einem
Kranken, der, Böhme von Geburt, böhmisch und deutsch sprach.
Dieser war in seiner Sprache beeinträchtigt. Manche Dinge
wusste er noch böhmisch zu benennen, aber nicht mehr deutsch.
Er behauptete aber, dass er sich des deutschen Wortes wohl
erinnere, aber es dennoch nicht aussprechen könne. Er konnte
böhmisch lesen und verstand das Gelesene, aber konnte das
Gelesene nicht aussprechen. Dass er Laut und Bedeutung der
Schrift in der Tat innerlich erfasste, bewies er dadurch, dass
er merkte, ob ein Anderer richtig las und richtig übersetzte.
Das war Anarthrie. Des Kranken Lautbilder hatten die motorische
Kraft verloren. Dieser Kraft konnte man zu Hülfe
kommen. Der Kranke nämlich konnte die Wörter, die er von
selbst nicht auszusprechen vermochte, doch nachsprechen, wenn
man sie ihm vorsprach (359).

633. Aphasie besteht nun erstlich in der Form, dass
die Reproduction des Wortbildes auch bis zum Grade der
Schwingung, geschweige zur Bewusstheit, nicht gelingt. Es
sagte einmal ein Aphatischer, „ich weiss vieles; aber ich kann
es nicht finden”. Dabei kann die anschauende Erkenntniss
ganz ungestört sein, das Benehmen durchaus verständig. In
wie fern abstractes Denken hierbei möglich ist, lasse ich dahingestellt.
Nur das könnte nicht verwundern, dass ein in
solcher Weise Aphatischer noch ein guter Rechner wäre. Man
bedarf des Wortes nicht, um 4 x 6 = 24 zu verstehn, kurz,
um mit Zahlen zu operiren (S. 50. 51. 53) *)50. — Dass es in
474der Tat in manchen Fällen sich nur um eine verkümmerte Erinnerung
an die Wortbilder handelt, mag aus Folgendem hervorgehn.
Man merkt, wie sich der Kranke auf den Namen
eines vorgezeigten Gegenstandes besinnt; und er findet ihn,
wenn man ihm den Anfangslaut vorspricht. Ein aphatisches
Mädchen sagte, indem sie auf einen Schlüssel wies: „Geben Sie
mir so was!” (Vergl. über das allgemeine „so was” 629). Auf
die Frage, wie das heiße, wusste sie nicht zu antworten. Als
man ihr vorsagte Schl—l—, sagte sie „Schlickel”, corrigirte
sich aber dann und sagte unter augenscheinlicher Freude
„Schlüssel”, na ja, „Schlüssel”, hatte aber das Wort nach einer
Minute schon wieder vergessen. Diese Person benahm sich
durchaus vernünftig, aber völlig kindisch. Einem andern Kranken
ward ein Hut gezeigt. Nachdem er lange vergeblich gesonnen,
nannte er ihn lächelnd „Bibi”, und so hatte er auch
sonst den neckischen Namen für den üblichen. Die Verwechslungen
(604), wenn z. B. „Stock” für Hut gesagt wird, zeigen
ein verwirrtes Gedächtniss. Jemand las „drei Jahrhunderte”
anstatt vier, streckte aber, während er „drei” sagte, vier
Finger empor *)51. Ein andrer besaß von der ganzen Sprache
nur noch „ja” und „nein” uud das Zahlwort „drei”. Mit diesem
aber drückte er alle Zahlen aus, indem er, wenn es sich um
eine höhere Zahl handelte, das Fehlende durch Finger ergänzte.
Und endlich was andres als gehemmte Erinnerung kann es sein,
wenn ein Kranker für die Tapete, auf deren Namen er nicht
kommen kann, sagt: „das was an der Wand ist”? Doch kann
in allen diesen Fällen auch bloße Anarthrie vorliegen. Der
Böhme, von dem 632 die Rede war, sprach ebenfalls zuweilen
ganz andre Laute, als er wollte, z. B. „Büchel” für Flasche,
und ärgerte sich darüber. Er sprach auch eine falsche Zahl
und wusste, dass er irrte. Später behalf er sich so, dass er
475von eins beginnend die Zahlen der Reihe nach aussprach und
bei der betreffenden stehn blieb.

634. Zweitens: wenn aber der Kranke die Verwirrung
des Gedächtnisses nicht bemerkt, sondern mit dem falschen
Worte richtig gesprochen zu haben meint, so ist das eine
Beeinträchtigung des Urteils. Urteil ist Vergleichung, und
diese ist, wie Beziehung überhaupt, ohne rege Reproductionskraft
nicht möglich. Wer beim Anblick von vier „drei” sagt,
dem ist statt des mit vier unmittelbar associirten Lautbildes ein
mittelbar mit ihm associirtes erwacht. Ein Druck der auf „vier”
lastete, ließ dieses nicht steigen, und der Anstoß pflanzte sich
auf das freie mit demselben associirte „drei” fort, so dass dieses
stieg. Nun müsste das Lautbild „drei” die Anschauung der
Dreiheit reproduciren. Tut es dies, so tritt diese Anschauung
in Gegensatz zur Warnehmung und der Kranke urteilt richtig,
dass er geirrt habe. Reproducirt aber „drei” nicht seine richtige
Anschauung, so bleibt das Urteil aus. — Ein Kranker
wird gefragt: Sind sie nicht aus Haute-Loire? — Haute-Loire,
ist die echoartige Antwort. — Wie heißen Sie? Haute-Loire.
— Was treiben Sie für ein Geschäft? Haute-Loire. — Sie heißen
doch Marcou? Ja, mein Herr. — Sie heißen wirklich Marcou?
Ja, mein Herr. Welches ist Ihre Heimat? Marcou. — Hier
ist mit der Erinnerung und in Folge davon das Urteil geschwunden.
Ein ihm gebotenes Wort beherscht sein Bewusstsein
völlig, bis ihm ein andres gegeben wird. Hier ist die
freie geistige Bewegung geschwunden.

635. Meist wird man bei dieser Form der Aphasie der
Erinnerung zu Hülfe kommen können, so dass sie verstehn was
man ihnen sagt. Zuweilen jedoch, wie schon bemerkt, ist die
Reproductionsfähigkeit für die Lautbilder so geschwächt, dass
der Kranke Gesprochenes nicht versteht, und, da er sonst alle
geistigen Fähigkeiten bewart zu haben scheint, wie taub erscheint.
Dr. Schmidt (in Laehr's Allg. Zeitschrift für Psychiatrie
Bd. 27, S. 304 ff.) teilt einen belehrenden Fall mit.
Eine Frau von 25 Jahren erlitt in Folge einer Entbindung Apoplexie.
Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie musste sich anstrengen,
um ein Wort zu finden und auszusprechen; zuweilen
kam es verstümmelt oder auch ein ganz anderes zum Vorschein,
als sie wollte; so sagte sie „Butter” statt „Doctor”; die Sylben
476sprach sie selten vollständig richtig, es fielen Buchstaben aus oder
wurden durch andre ersetzt. Dies war also Anarthrie in Folge
mangelhafter Beziehung des motorischen Organs auf das psychische.
Aber auch letzteres an sich hatte gelitten. Da die
Kranke Gesprochenes nicht verstand, so bediente man sich, um
mit ihr zu verkehren, der Schrift. Hier bestätigte sich, wie
mir scheint, völlig die Bemerkung von 613. Denn „wenn man
eine Frage auf die Tafel schrieb, so betrachtete sie ein Wort
nach dem andern mit Aufmerksamkeit, suchte sie einzeln und
dann auch im Zusammenhange auszusprechen und dann zu antworten.”
Das besonders Belehrende aber liegt nun im Folgenden,
woraus sich ergibt, dass es sich mit dem Verständniss des
Gehörten gerade so verhält, wie mit dem des Gesehenen. Die
Kranke hatte ihr Gehör, wie sich bald herausstellte, völlig erhalten;
sie hörte das Ticken einer Taschenuhr, wie der Gesunde.
„Sie hörte es, wenn man einzelne Vocale aussprach und sprach
sie nach. Sprach man in gewöhnlicher Weise ein einsylbiges
Wort, so verstand sie es nicht; trennte man aber die einzelnen
Buchstaben scharf von einander, so dass sie in der Aussprache
deutlich hervortraten, so sprach sie es nach. Bei mehrsylbigen
Wörtern musste man zuerst eine Sylbe deutlich aussprechen,
dann die andre ebenso, dann erst beide zusammen. Nach und
nach lernte sie die Worte schneller auffassen. Doch ging ein
halbes Jahr vorüber, bis sie bei deutlicher langsamer Aussprache
einen ganzen, auch nur kurzen Satz ohne Wiederholung gleich
verstand. Wie die Kranke später selbst erklärte, hat sie beim
Sprechen wohl gehört; sie habe aber nichts als ein verworrenes
Geräusch vernommen.” Geht es uns beim Erlernen einer fremden
Sprache nicht ganz ebenso? So lange uns die Sprache
ganz fremd ist, hören wir nur ein verworrenes Geräusch; allmählich
lernen wir einzelne Wörter, wenn sie deutlich vorgesprochen
werden u. s. w. Also nicht „dasjenige Organ im
Gehirne hat gelitten, welches die Function hat, die Laute zu
combiniren und aus den einzelnen Buchstabenlauten das Klangbild
herzustellen”; denn das tut der Gesunde nicht. Wir hören
niemals im Leben einzelne Laute, die wir erst combiniren. Dazu
ist die gewöhnliche Aussprache keines Menschen bestimmt genug,
und die Aufmerksamkeit des Ohres niemals scharf genug.
Sondern (wie 613) es wird vom Gesunden das reproducirte
477Wortbild dem gehörten entgegengetragen und dieses wird von
jenem appercipirt. Welche Tätigkeit des Gehirns mit dieser
Reproduction und Apperception verbunden ist, weiß wohl bis
heute Niemand.

636. Drittens: Zunächst erstreckt sich dieser Mangel
an Urteil und Freiheit nur über die Wörter als bloße Lautbilder.
Das Lautbild aber ist mit einer Vorstellung associirt, und es ist
eine tiefere Störung der Sprachfähigkeit, wenn der Kranke unfähig
ist, nicht das Lautbild, sondern die Vorstellung selbst
zu reproduciren, dann ist der eigentliche Rede-Process, die
Function der Umwandlung der Anschauung in die Vorstellung,
d. h. die Satzbildung, gehemmt. Diese beiden Stufen sollten
mehr unterschieden werden, als bisher geschehen ist. Denn die
Unfähigkeit zur Satzbildung berührt gar leicht das logische
Vermögen. Ein aphatisches Mädchen, dessen schon 629. 633
gedacht, sprach von sich immer nur in der dritten Person. Das
ist Ausdruck herabgesunkener Intelligenz. Sie sprach aber
auch ohne Verba finita und ohne Conjunctionen, ganz wie ein
Kind, d. h. aber mit der Unfähigkeit wirklicher, voller Satzbildung.
So sagte sie z. B. „Toni gemacht, Alles schön gemacht”;
oder „Toni Blumen genommen, Wärterin gekommen,
Toni gehaut.” Dieser Fall ist auch insofern belehrend, als er
zeigt, dass abstracte Elemente der Sprache und formale Elemente
sehr verschieden von einander sind. Abstractionen sind fast
leicht, Formen erfordern Gesundheit. — Die Frau von 635 war
anarthrisch und aphatisch und auch akataphatisch (637). Darum
ward es ihr immer noch schwer, zwei Wörter mit einander zu
verbinden, nachdem sie schon jedes einzeln für sich erfasst hatte.
Darum conjugirte sie die starken Verba mit schwacher Flexion
(wie die Kinder) und gebrauchte Öfter den Infinitiv statt der
bestimmten Zeitform. Aber ihre sachlichen Anschauungen
waren ungehemmt. Ein anderer Kranker sagte bei der Untersuchung
seiner Augen: „Das eine Auge — — Auge ist immer
— — Tränen — — tränig gewesen — — ich kann gar nicht
— — früher konnt' ich besonders — natürlicher Weise
— mit den Jahren kleine Stiefe — Strippe — Schrift — die
Brille.” Man versteht, was der Kranke hat sagen wollen; und
er hatte die verhältnissmäßig klare Erinnerung (erinnerte Anschauung)
des tatsächlichen Verhältnisses, dass nämlich das eine
478Auge schon längst tränte, dass er früher aber doch damit gesehen
habe, indessen jetzt gar nicht mehr damit sehen könne; mit
den Jahren sei es immer schlimmer geworden, so dass er bald
kleine Schrift nicht mehr lesen können und sich einer Brille
bedienen müssen. Seine Ausdrucks weise verrät, scheint mir,
mehr die Unfähigkeit Sätze zu bilden, d. h. Anschauungen in
Vorstellungen zu analysiren, als ein schlechtes Gedächtniss. Es
scheint ihm allerdings das wichtige Wort „sehen” nicht haben
einfallen wollen. Wenn derselbe Kranke einen vorgehaltenen
Schlüssel nicht benennen kann, aber dabei nach dem Türschlosse
blickt, so mag das bloße Schwäche des Gedächtnisses
sein. Wenn er aber, nachdem eine bedeutende Besserung eingetreten
war, einen schlimmen Rückfall erlitt und darauf sagte:
„Es ist merkwürdig... wie ich die alte Geschichte gehabt
habe... dass ich kaum... habe gehabt, ich kann's nicht
sagen... bin recht falsch... dass man so muss anfangen,
wie's gewesen ist, wie ich krank war”, so wollte sich sein Gedanke,
nämlich dass sich sein Zustand von neuem verschlimmert
habe, nicht in die Form der Vorstellung begeben. Auch
sonst finde ich bemerkt, dass ein Reconvalesccnt wohl schon
so weit genesen war, dass man ihn verstehen konnte, er aber
noch außer Stande war, einen Satz zu bilden. Diese Störung,
einmal eingetreten, hebt sich schwieriger wieder auf.

637. Mir scheint die Unterscheidung der beiden Formen
der Aphasie 633. 636 so wichtig, dass ich noch Folgendes anzumerken
mir erlaube. Man könnte die erstere Form Aphasie,
die andre Akataphasie nennen (Aristot. de interpr. c. 4).
Die Methode, Dinge vorzuzeigen und nach ihrem Namen zu
fragen, kann natürlich niemals zur Feststellung der Akataphasie
führen. Da aber das Wort wesentlich nicht Ausdruck der Anschauung
P ist, so liegt auch etwas Unangemessenes darin, ein
vorgezeigtes Ding zu benennen. Ein gezeigter Schlüssel hat
nicht den Namen „Schlüssel”, sondern ist dieser Schlüssel.
Darum ist auch die Methode nicht ausreichend, das Wesen der
Aphasie festzustellen. Sie wäre völlig untauglich, wenn nicht
versteckt oder ausgesprochen immer ein Satz in der Formel
„das ist Brot, das ist ein Schlüssel” zu Grunde läge, 589.

638. Viertens: Störung der Intelligenz mit oder ohne
Aphasie. Bei Geistesschwachen mit Aphasie findet sich zuweilen
479doch eine gewisse Neigung zu sprechen. Sie sprechen allgemeine
Formeln aus (vgl. 636), die sinnlos sind, weil der bestimmte
Inhalt fehlt, z. B. „es ist doch merkwürdig”; oder auf
die Frage, wieviel 13 — 6 sei, nach einigem Zögern die Antwort:
„das werde ich auch wissen... (lacht) wenn man's
wegnimmt, wird man's wissen”. Oder das Aussprechen einer
gewissen Anzahl von Wörtern in bunter Reihe wirr durch
einander.

638. Fünftens: Neben der Unfähigkeit der Reproduction,
zeigt sich auch zuweilen Mangel an Herschaft über das, was
sie reproduciren können. Dies zeigt sich teils bei leichtern
Fällen, teils in der Reconvalescenz. Der Kranke kann z. B.
zählen. Fordert man ihn aber auf, dies bis zu einer bestimmten
Zahl zu tun, so geht er über diese hinaus. Der angeregte Lauf
der Vorstellungsreihe lässt sich nicht nach Freiheit abbrechen.
Ähnlich verfuhr der obengenannte Musiker. Hatte er den verlangten
Ton getroffen, so schloss er sogleich eine Reihe von
Tönen an, die einer Tonleiter entsprachen. Von einem andern
Kranken wird berichtet, dass er jedem einsylbigen Worte die
Endung tif beifügte und von mehrsilbigen nur die erste Sylbe
aussprach und tif anschloss: bontif montif (bonjour monsieur).
Benedict berichtet ähnlich von dem (632) erwähnten Böhmen,
dass er oft dem richtigen Worte einige Laute vorsetzte. So
sagte er z. B. „Gattiehose” für Hose, wobei er wusste, dass er
sich geirrt habe; auch sprach er das Wort, wenn man es ihm
vorgesagt hatte, richtig nach.

639. Sechstens: Häufig, aber nicht immer, ist sowohl die
symbolische Kenntnissgabe, als auch die Kenntnissnahme gestört;
doch kann auch letztere bestehen, während die erstere
gestört ist; d. h. die Kranken können nicht sprechen, aber sie
verstehn Gesprochenes. *)52480

640. Auch beim gesunden Menschen treten vorübergehend
und vereinzelt Sprachstörungen ein. Der Betrunkene lallt, und
dieses Lallen ist eine Art des Stammelns. Während des heftigen,
mit Schluchzen verbundenen Weinens oder während des
Lachens stammelt man. Jedoch ist das Stammeln des Gesunden
von dem des Kranken durch die Ursache unterschieden;
denn beim Kranken hat es eine anatomische, und darum
dauernde Ursache, beim Gesunden eine physiologische, also vorübergehende.
Beim letztern sind die Organe normal, aber in
dem betreffenden Augenblicke in einer Erregung, welche eine
deutliche Aussprache nicht zulassen.

641. Blödigkeit, Scheu erzeugt Anarthrie oder Stottern,
Auch stottert jemand, der in der Lage ist, reden zu müssen,
während er lieber schwiege, wie beim Bekenntniss der Schuld.
Beim Stottern des Gesunden wie des Kranken ist wohl zu
beachten, dass die unmittelbare Ursache körperlich ist; sie liegt
in Krampfzuständen des Kehlkopfes und der Mundhöhle, der
Zunge und der Lippen. Die fernere, mittelbare, aber erste und
eigentliche Ursache ist psychisch. Die psychische Erregtheit
wirkt reflexivisch, wie sonst auf Herzschlag und Atem, so hier
auf die Sprachorgane. Krankheit nennen wir das Stottern, wenn
jene störende Erregtheit nicht bloß unter besondern Umständen,
sondern unter den gewöhnlichsten Verhältnissen des alltäglichen,
vertrauten Verkehrs eintritt. Wo der Gesunde nur das Behagen
der Unterhaltung fühlt, gerät der Stotter-Kranke in einen Affect,
der ihm Schmerz bereitet und das Sprechen unmöglich macht.

642. Stottern tritt beim Gesunden auch da ein, wo ihm
eine Combination von Lauten zugemutet wird, die etwas Unbequemes
hat und in der er nicht geübt ist. Die Erscheinung
wenigstens, welche hier eintritt, ist dieselbe wie beim Stottern,
obwohl die Ursache nicht in Krämpfen liegt. Manche Zunge
stolpert auf den holprigen „constantinopolitanischen” Straßen.
Einer meiner Mitschüler in Tertia, der sonst durchaus tadellos
sprach, stotterte bei Τὸν δ̕ ἀπαμειβόμενος πϱοσέφη. Die Schwierigkeit
der Aussprache wird erhöht durch die geforderte Schnelligkeit.
Darauf beruhen Scherze, wie: für den Sechser sechs
sächsische Schuhzwecken. Auch hier ist die nächste Ursache
in der leiblichen Mechanik der Sprachorgane gegeben, welcher
solche Folge von Lauten unbequem ist. Die fernere Ursache
481jedoch ist die mangelhafte psychische Herschaft über die Organe,
welche durch Übung wohl erreicht werden kann. — Auch
ist es in diesen Fällen nicht ausschließlich und nicht immer
die organische Mechanik, welche als erste Ursache des Stotterns
anzusehen ist; sondern oft trägt durchaus nur die psychische
Mechanik die Schuld. Der „constantinopolitanische Dudelsackpfeifenmacher-Geselle”
bietet nicht den Organen an sich oder
ihrer Beherrschung, sondern der psychischen Erfassung Schwierigkeit.

643. Auch an Aphasie leidet der Gesunde oft. Namen
zumal, aber auch andre Wörter wollen uns oft nicht einfallen.
Ferner versprechen wir uns insofern, als wir Wörter verwechseln,
ohne dass wir es merken, in der Meinung richtig gesprochen
zu haben, oder auch so, dass wir uns sogleich corrigiren,
weil uns das Ohr etwas zurückgibt, was wir nicht gesagt
haben wollten. Man erzählt z. B. von drei Personen oder
Dingen A, B, C und gibt dem A ein Prädicat, das wir zu B
oder C denken. Man verschreibt sich auch: indem man bald
Sylben auslässt, bald Sylben gegen andre vertauscht. Die
Schuld und der ganze Vorgang ist hier rein psychisch. — Am
häufigsten zeigt sich Akataphasie, nämlich überall da, wo ein
schlechter oder ungeübter Redner mit dem Satzbau nicht fertig
wird. Dann tritt gewöhnlich, jedoch nicht immer und notwendig
Stottern hinzu.

644. Um alles dies klar aufzufassen, müssen wir drei Momente,
welche beim Sprechen mitwirken, sicher unterscheiden:
die organische Mechanik, die psychische Mechanik, der auszusprechende,
d. h. vorzustellende Anschauungs- oder Begriffs-Inhalt.
Der Zweck der Rede ist die Vor- und Darstellung des
Inhaltes vermittelst der psychischen und der organischen Mechanik.
Wir könnten uns recht wohl die organische Mechanik
als die Orgel, die psychische Mechanik als den Orgelspieler,
den Inhalt als den Componisten denken: nur dass diese drei
Momente nicht als beziehungslos außer einander bestehend,
sondern als nach ihrem Wesen und Dasein oder dynamisch auf
einander bezogen gedacht werden müssen. Die beiden Mechanismen
stehen selbst wieder in einem mechanischen Zusammenhange;
aber auch der Inhalt wirkt auf den psychischen Mechanismus
482nur, indem er ganz innerhalb desselben steht. Ist denn
das etwas besondres? Bilden nicht während des Spiels die
Orgel und der Spieler und der Componist gerade solch eine
Einheit, wie in der Rede das Organ, die Vorstellung und der
Inhalt? Steht nicht der Finger und der Fuß des Spielers in
mechanischem Verband mit der Orgel? Und könnte der Spieler
die Melodie des Componisten ertönen lassen, wenn die beiden
Seelen nicht auf einander bezogen wären — und wenn also
bezogen, wie denn anders als mechanisch? — nämlich durch
Noten? Also der Componist setzt den Finger des Spielers,
dieser die Orgel in Bewegung.

645. Nun kann jedes der drei Momente in Unordnung
geraten: das Instrument ist verstimmt, der Finger gelähmt, die
Melodie veruntreut. So entstehn die eigentlichen Krankheiten:
erstlich Stammeln, Stottern und Anarthrie, zweitens Aphasie
und Akataphasie, drittens Geistesstörung. — Es kann aber jedes
Moment an sich in Ordnung sein; nur entspricht die Ordnung
der beiden Mechanismen nicht derjenigen, welche die Melodie
oder die Rede als der Zweck erfordert. Die Melodie setzt
etwa Fingerbewegungen voraus, welche die Hand des Spielers
nicht auszuführen vermag; oder das Instrument kann den gegebenen
Anstößen nicht entsprechen, etwa weil sie zu schwach
sind, oder einander zu schnell folgen, oder in einer Ordnung
folgen, welche jenes nicht beobachten kann. So wird ohne
eigentliche Krankhaftigkeit doch der Zweck nicht erreicht.

646. Wir unterscheiden also genauer:

a) Störungen der organischen Mechanik: Stammeln.

b) Unfolgsamkeit der organischen Mechanik gegen die
psychisch-sprachliche: Stottern, Anarthrie. Hierher gehören
aber auch alle grammatischen Lautfiguren, wie Assimilation,
Synkope, historische Lautschwächung u. s. w. (Zeitschr. für
Völkerpsychologie I, 104—107. 122—129.)

c) Unfolgsamkeit der psychischen Mechanik gegen den
Inhalt.

Sowohl bei c) wie wie b) können wir folgende Unterabteilungen
machen:

α) Untätigkeit des Mechanismus ergibt bei b) Anarthrie,
bei c) Aphasie in der Weise, dass kein Wort erinnert wird.

β) Eigenmächtige Bewegung des Mechanismus oder falsche
483Beziehung desselben auf die leitende Macht ergibt bei b) das
falsche Aussprechen des gewollten Wortes mit allen Erscheinungen
von 642 und gewisse Lautfiguren, wie Schwächung und
Verdumpfung der Vocale, Einschub von Vocalen und Consonanten
zur bequemen Aussprache; bei c) aber

a) Die Vertauschung der Wörter; der psychische Mechanismus
reproducirt ein Wort, das nicht gewollt wird. Es
werden gewöhnlich entgegengesetzte oder überhaupt eng mit
einander verbundene Wörter verwechselt. Oben fanden wir
angegeben „Hut” für Stock; beide gehören zum Ausgehen. Im
Verkehr verspricht sich der Gesunde am meisten da, wo er es
am wenigsten möchte, bei Gegensätzen, wie Ost und West,
rechts und links u. s. w. Da diese Wörter dicht neben einander
liegen, so geht die Erregung leicht fehl. Indessen werden
beim Kranken oft körperliche Ursachen bestimmend sein.

b) Das Versprechen oder Verschreiben, welches dadurch
eintritt, dass eine zufällig wirkende Kraft mächtiger geworden
ist, als der Inhalt, in Folge wovon in die reproducirte Reihe
ungehörige Glieder eingeschoben, hineingehörige ausgelassen
werden, oder die Reihe der Glieder so verschoben wird, dass
was folgen sollte, vorangeht. Die gewöhnlichste Ursache des
Verschreibens ist, dass ein schon voraus gedachtes Wort in
dasjenige, welches im Augenblicke geschrieben wird, hineinwirkt.
So schrieb ich z. B. einmal: „Reiße der Außenwelt” für Reize;
sprach „Plato und Cato” für Plautus. Beim Gesunden ist es
mehr das erst folgen sollende, welches zu früh wirkt; beim
Kranken ist es das Vorangehende, welches noch nachträglich
wirkt. So 634. Dasselbe zeigt besonders klar der erkrankte
Edinburger (648). Er sollte 2718 schreiben und schrieb dafür
277717. Er hat bei der ersten 7 die Siebensucht bekommen.
Es ward ihm dictirt: The view from thence is, und er schrieb
The view fiew thence. Dictirt: of that gloomy; er: of a afore
the gloffy
. Grammatisch gehört hierher die Prolepsis und Assimilation.
(Genauer gehört wohl die progressive Assimilation
und Dissimilation unter β), die regressive hierher).

647. Endlich ist in Bezug auf die unter α) gestellte
Aphasie zu unterscheiden:

a) Das Bild des Wortlautes wird nicht erinnert: Aphasie
im engern Sinne484

b) Bild und Bedeutung des Wortes wird nicht erinnert,
die Vorstellung, die Satzform wird nicht gebildet: Akataphasie.
— Dieser Unterschied kann auch so gefasst werden. Die
Sprache als ein psychischer Mechanismus gedacht besteht einerseits
in einer, man kann sagen, unzählbaren Menge von Vorstellungen
An und Nn, andrerseits aber in Methoden (Gesetzen,
Regeln) und Mitteln (Partikeln, Formen), diese Vorstellungen
unter einander zum Satze zu verbinden. So ist, abgesehen vom
Ausdrucke des Inhalts, die correcte Bildung des Satzes Zweck,
und zwar nächster Zweck, der Sprache. Dieser ist freilich dem
Inhalte als Mittel untergeordnet, aber immerhin etwas für sich
zu erreichendes. Es kann nun einerseits der Fall eintreten,
dass der Mechanismus des Bewusstseins die zur Darstellung
des Inhalts notwendigen An und Nn nicht liefert: Aphasie; es
kann aber auch die Kraft fehlen, die Vorstellungen nach den
grammatikalischen Gesetzen zu appercipiren (286) oder zu verbinden:
Akataphasie.

648. Für diese Stelle war folgende Bemerkung verspart.
Ausführlich ist gezeigt, wie der geistige Inhalt, Anschauungen
sowohl als Begriffe, nur in Schwingung gesetzt und im Bewusstsein
durch die entsprechenden Vorstellungen, welche die
Bedeutungen gewisser Wortlaute sind, vertreten werden. Die
Vorstellungen oder Wortbedeutungen dagegen werden bewusst.
Die Inhalte aber erfordern zu ihrer Repräsentation im Bewusstsein
mindestens zwei, meist aber mehre Vorstellungen oder
Wörter. Es können aber niemals fünf, drei oder auch nur zwei
Vorstellungen sich gleichzeitig im Bewusstsein befinden, noch
weniger ein Satz, der zwei oder drei Zeilen einnimmt. Folglich
wird, abgesehen von Bildern, kein Inhalt auch nur in der Form
der Vorstellungen in seiner Gesammtheit bewusst sein; sondern
bewusst ist immer nur eine Vorstellung: während die andern
Vorstellungen des betreffenden Inhaltes, bloß schwingen. Die
Combination der Wörter zum Satze vollzieht sich schwingend
mit schwingenden Momenten. Der Satz als Ganzes, als Einheit
verschiedener Momente, ist der nicht bewusst werdende Zweck
der Wort-Reihe, welche Glied für Glied durch das Bewusstsein
zieht. So hat also der innere sprachliche Mechanismus noch
abgesehen von dem Inhalte, dem er als dem Zwecke dient, noch
seinen Zweck in sich, der, obwohl unbewusst, die einzelnen
485Vorstellungen zwar nicht hervorzurufen hat, was schon der Inhalt
tut, aber doch zu ordnen, zu formen, auf einander zu beziehen
hat. — Es gehört aber eine nicht geringe Kraft dazu,
das zu leisten, was der Satz fordert, und es mit bloß schwingenden
Momenten zu leisten. Dazu kommt, dass zwar der Inhalt
schon die notwendigen Vorstellungen herbeiruft, aber doch
nicht in voller Bestimmtheit, welche vielmehr erst durch den Satzbau,
die Construction herbeigeführt wird. Wie leicht sinkt nun aus
der Reihe schwingender Vorstellungen eine in die völlige Unwirksamkeit.
Geschieht dies aber dem ersten Gliede, so erhalten
die folgenden Glieder nicht mehr die hinlänglichen Anstöße,
und der Ablauf der Reihe ist gestört. Daher begegnet es auch
dem Gesunden, wie dem Akataphatischen, dass er Sätze beginnt,
die er nicht ausführt; das ausgesprochene Subject z. B., das
schwingend bleibend sollte, bis der Satz zu Ende ist, wird latent:
so stellt sich das Verbum nicht ein. So berichtet Solbrig (in
Lähr's Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. XXV. S. 321 ff.) von einer
Kranken: „Es war keine vollkommene Aphasie; allein die Kranke
verwechselte nicht selten die Worte und allmählich gelangte sie
dazu, dass sie von einem angefangenen Redesatze das Ende
nicht mehr finden konnte. Sie begann mit ein paar Worten
und der Rest war ein fruchtloses Bemühen. Sie wusste zwar,
dass sie noch etwas sagen wollte, konnte es aber schlechterdings
nicht mehr hervorbringen und war oft ungehalten darüber.”
Genau dasselbe wird im Edinburgh Medical Journal (vol. XII,
part II, Januar 1867) berichtet, nur dass hier noch undeutliche
Aussprache hinzukam. Mit dem Beginne des Satzes und so
lange bis er zu Ende gesprochen ist, müsste er in der Seele
als Ganzes und Einheit schwingen: das letzte Wort schon,
während das erste über die Lippen geht, das erste noch, während
das letzte ertönt. Das vermag der Kranke nicht zu leisten.
Aber auch alle Anakoluthien, erlaubte und unerlaubte beruhen
auf mangelhafter Schwingung (Vergl. 272—275).

649. Auch Vergleichungen sind Beziehungen, und Urteile
im engern Sinne sind Vergleichungen, und so ist es hier überall
wesentlich, dass schwingende Momente in Tätigkeit treten.
Beim Kranken geschieht das nicht. Es könnte also im Falle
von 634 der Laut „drei” ganz richtig reproducirt sein und
dennoch die Vergleichung unterbleiben, weil der Kranke die
486Warnehmung der Vierzahl nicht mit der Dreiheit vergleichen
kann, weil er sie nicht beide zugleich so bewusst oder schwingend
erhalten kann, als nötig ist, sondern immer eins das andre
verdrängt. Von dem Kranken des Edinburgh Medical Journal
(648) wird folgendes berichtet. Er antwortete auf einfache
Fragen richtig mit ja und nein; aber er ist unfähig zu urtheilen,
zu vergleichen. „Schmeckt Ihnen Ihr Wein? Nickt. Trinken
Sie gern Port-Wein? Nickt. Möchten Sie nächstens lieber
Port-Wein oder Sherry? Hierauf erfolgt keine Antwort. Ja
noch mehr. Eine ihm längst bekannte Person ist im Zimmer.
Man fragt ihn, ob er sie kenne; er nickt. Ist es X? wobei
man einen falschen Namen nennt. Nickt. Ist es Y? wobei
man den rechten Namen nennt. Darauf wird der Kranke verlegen
und wendet sich ab. Am andern Tage ist Y zugegen,
und es ereignet sich ganz dasselbe mutatis mutandis.

650. Gesundheit beruht darauf, dass der organische Mechanismus,
während er ganz nach eigener Mechanik wirkt, doch
nur ausführt, wozu ihn der psychische Sprach-Mechanismus
treibt, und dieser wiederum, der ebenfalls seine eigene Mechanik
und seinen eigenen Zweck hat, mit beiden sich nur so bewegt,
wie der geistige Inhalt es fordert. Bedenkt man, dass jeder
der beiden hier in Betracht kommenden Mechanismen seine
eigene Gesetzmäßigkeit hat, eigenen Förderungen und eigenen
Hemmungen unterliegt, so erscheinen Störungen sehr natürlich,
und die gesunde Rede ist wie ein Wunder.487

Zusätze.

Zu S. 87 vergleiche man die wesentlich übereinstimmende Äußerung
von Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft. München
1869. S. 296 f.

Zu S. 124 Z. 1—4 vergl. Kant Kritik der reinen Vernunft S. 3192,
(241 Reclam, 243 Hartenstein 1853): „Einerleiheit und
Verschiedenheit. Wenn uns ein Gegenstand mehrmalen”
u. s. w.

Zu S. 156 §. 107 vergl. Kant daselbst S. 1802 (144 f. Reclam; 152
Hartenstein): „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel”
u. s. w.

Zu S. 254 Z. 2 v. o. „G umfasst s, s, s…; M aber ist in jedem der
s eingeschlossen”, d. h. der gemeinsame Typus der Gattung
umfasst die Specifica der Arten; das Gemeinsame der Arten
aber ist in jeder besondern Art eingeschlossen.

Zu S.266 §. 329. Das hier Gesagte wird sich der Leser an seinem
Arm am deutlichsten machen. Man kann den Arm beugen,
indem sich der Unterarm mit der Hand dem Oberarm annähert,
und strecken, indem er sich von letzterem entfernt.
Am Oberarm sitzen die Muskeln, welche mit ihren Sehnen
am Unterarm enden; und während die einen ihn anziehen
und beugen, ziehen ihn die anderen ab und strecken den Arm.

Zu S. 292 §. 370. Wenn ich sitze und zu sitzen gesonnen bin, so
kann ich ruhig an jede Bewegung meines Leibes denken,
weil die in mir schwingende Vorstellung des Sitzenbleibens
mit vielen anderen schwingenden Vorstellungen, wie denen
des Zweckes, des Vorteils meines Sitzens für mich und für
andere, associirt ist, und diese Vorstellungen mit vereinter
Kraft sich der motorischen Kraft der Vorstellung jener
Bewegung widersetzen, indem sie dieselbe auch hindern,
ihre Associationen geltend zu machen und sie völlig isolirt
halten.

Zu S. 316 §.411. Kindern, Ungebildeten, Wilden gilt der Leib schlechthin
als ihr Ich, ihre Seele, ihr Bewusstsein. Daher meinen
sie Schmerzen, welche in ihrem Leib entstehen, kämen ihnen
von außen; und hierauf beruht die Vorstellung des Behextseins.
— Zu dem ganzen §. 411 vergleiche man §. 56.488

Zu S. 340 §. 448. Hier ist auf F. A. Lange, Geschichte des Materialismus
II.2 359 verwiesen, wo das Gehirn besprochen
wird. Ich führe hier folgendes an: „Beim Menschen sind
Hirnschenkelfuß und Linsenkern (zwei Teile des Gehirns)
am mächtigsten entwickelt; die Höhe des Fußes des Hirnschenkels
kommt der Höhe der Haube des Hirnschenkels
gleich, während sie sich z. B. beim Reh zu dieser nur wie
1 : 5 verhält.” Danach ist es gerade ein solcher Teil des
Gehirns, welcher als motorische Bahn dient, der beim
Menschen so vorzüglich entwickelt ist, während man eine
höhere Entwickelung der sensorischen Bahnen erwartete.
Dem scheint sogar die unstreitige Tatsache zu widersprechen,
dass die Tiere den Menschen an Kraft und Schnelligkeit
der Bewegungen überlegen sind. Lange erinnert aber
hier mit vollem Recht, „dass es in erster Linie gar nicht
etwa auf Kraft und Schnelligkeit der Bewegungen ankommt,
sondern auf Mannichfaltigkeit und genau bemessene Zweckmäßigkeit.
Dazu aber gerade bedarf es eines ausgedehnten
Coordinations-Apparates mit Verbindungen, die von jedem
Punkte eines gegebenen Systems aus zu einer Mannichfaltigkeit
von Punkten anderer Systeme verlaufen.” Und nun
verweist Lange auf die Sprache und die kunstfertige Hand,
welche so viele Coordinations-Centra und Verbindungswege
zwischen denselben erfordern. Daher bedarf auch der Australier
und der Feuerländer eines voll entwickelten Menschengehirns:
denn er spricht und arbeitet (das. 435).

Zu S. 342 Z. 4 v. u. „An unserem Leibe lernen wir, den Raum setzen
und ihn messen.” Das Pferd versteht z. B. mit dem Schwanze
die Punkte zu treffen, wo es von einer Fliege gestochen
wird, und berührt manche Stellen seines Leibes mit dem
Huf. Ebenso kratzen sich andere Thiere mit der Pfote,
mit der Schnauze. Wie anders, wenn das Kind, ohne die
Leidenschaft des Juckens, sich mit seinen Fingern berührt,
die mit Tast-Organen besät sind, während das Auge zugleich
die Berührungsstelle sieht. Ja bekanntlich achtet
ein Kind gerade auf die Stiche der Insecten gar nicht; es
ist in Vergleich mit dem Tier höchst unpraktisch.

Zu S. 344 Der Farbensinn ist in neuester Zeit Gegenstand lebhafter
Discussion gewesen. Man vergl. Allen, der Farbensinn,
übers, von Krause. Rabl-Rückhard in der Zeitschr. f.
Ethnologie 1880 S. 210—221 und die Verhh. der Berliner
Gesellschaft f. Anthropologie in derselben Zeitschrift 1880
S. 183—185 und Lazarus, Leben der Seele II.2 S. 109.
Misdeutung unzweifelhafter sprachlicher Tatsachen hatte die
Physiologen irre geführt. Wenn man jetzt ausspricht: „Die
Frage der physiologischen Entwickelung des Farbensinnes
489ist vom historisch-linguistischen Gebiet völlig auf das physiologisch-naturwissenschaftliche
hinüber gedrängt worden”,
so ist dies einerseits bloße Tautologie und zeigt andererseits,
wie wenig man begreift, welchen Anteil die Psychologie
an dieser Frage hat (Lazarus a. a. O.). Uns kommt
es hier lediglich auf die Apperception der Farben an. Nur
fehlt uns, wie mir scheint, jeder Ausdruck oder jede Vorstellung
darüber, wie nicht appercipirte Farben empfunden
werden. Dass nicht appercipirte Farben gar nicht percipirt
würden, gar keinen Eindruck machten, behaupte ich nicht;
aber ich muss es dahin gestellt sein lassen, welcher Art
dieser Eindruck ist. Darum kann ich dem Darwinistischen
Beweise für das Dasein des Farbensinnes bei den Insecten,
Fischen und anderen Tieren nur geringen Wert beilegen.
Für die Säugetiere mangelt der Nachweis des Farbensinnes
fast gänzlich. Soll man nun wirklich glauben, dass bei viel
niedriger organisirten Tieren ein Sinn sogar hoch entwickelt
sei, der den höchsten Tieren völlig fehlt? Ich meine, so
wenig der Stier das Rot sieht, wodurch er wild gemacht
wird, (sieht, in theoretischem Sinne) so wenig sieht irgend
ein Tier Farbe, welches durch Farbe sein Leben erhält
oder sich schützt. Wie können wir wissen, wie die bunten
Blumen dem Schmetterling erscheinen? Ich behaupte noch
nicht, dass er die Farben rieche (obwohl das noch nicht
unsinnig wäre; vergl. auch Gegenbaur, Grundriss der
vergleichenden Anatomie §. 198); aber dieselben können auf
das Insect in ganz unsagbarer Weise wirken.

Zu S. 348 §. 460. Lange (a. a. O. S. 325) bemerkt: „Ueber das,
was zuerst den Menschen strenger von den Tiergeschlechtern
schied, also über die eigentlichen Anfänge specifischen
Menschendaseins finden wir hier (in den Pfahlbauten, Höhlen
u. s. w.) keinen Aufschluss. Ein Umstand verdient jedoch
hervorgehoben zu werden, der allerdings mit den ersten
Anfängen des specifisch Menschlichen in wesentlicher Verbindung
zu stehen scheint: es ist das Auftreten des Schönheitssinnes
und gewisser Anfänge der Kunst in Zeiten,
in welchen der Mensch offenbar noch im wilden Kampf mit
den großen Raubtieren lebte. In dieser Beziehung sind
vor allen Dingen die Umrisszeichnungen von Tiergestalten
auf Steinen und Knochen zu erwähnen. Dazu kommt, dass
auch in den ältesten und rohesten Resten von Töpferarbeit
fast immer eine gewisse Rücksicht auf Gefälligkeit der Form
zu beobachten ist, und dass die Elemente der Ornamentik
fast so alt scheinen, als die Fertigkeit in der Herstellung
von Waffen und Geräten überhaupt.” Hiernach erinnert
Lange an Schillers „Künstler” und scheint mit Jäger und
490Darwin dafür zu stimmen, dass der Mensch früher gesungen
als gesprochen habe — singen, d. h. juchzen und jodeln.

Zu S. 375 §. 502. Was hier und weiter über Onomatopöie gesagt
und als Verwantschaft des Gefühlstones der verschiedenen
Empfindungen und Warnehmungen und Gedanken bezeichnet
ist, wird von Andern „Analogien der Empfindungen genannt”;
so von Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie
I2 S. 487. II2 S. 297 f. 432 ff.

Zu S. 405 §. 538, 539. Diese Ansicht habe ich später (Ursprung der
Sprache 3. Aufl. S. 314 ff. 371—374) modificirt. Ich habe
die vielen onomatopoietischen Gebilde, für jede eigentümliche
Warnehmung einen besonderen Reflexlaut, fallen lassen.
Aus sehr wenigen, in ihrer Bedeutung sehr unbestimmten
reflectorisch entstandenen Lauten entwickelten sich durch
die psychologischen Processe die Vorstellungen und damit
die Wörter.

Zu S. 415 §. 546 Schluss. Die letzte Formel dieses §. muss wohl so
gestaltet werden:

P = AN + An+1+Nn+1 = AnNn

Denn der Strich in der Formel bedeutet, dass das darunter
stehende nur schwingt (S. 412 oben); nun aber schwingt
zwar An+1, aber nicht An+1 wie kurz zuvor (S. 415, Z.
18. 19) gesagt ist.

Zu S. 422 Z. 14 der Druckfehler in der ersten Auflage ist jetzt corrigirt,
nämlich das Gleichheitszeichen = vor (AnL) eingefügt.

Zu S. 454 — 487 §. 600 — 650. Zu diesem Abschnitte über Aphasie
ist besonders zu vergleichen die vortreffliche Schrift von
Kussmaul: Störungen der Sprache. 1877. Ferner Wundt
I2 147 ff.

Zu S. 466 §. 622. Alles was in diesem §. gesagt ist, erweist sich
nach den neueren Untersuchungen als ungenau, teilweise
auch kaum als richtig. Indessen ist die Sache ziemlich
verwickelt und würde eine ausführlichere Darlegung erfordern,
als hier am Platze wäre, zumal auch alles dies für
unsere beschränkten Zwecke nicht notwendig ist.

Zu S. 477 §. 635 und S. 211 §. 205. Dass zum Verständnis gehörter
Rede, zunächst zur Auffassung der gesprochenen Laute als
solcher, eine zur Apperception bereit stehende Vorstellungsgruppe
nötig ist; dass wir den Einwirkungen auf unser
Gehör willig entgegen kommen müssen, wenn die einzelnen
Laute in ihrer Bestimmtheit und in ihrer richtigen Combination
gehört werden sollen; dass das volle und richtige
Hören nicht ein bloßes Percipiren, ein bloß physiologischer
Nervenprocess ist, sondern ein ergänzendes, gestaltendes
Appercipiren: das zeigt sich da am klarsten, wo trotz der
Einfachheit des dem Ohre Dargebotenen wir dennoch nicht
491verstehen, weil es nicht gestattet ist in üblicher Weise zu
appercipiren. Nicht nur bei „Juni” oder „Juli” zeigt sich
das Ohr unfähig, l und n von einander durch Perception
zu unterscheiden, sondern dasselbe findet noch auffallender
statt, wenn wir an jemand eine Frage richten, auf die wir
eben so wohl „ja” wie „nein” zu erwarten haben. Obwohl
hier die Laute sehr verschieden sind, wird man doch in
den meisten Fällen die gegebene Antwort beim ersten Ertönen
nicht verstehen, sondern auf größere Deutlichkeit
dringen.

Gehirn und Geist — Physiologie und Psychologie.

Die von mir in diesem Werke festgehaltene Ansicht widerspricht
meines Erachtens keineswegs der Ansicht von Lange und Wundt.
Ich behaupte mit ersterem (das. S. 374), „dass man nicht den Gedanken
als ein besonderes Product neben den stofflichen Vorgängen
ansehen kann, sondern dass eben der subjective Zustand des empfindenden
Individuums zugleich für die äußere Beobachtung ein objectiver,
eine Molecular-Bewegung ist. Dieser objective Zustand muss
nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft in die lückenlose Causalreihe
eingefügt werden. Dies muss geschehen können, ohne irgend
eine Rücksicht auf den subjectiven Zustand, da dieser ja kein besonderes
Glied in der Kette der organischen Vorgänge ist, sondern
gleichsam nur die Betrachtung irgend eines dieser Vorgänge von
einer andern Seite her.” Gerade darum muss es, meine ich, auch
möglich sein, den Wechsel der subjectiven Zustände (der Vorstellungen)
in eine lückenlose Causalreihe zu bringen, ohne irgend eine Rücksicht
auf die Molecularbewegung. Lange sagt dann weiter, wie ich (S. 375):
„Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses des subjectiven Empfindungsvorganges
zu dem objectiv beobachteten Nervenvorgang dürfte
unmöglich sein.” Und S. 394: „Man ist keineswegs genötigt, die
körperlichen Vorgänge als den letzten Grund des Psychischen oder
gar als das eigentlich allein vorhandene zu betrachten.”

Wie nötig es aber ist, Psychologie mindestens auch für sich zu
studiren, sieht man wohl aus folgendem. Es könnte jemand die Kette
der Vorgänge im Gehirn lückenlos anschauen, ohne das mindeste von
der psychischen Bedeutung derselben zu ahnen. Die Gehirn-Processe
müssen, um psychologisch verstanden zu werden, erst psychologisch
gedeutet werden. Nun „darf man freilich nicht verfahren, wie ein
Mensch, der die Melodien, die eine Orgel spielen kann, in den einzelnen
Pfeifen entdecken wollte” (Lange das. 375); aber wer eine
Melodie nicht in ihre musikalischen Elemente zu zerlegen versteht,
würde niemals den Zusammenhang zwischen Melodie und Orgel begreifen.
Jene Zerlegung aber ist möglich ohne Kenntniss der Orgel.
So ist auch eine psychologische Analyse recht wohl möglich ohne
492Rücksicht auf die Bewegung in den Gehirnfasern. Dagegen wird der
Gehirn-Physiologe ohne gesunde Psychologie schwerlich weit kommen,
so wenig wie der Taubgeborene den Bau und die Wirksamkeit der
Orgel begreifen würde. Dass auch der Psychologe viel von dem
Physiologen zu lernen hat, mag nicht minder zugestanden werden.

Es ist ein ungenauer Ausdruck, wenn man sagt, eine Vorstellung,
etwa ein Wille, könne ein Glied des Körpers bewegen, gerade so
ungenau, wie wenn man sagt, ein körperlicher Reiz, etwa auf der
Haut, erzeuge eine Empfindung. Aber gewisse Molecularbewegungen
sind mit Bewusstsein verbunden, und alles was Vorstellung heißt, ist
mit Molecularbewegung verbunden, und diese können weiter andere
körperliche Bewegungen verursachen. Vergl. Zeitschr. f. Völkerpsych.
u. Sprachwissensch. IX, 1—50.

Arten der Apperception.

Zu den (§. 200—219) dargelegten Arten der Apperception bemerkt
einer der besten Denker unseres jüngeren Philosophen-Geschlechts,
Bruno Erdmann, (Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche
Philosophie III, 4. S. 394) erstlich dass dieselben nach dem Schema
der formalen Logik bestimmt seien, während doch die psychologische
Rücksicht allein hätte maßgebend sein müssen; und zweitens, dass in
Folge dessen eine psychologisch wirklich eigentümliche Art der Apperception
übersehen sei, welche er die determinirende Apperception
nennt. Von derselben sagt er: „Durch diese denken wir überall, wo
uns die percipirten Massen in der Form von Allgemeinvorstellungen,
also durch Worte gegeben werden. So beim Lesen, im Gespräch
u. s. w. Die Verschmelzung, etwa beim Lesen der Schilderung einer
nicht namentlich genannten, uns aber bekannten Landschaft, tritt
dann durch die allmähliche gegenseitige Determination der Worte
ein, die, je zahlreicher und passender sie sind, um so bestimmter aus
den verschiedenen gegebenen Apperceptionsmassen die richtige reproduciren.
Eben in diese Klasse gehört auch das Raten von Rätseln,
deren Lösung die entsprechenden Apperceptionsmassen als vorher
schon gegeben voraussetzt.”

Ich muss, was den ersten Punkt betrifft, zugestehen, dass, wie
der Name „subsumirend” deutlich verrät, ich für die nähere Qualificirung
der Arten einen Anhaltspunkt an der Logik gesucht habe,
aber erst, nachdem ich die Sache durch rein concretes Suchen gefunden
hatte. *)53 Jetzt aber meine ich, durch Erdmann geweckt, der
psychologische Hintergrund sei folgender. Die identificirende Apperception
493zwar beruht auf Verschmelzung, die subsumirende aber auf
Verflechtung, die harmonisirende dagegen auf der Harmonie des zu
appercipirenden Objects mit der herschenden Gruppe (232—235),
unter welche sie gebracht werden muss. Alle Beispiele, welche 210
aufgeführt sind, liefern zugleich Fälle, in denen wir die Macht einer
Gruppe erkennen; und umgekehrt wüsste ich die Anekdote von 235
nur als harmonisirende Apperception zu erklären, wobei als Grund
der Reproduction und der Wirksamkeit der appercipirenden Gruppe
nicht Verschmelzung und nicht Verflechtung, sondern Verbindung,
d. h. der innere Zusammenhang der Gruppe (283—285) und die
Constitution des Bewusstseins eines Menschen (236—241) angesehen
werden muss. Ja, da die Macht einer Gruppe nicht bloß von ihrer
innern, aus ihrem Zusammenhalt entspringenden Kraft abhängt, sondern
auch von den ihr ganz fremden Verhältnissen, welche die Stimmung
des Menschen beherschen (212, 253—262), sein Interesse erregen
(247—252): so sind es gar nicht objective (wenigstens von dem betreffenden
Individuum als objectiv angesehene) Vorstellungs-Verhältnisse,
welche die Apperception bestimmen, sondern ganz subjective Gemüts-Zustände.

Was aber zweitens die von mir als solche nicht aufgezählte
determinirende Apperception betrifft, so ist sie (auch nach Erdmann)
den von mir aufgestellten Arten nur in dem Sinn „coordinirt”,
dass sie dieselben, wenn diese zu einer Gattung der Apperceptions-Arten
zusammengefasst werden, als andere Gattung gegenüber stellt.
Nämlich ineine Arten der Apperception sind Formen des Erkennens,
die determinirende Apperception ist das was wir gewöhnlich Verstehen
nennen. Ich habe natürlich in meinem Buche der Sache
öfter gedacht §. 53, 49, 585 und beim Wesen und Ursprung der
Sprache oder der Vorstellung im specifischen Sinne. Nun meine ich,
wie das Erkennen seine Arten oder Formen der Apperception hat,
so auch das Verstehen. Die determinirende Apperception ist nicht
eine einfache, sondern umfasst Unterschiede: diese sind die Arten der
Interpretation: die grammatische, die reale, die stylistische, die historische
und die individuelle. Die letzte Form aber der Interpretation,
die psychologische und die Kritik, namentlich aber endlich die philologische
Construction (der Literaturgeschichte oder der Geschichte
überhaupt oder der Grammatik) beruht auf den Apperceptionen des
Erkennens, und namentlich auf der harmonisirenden Apperception (213).
Ueber Interpretation und Verständnis vergl. meinen Vortrag in den
Verhandlungen der Philologen-Versammlung zu Wiesbaden. 1877.

Mensch und Tier — Ursprung der Sprache.

Ich glaube, die Vergleichung zwischen Mensch und Tier, wie
sie hier S. 332. §. 438. — S. 359 §. 474 angestellt ist, habe immer
noch ihre Berechtigung. Ich hätte einige wenige Einzelheiten, wo
die Betrachtung teleologisch oder religiös-ästhetisch wird, ändern
494können. Die Hauptsache aber ist die, dass einerseits die Tatsachen
mir richtig scheinen, und dass andererseits der Gesichtspunkt der
Entwickelung der höheren Stellung des Menschen aus der niederen
des Tieres, eines Anthropoiden, durchaus fehlt. Diese Lücke auszufüllen
bin ich nicht im Stande, oder ist die Wissenschaft heute noch
nicht im Stande. Darum zur Ergänzung nur so viel.

Die Entwickelung der Sprache ist der förderlichste Hebel der
Heraushebung menschlichen Bewusstseins aus dem tierischen. Die
Sprache ist eben von ihrem ersten Beginn ein neues Organ des
Menschen. Mit diesem Organ verfeinert sich die Wirksamkeit der
andern Organe, der Sinne und des Denkens und Fühlens des Menschen.

Diese hohe Bedeutsamkeit der Sprache für die Entwickelung des
Geistes setzt aber gar nicht voraus, dass sie ihren Ursprung nicht
Umständen verdanken könne, welche vom zoologischen Gesichtspunkte
aus betrachtet, durchaus nicht wesentlich sind, wenigstens nicht alle
gleich wesentlich. Ja ich meine, wir könnten einmal den Gesichtspunkt
wählen, dass wir zugestünden, das hoch entwickelte Säugetier,
wie der Hund, das Pferd, würden Sprache erzeugen, wenn nicht
Hindernisse da wären. Diese lassen sich nachweisen, und in der
Wegräumung derselben liegt das Werden des Menschen.

Alles schien von der aufrechten Stellung abzuhängen. Wie aber
diese von einem noch affenartigen Tier durch fortwährende Uebung
erworben und befestigt werden konnte, ist durchaus begreiflich. Wie
Caspary richtig bemerkte, konnte dem Menschen beim Kampfe wie
beim Heimtragen der Beute der Vorteil des aufrechten Ganges sich
leicht aufdrängen. Wenn er zur Ortsbewegung sich bloß der Hinterfüße
bediente, die vordern Extremitäten aber zum Ringen gebrauchte,
sie mit einem Stock bewaffnete oder mit denselben Steine gegen den
Gegner warf, so gab ihm dies so offenbare Vorteile im Kampfe ums
Dasein, dass es ihm gar nicht unbemerkt bleiben konnte. So wird
er den aufrechten Gang immer bestimmter und entschiedener gewählt
haben. Denken wir uns solche Uebung durch tausend Geschlechter
fortgesetzt, so mag sich dieser Gang zu fester Gewohnheit entwickelt,
und die Extremitäten und der Rumpf mögen die dazu notwendige
Gestalt und gegenseitige Stellung erworben haben.

Nun hat weiter Jäger darauf hingewiesen, wie die aufrechte
Stellung unentbehrlich ist, um diejenige Herschaft über den Atem zu
erlangen, welche für die Sprache unentbehrlich ist. Beim Sprechen
wird der Hauch mit Maß stoßweise ausgesant. Dazu müssen die
Rippen- und die Bauch-Muskel völlig in unserer Gewalt sein, wie es
nur bei aufrechter Stellung möglich ist, beim Gang auf allen vieren
aber völlig unmöglich. Daher haben nur noch die Vögel eine gewisse
Herschaft über ihre Stimmwerkzeuge und ein gewisses Steigen und
Fallen der Töne.

Besitzt also nur der Mensch die Möglichkeit des freien Ausatmens,
so wird auch nur er die Herschaft über die Stimmbänder erlangen
495die feinen Muskeln am Kehlkopf, welche die Stimmbänder spannen
und gegen einander nähern und entfernen, werden so ihre Ausbildung
gewonnen haben.

Mit Recht aber wird nun weiter angenommen, dass mit der aufrechten
Stellung auch der Schädel und das Gehirn seine vollkommnere
Entwickelung erlangt haben wird. Worauf es hierbei für die Sprache
zunächst nur ankommt ist, dass sich die Verbindung zwischen dem
sensoriellen und dem motorischen Sprachcentrum, der Aufnahme des
Wortlautes durch das Gehör und der Erzeugung der Laute durch
die Organe, herstelle. Hierin liegt die Fähigkeit der Laut-Nachahmung.
Diese fehlt den Säugetieren, findet sich aber bei einigen
Arten der Vögel. Da sie aber hier in derselben Art einigen Variationen
fehlt, bei einigen gegeben ist, so ist nicht schwer zu begreifen,
dass sie beim Menschen mit der besseren Entwickelung des Gehirns
sich herstellen konnte.

Haben wir im Menschen nur erst ein aufrecht stehendes laut-nachahmendes
Säugetier, so haben wir in ihm die Grundbedingungen
zur Sprache und damit die Bedingungen zu weiterer allmählicher Entwickelung
der anderen Bedingungen, der feineren Ausbildung des
Kehlkopfes, der feineren Warnehmung des Gehörs, damit auch feinerer
Ausbildung des Bewusstseins; und, wenn dies einmal gegeben ist, so
wird auch durch andauernde Uebung während vieler Geschlechter die
vollkommene Entwickelung des Gehirns und des ganzen Kopfes wohl
begreiflich.

Ich habe immer behauptet (447), dass der unermessliche Unterschied
zwischen Mensch und Tier in der unserer Bekanntschaft zugänglichen
Zeit nur auf einer kleinen anfänglichen Verschiedenheit
beruht, welche aber derartig war, dass sie sich ganz außerordentlich
vergrößern konnte. Früher meinte ich, dieser uranfängliche Unterschied
sei vom Schöpfer gesetzt. Jetzt können wir denselben als geworden
in der allgemeinen Entwickelung der Natur nach der Descendenz-Theorie
wenigstens im allgemeinen recht wohl begreifen.

Zum Schlusse sei noch auf das höchst lehrreiche Kapitel über
„Ausdrucksbewegungen” in Wundt's „Grundzüge der physiologischen
Psychologie” verwiesen. Die Unterscheidung von Reflex- und Triebbewegung,
zu der mich Wundt mahnt, werde ich an einem anderen
Orte, nämlich in einer Ethik, verfolgen.496

1*) Andeutungen über das Wachsen und den Wandel jenes Dualismus
habe ich gegeben in dem Vortrage: „Philologie, Geschichte und Psychologie
in ihren gegenseitigen Beziehungen.” S. 2 ff.

2**) Siehe die erste Anmerkung S. 25.

3*) S. die zweite Anmerkung S. 26.

4*) Vergl. zu allem Obigen meine schon citirte Abhandlung, S. 1—16.

5*) Auch über diesen Punkt ist mein schon angeführter Vortrag zu
vergleichen, S. 16—47.

6*) In meiner Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und
Römern.

7*) Vergl. dessen Hauptwerk: Organism der Sprache.

8**) Das hat Schleieher getan. Ueber die Verdienste dieses Sprachforschers
vergl. S. Lefmann: August Schleicher, Skizze. Leipzig 1870.

9*) Dass man wirklich in ähnlichen Fällen so verfahren, bemerkt Winckelmann,
Kunstgeschichte, Vorrede, §. 7.

10*) Auf Lotze's Ansicht von der Stellung der Grammatik zur Logik
werden wir später eingehen, wenn wir nach ausführlicher Darlegung des
Wesens der Sprache auf das Verhältniss der Logik zur Grammatik zurückkommen
werden. Hier sei nur kurz bemerkt, dass er, der Logik und Metaphysik
unterscheidet, die grammatischen Kategorien für metaphysisch, ontologisch
hält. Er deutet aber bloß das Substantivum, Verbum und Adjectivum an.

11*) Vergl. meine Zusammenstellungen in: Der Ursprung der Sprache, 3. Aufl.

12*) Wir reden hier nicht den weisen Herren das Wort, die alle Erfindungen,
wenn sie gemacht sind, sehr einfach finden und mit ihrem Neide
und ihrer Verkleinerungssucht große Männer, bedeutende Verdienste am wenigsten
schonen. Ihnen erzähle man das Anekdötchen von den auf die Spitze
zu stellenden Eiern. Was wir im Obigen wollen, das ist, um es kurz auszudrücken:
dem Allgemeinen die Ehre, ohne die Person zu beeinträchtigen,
die eben das Allgemeine darstellt.

13*) Vergl. Lazarus, Leben der Seele, II. 121—139.

14*) Wenn man gesagt hat, die seelischen Erscheinungen seien eine Auslösung
der Elektricität ganz ebenso, wie alle mechanischen Erscheinungen
sich einander auslösen: so ist dies so lange für eine bloße Vermutung zu
halten, als nicht durch Experiment und Berechnung der Beweis dafür erbracht
ist ganz in derselben Genauigkeit, als dies z. B. für das Auslösungs-Verhältniss
zwischen Wärme und mechanischer Arbeit geschehen ist. Umgekehrt
meine ich einstweilen, der Beweis für ein immaterielles Princip
werde sich am ehesten durch den Nachweis geben lassen, dass zwar seelische
Erscheinungen auf mechanische Einwirkungen erfolgen; dass aber letztere
nach dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft einen in sich geschlossenen
Kreislauf bilden, in den die seelischen Erscheinungen niemals eintreten, wiewohl
ein sehr gesetzmäßiger Parallelismus zwischen beiden besteht. Oder
hat der Naturforscher bei seiner Beobachtung des Wandels der Kraft jemals
eine Lücke bemerkt, die nur durch das, was wir eine psychische Erscheinung
zu nennen pflegen, ausgefüllt werden konnte? d. h. fand er, dass die Kraft
verschwand, ohne dass er gewusst hätte, wohin? und dass sie wiederkehrte,
ohne dass er hätte sagen können, woher? wenn eben nicht in und aus einer
Form, die man seelisch nennt? Fand er unter den Wandlungen der Kraft
auch eine Phase, die dadurch charakterisirt war, dass die Kraft bloß als
psychische Tatsache erschien?

15*) Noch ein Beispiel für die bloß relative Richtigkeit mathematischer
Gleichungen. Wenn es wahr wäre, dass 1000 — 1000 = 0 und auch 100
— 100 = 0, so müsste auch 1000 — 1000 = 100 — 100 sein; es würde also
gleich sein, ob jemand tausend Taler Einkünfte hat oder hundert, wenn er
jene wie diese im Laufe des Jahres ausgeben muss. Nur der Jahres-Abschluss.
wäre gleich, nicht die Ausgabe im Verlaufe des Jahres.

16*) Über diese Macht der Vorstellungen im Bewusstsein wird später die
nötige Erklärung gegeben werden.

17**) Auch über „Wichtigkeit” später.

18*) Als ich den 1. Dec. 1876 die obige Anekdote erzählen wollte, konnte
ich mich auf den Militair und den Naturforscher nicht besinnen.

19*) Das Ja und Nein, das Sokrates seinen Mitbürgern ablockte, und
das uns heute so langweilig scheint, war eine weltgeschichtliche Tat. Darum
ward den Griechen dabei so wunderlich zu Mute. Denn weder sie, noch
ihre Väter, noch die Weisen des Orients hatten jemals ein solches Ja und
Nein ausgesprochen.

20*) Diese an mir gemachte Erfahrung ist natürlich nachträglich in das
Manuscript getragen, aber sogleich als sie gemacht war, so dass mir die
Richtigkeit der Tatsache sicher ist. — Bei abermaliger Durchsicht, vielleicht
sechs Monate später, hat sich die Erfahrung wiederholt, wie natürlich. Ich
kann mich aber nicht besinnen, ob ich, als ich den betreffenden Satz des
Textes zuerst niederschrieb, die Uhr hörte oder nicht. Vielleicht hat aber
jetzt der Leser an sich eine Beobachtung gemacht, die hierher gehört.

21*) Vergleichung tritt nach meiner Beobachtung sehr früh ein, allerdings
nur unter günstigen Bedingungen. Mein Knabe war noch nicht 4 Monate alt,
sondern nur 3½ Monate, da wandte er den Blick von der auf dem Tische
vor ihm stehenden Lampe auf den Spiegel, in dem sich die Lampe spiegelte,
hin und her längere Zeit. In demselben Zimmer stand ein Glasschrank,
an deren Glas-Tür nach innen Vorhänge waren. Auch in diesen Scheiben
spiegelte sich die Lampe, obwohl weniger hell. Auch dieses Bild der
Lampe zog, wie drei Wochen später bemerkt ward, die Aufmerksamkeit
des Knaben auf sich und zwar sogar in höherm Grade, als das hellere Bild
und die wirkliche Lampe. — Abermals drei Wochen später, also als der
Knabe fast volle fünf Monate alt war, wurden in seiner Gegenwart von
der Mutter gegen Abend zwei Lampen auf den Tisch gesetzt, von denen
die eine angezündet war, die andere aber nicht brannte. Der Knabe ließ
den Blick von der brennenden auf die dunkle Lampe gleiten und sah dann
die Mutter an und wiederum die Lampen. Dies wiederholte er dreimal. —
Als er fast ein Jahr alt war, es fehlten nur acht Tage, wollte ich ihn aus
einer Stube in die andre tragen. Die Tür stand etwas auf. Er fasste, wie
er zu thun gewohnt war, mit der rechten Hand an die Klinke. In solchen
Fällen hielt er die Klinke fest, ohne sie freiwillig los zu lassen. Indem
ich nun in die andre Stube einzutreten versuchte und dabei den Knaben
um die zu mir hingezogene Tür bog, bemerkte er die Klinke auf der andern
Seite der Tür und bog nun den Kopf hin und her, um bald die eine, bald
die andre Klinke zu sehen, und suchte auch die letztere mit der linken
Hand zu fassen, ohne die rechte von der erstem loszulassen. Dies wiederholte
er einige Tage später, und nun kam noch etwas hinzu. Es war eine
Flügeltür. Nun betastete er gleichzeitig beide Flügel, den feststehenden
mit der linken, den beweglichen Flügel mit der rechten Hand. — Dass
das Vergleichungen waren, kann ich nicht bezweifeln. Welches Ergebniss.
sie hatten? dürfte schwer zu sagen sein.

22*) Früher hatte ich das Wort der Lösung für das Apperceptions-Organ
gehalten. Jetzt scheint mir letzterer Begriff teils überflüssig, teils falsch.

23*) Eine gar schöne Anekdote, die in diesem Jahre in den Zeitungen zu
lesen stand, mag hier eingeschaltet werden. Als in irgend einem Stätchen
Deutschlands das Siegesfest von Sedan durch allerhand Straßenaufzüge gefeiert
wurde, an denen sich natürlich die liehe Jugend stark beteiligte, kam
so ein kleiner Knirps von sieben Jahren zu spät zum Mittagessen. Sehr
hungrig, wollte er sich ohne Weiteres über die erkaltete Suppe hermachen,
wurde aber von der Mama ernstlich bedeutet: „Erst beten!” Gehorsam
legte der Kleine den Löffel wieder hin, faltete die Händchen und betete:

Lieber Gott, kannst ruhig- sein,
Fest stellt und treu die Wacht am Rhein. Amen!

24*) So glaubte ich ehedem und nannte den Exponenten das Apperceptions-Organ.
Vergl. oben S. 256*)

25*) Vergl. Lotze, Medicinische Psychologie S. 289 ff.

26*) So ist wohl die der Vorstellung gehörige motorische Kraft genügend
erklärt. Sie mag kurzweg eine Gehirnerregung sein oder nur mit einer
solchen in Verbindung stehen: immer ist mit ihr ein physikalischer und ein
chemischer Wechsel in der Gehirnmasse gegeben, welcher seinen motorischen
Reflex findet.

27*) Lotze's wirklicher Gegensatz gegen Herbart liegt ganz anderswo als
in der Aufstellung der drei Vermögen. Denn er selbst erklärt, dass die
Lehre von den Seelenvermögen „sehr wenig leiste”, und dass sie „daher nur
als eine Vorarbeit gelten dürfe, die das Material der Erfahrung für die Bedürfnisse
erklärender Theorien zusammenstellt” (Mediän. Psych. §. 136).

28*) Darum kann ich auch nicht mit Volkmann uud Nahlowski den „Ton”
der Empfindung für etwas von dem Gefühl, das rein geistig sein soll, Verschiedenes
annehmen.

29*) Man denke namentlich an die Baukunst; der wesentlichste Unterschied
zwischen griechischem und gotischem Styl liegt in Linien.

30*) Vergl. Lotze, medicinische Psychologie S. 422, wo Webers schöne
Abhandlung über den Tastsinn vervollständigt wird.

31*) Zum Obigen vergleiche man 12—14. 45. 51—57.

32*) Auch Kinder im ersten Lebensjahr schreien, wenn sie Musik hören.

33*) Vergl. Deutsches Museum 1851 den Aufsatz: Über die Sprache der
Taubstummen. Der oben erwähnte Brief, der uns nach Abfassung dieses
Aufsatzes zn Gesicht gekommen ist, war ein lithographirtes Facsimile.

34*) Kant, Anthropologie S. 55 (Werke, X. S. 161).

35*) Heiraten aus Liebe selbst gegen den Willen der Eltern berichtet
ein zuverlässiger Beobachter von einem Volke, welches wie wenige noch in
den primitivsten Zuständen lebt (James G. Swan, The Indians of Cape
Flattery, at the entrance to the strait of Fuca, Washington territory.
Smithsonian contributions 120. p. 13.)

36*) Genau denselben Zug teilen zwei neueste Naturforscher über den
Kohlraben und über die Bergdohle mit; nämlich Lenz, gemeinnützige Naturgeschichte
173, und Posner, Seelenleben der Tiere, 1851, Seite 190.

37*) Es mag hier eingeschaltet werden, dass auf Reizung des Acusticus
durch intensive Schallbewegungen eine Contraction des Hammermuskels erfolgt.
Dies wirkt aber ganz analog der Verkleinerung der Pupille und dem
Senken der Augenlider. Der Hammermuskel spannt nämlich das Trommelfell
und schwächt dadurch dessen Empfänglichkeit (Funke, Lehrbuch der
Physiol. 1866. II. S. 558).

38*) Quamquam hat bei den Franzosen ein merkwürdiges Schicksal gehabt,
wie die Wörterbücher s. v. cancan berichten.

39*) Beiläufig sei schon hier erwähnt, dass in neuester Zeit sich Wilhelm
Scherer (Zur Geschichte der deutschen Sprache 1868. S. 35 ff.) entschieden
für die Anerkennung der Aufgabe des empirischen Nachweises des Ursprungs
der Sprache ausgesprochen hat, und dass auch er einen „Zusammenhang zwischen
der Art und Weise der Hervorbringung der Laute und dem was sie bezeichnen”
annimmt. Wie er sich zu unserer obigen Vorstellung der Onomatopöie als
eines Laut-Reflexes der Gefühle verhält, weiß ich noch nicht. Ich lese nur
bei ihm (S. 37), dass er „die bestimmte angeschaute oder empfundene Stellung
der Sprechwerkzeuge als die älteste Vorstellung betrachtet, von welcher die
Entwicklung der Bedeutungen ihren Anfang nahm.” Dies ist einseitig, wie
aus Obigem, besonders aus 507 hervorgeht. Es muss der Reflex allseitig gefasst
werden. Auch darin wird Hr. Scherer irren, wenn er sagt (S. 36), es
seien „jene einfachsten Wurzel gestalten als Composita der einfachen und
unteilbaren Laute, als Aggregate der Sprachatome zu betrachten, und aus
den Bedeutungen der Composita die überall gleichen Bedeutungen der Compositionsglieder
zu erschließen” — gegen 505.

Ein Gegner der Onomatopöie ist Lazar Geiger (Ursprung und Entwicklung
der menschlichen Sprache und Vernunft). An Stelle derselben, will
er den Zufall setzen. Gegen diese Zufalls-Theorie vgl. meine Kritik (Zeitschr. f.
Völkerpsych. VI. 479). Er sagt gegen die Onomatopöie: „Die Sprache ist
nicht dem Ohre, dem Schalle, sondern dem Auge und dem Licht entsprungen.”
Sind das wirklich sich ausschließende Gegensätze? frage ich. Nach meiner
Auffassung ist allerdings das durch den Tastsinn und die Bewegungen unter,
stützte Auge das vorzüglichste Agens bei der Bildung der Warnehmungs-Erkenntnisse.
Es ist aber das Auge, die Licht-Empfindung, welche mit
mannichfachen Associationen einen Reflex-Laut, also eine Gehörs-Empfindung
auslöst. Geiger fährt fort: „Nicht das brüllende Tier war es, das, Benennung
fordernd, dem Menschen der Urzeit entgegen trat” (warum nicht
auch dieses?); „sondern die Welt offenbart sich mit ihrem Reichtum an
Gestalten und Farben der allmählich zur Erfassung ihrer Schönheit heranreifenden
Seele” (Allerdings auch Farben und Gestalten). „War der Blitz
des Himmels, war die aufbrechend sich erschließende Knospe für das Ohr
der jugendlichen Menschheit Explosion?” Gewiss, antworte ich zuversichtlich.
Beweis unser Blu-me, lat. flô-s, welche von derselben onomatopoetischen
Wurzel bhl kommen, von welcher der Hellene auch den Beinamen
des rauschenden Meeres πολυ-φλοίσβοιο ϑαλάσσης gewonnen hat, auch den
Namen der Baum-Rinde φλοι-ός (vergl. G. Curtius, Grundzüge der griechischen
Etymologie, Nr. 412).

40*) Bei uns heute ist das freilich nicht mehr so; Bildung schwächt die
Macht des Lautes, indem sie das objective Denken stärkt.

41*) Vergl. oben 295. Überhaupt kann ich mich nicht entschieden genug
gegen die, wie mir scheint, völlig oberflächliche Behauptung aussprechen, jede
Erweiterung der Bedeutung eines Wortes (Verallgemeinerung oder Übertragung,
wie die Rhetorik diesen Vorgang nennt) sei eine Verwechslung zweier Erscheinungen,
eine wirkliche Identificirung zweier Begriffe oder Gedanken-Inhalte.
Es kann z. B. im obigen Falle kein Zweifel obwalten, dass der Laut dlil das
Hervorbrechen des Lichtes bedeute. Und wie wäre nun eine Verwechslung
dieser Erscheinung mit dem Anblicke des Lichtanzünders am Tage oder mit
einer Lampen-Scheere möglich. Nein, hier ist vielmehr der Hergang dieser,
dass die gegenwärtige Warnehmung die frühere, mit der sie verflochten ist,
reproducirt, und nun jene durch diese appercipirt wird.

42*) Milch und Licht waren nach seiner Aussprache von uns nicht zu
unterscheiden. Das i war unbestimmt.

43**) Die vielgehörte Behauptung, die Sprache beginne mit Verben,
scheint mir entschieden ein geistreicher Irrtum, dem gar nichts Tatsächliches
zu Hülfe kommt. Die oben angeführten Fälle, wie sie täglich tausendmal
beobachtet werden könnten, bewiesen entschieden das Gegenteil.

44*) Vergl. Georg Curtius, Grundzüge der griech. Etym., Einl. §. 13,
wo in geistvoller Weise die auch von uns vertretene Ansicht entwickelt
und durch Tatsachen bewiesen wird. Namentlich weist er darauf hin, wie
die Vorstellungen des Schauens, Spähens, Blickens, Achtens, Warens ursprünglich
geschieden waren.

45**) Die in der vorstehenden Anmerkung gedachten Unterschiede sind
älter als die Unterscheidung des Sehens und Hörens und Fühlens.

46*) Vermutlich waren alle Lautreflexe Wiederholungen einer Sylbe.

47**) Die Wurzel ga, gan ist wohl nichts andres als das Gackern der
Hühner, also onomatopoetisch.

48*) Dass die Entwicklungsfähigkeit des Menschen unendlich sei, behaupte
ich nicht; dass sie aber unabsehbar ist, wer möchte das läugnen?

49*) Daher wird das Etymon vergessen (562).

50*) Darum bleibt es dahingestellt, ob Aphasie oder Anarthrie vorliege, in
dem Falle, wo ein Kranker, aufgefordert die Jahreszahl zu nennen, erklärt:
„ich weiß es, ich weiß es, aber ich kann es nicht aussprechen”, und dann
das Verlangte, wenngleich mit Mühe, richtig hinschreibt. Die Frage wäre,
ob er die Zahl wohl auch buchstäblich hätte schreiben können. Damit wäre
die Anarthrie wohl erwiesen gewesen.

51*) Ich finde nicht angegeben, ob die Zahl vier buchstäblich oder mit dem
Zahlzeichen geschrieben war. Dieser Umstand wäre aber wichtig. Denn das
Zeichen 4 hat keine Macht oder wenigstens nur geringere Macht, das Lautbild
des Zahlwortes zu reproduciren, als das buchstäbliche „vier” haben würde.

52*) Die Casuistik, soweit die Quellen nicht angegeben sind, ist drei
Inaugural-Dissertationen der hiesigen medicinischen Facultät aus den Jahren
1867 und 1869 entnommen.

53*) Die harmonisirende Apperception fehlte in meinem ersten Anlauf
als besonders benannte Art (vergl. meine Kleinen Schriften S. 60), obwohl
mir die damit gemeinte Sache nicht entgangen war (das. S. 64). Die Frage
aber, inwiefern eine Anlehnung an die Logik in psychologischen Fragen
erlaubt sei, hatte ich mir ebenfalls vorgelegt (das. S. 57).