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Steinthal, Heymann. Abriss der Sprachwissenschaft. Erster Teil – T02

[Abriss der Sprachwissenschaft I]
Meinem lieben, lieben M. Lazarus.V

Hier schenke ich Dir, lieber Lazarus, ein Buch zu Deinem
Geburtstage. Und weil es nun ein Geschenk sein soll, so
wünschte ich, es wäre so gut, als es mir mühselig, ja zum
Teil aufreibend war. Wie es aber auch befunden werden wird,
es ist nicht bloß so vollkommen, wie ich es jetzt machen konnte,
sondern es enthält auch von allem was ich Wissenschaftliches
weiß das Beste, den Kern, das Erste und Letzte meiner Studien,
so zu sagen — meinen innern Sinn. So nimm es als ein Zeichen
der Freundschaft.

Wie wunderbar verschlingen sich die Triebe des Gemütes!
Die Freundschaft zumal umrankt als Schmuck alle männlichen
Tugenden. Und ist nun etwa z. B. die Tapferkeit weniger
wert, weil sie unter den Augen des Geliebten und mit dem
Blicke auf den Geliebten geübt war? So darf ich auch meine
Arbeit ein Denkmal der Freundschaft nennen, insofern ich damit
an die Freunde, Gönner und an meine früheren Zuhörer
dachte. Ich kenne recht wohl die Lust, im kristallkalten Quell
der Wahrheit zu baden; in dieser Lust lebe ich. Verliert denn
aber etwa der Cultus der Wahrheit an Idealismus, weil man
seinen Fund mit warmer Liebe zum Freunde dessen Augen
unterbreitet? Weil man mit dem Herzen voll von ihm gesucht
hat? — Wer Wissen sucht und als Schriftsteller lehrt, der
muss dies mit dem Bewusstsein tun, dass er sich an die Menschheit
wendet, für sie arbeitet. Ich habe dieses anspruchsvolle
Bewusstsein und glaube auch, die daraus sich ergebenden
Pflichten wohl beachtet und erfüllt zu haben. Tue ich nun
VIImeine Schuldigkeit gegen die Menschheit weniger rein, wenn
ich das Bild derselben in der geringen Anzahl von Freunden
schaue? — Kurz: wenn mir die Wissenschaft gemütlich geworden,
ist sie dadurch der idealen Reinheit und Höhe beraubt?
Ich werfe meine Arbeit in den Strom der Entwicklung
des Gesammtgeistes mit dem Wunsche, dass sie darin rein aufgehen
möchte, und harre der Erfüllung in Demut. An dieser
Zersetzung und Verwendung meiner Gedanken in dem Allgemeinen
werden Gegner wie Gönner arbeiten. Wenn wir aber
den glücklichen Wurf des Freundes mit Jubel begleiten dürfen,
so muss auch umgekehrt der Wunsch, den Freunden zunächst
zu gefallen, sie zuerst zu erfreuen, wohl gestattet sein. Der
Freund wird uns genießen, der Gegner uns verzehren — beides
im höhern Dienste —; warum aber soll ich mich nicht gern
als Gegenstand des Genusses denken?

Während der Arbeit an diesem Buche glaubte ich mich
also unter den Augen meiner Freunde. Wie oft musste mir
da das milde, heitere Antlitz des alten Heyse entgegen lächeln,
dessen Werk ich mit dem begonnenen Unternehmen zu ersetzen
hoffe, und dessen letzte wissenschaftliche Beschäftigung doch
wohl meinem Manuscripte zu dem Buche „Grammatik, Logik
und Psychologie” gehörte, das hier erneuert und erweitert vorliegt.
Wie hätte er sich mit den Fortschritten der Sprachwissenschaft
in den beiden letzten Jahrzehnten gefreut! Wie
hätte es ihn gefreut zu sehen, dass jetzt schon strenge Historiker
Hand an die Systematik legen. Man baut eben die
Wissenschaft nicht wie Häuser; nicht von unten auf und in
vorgezeichneten Linien legt man Stein auf Stein, zieht man
Wand an Wand, in ununterbrochener Continuität — nein, es
arbeitet jeder da, wo er sich gerade nach Schicksal und Freiheit
befindet; plötzlich aber gewart man staunend die Umrisse
und den Plan eines ordnungsvollen Gebäudes: die Idee war
der leitende Baumeister. — Wir bauen auch nicht wie die
VIIIBienen in lautlosem Einverständniss, sondern unter lautem
Streite; man sollte meinen, jeder verdränge jeden; und siehe
da, jeder hat jedem geholfen. Der alte Heyse verstand es so
gut, aus den wirren Rufen des Streites die Harmonie herauszuhören;
er fasste die Eigentöne der Kämpfenden mit der
Grundstimme der Sache zusammen, und dann gab es einen
guten Klang. — Wie bald folgte ihm unser guter Deuschle!
Meine Dithyramben, wie er es fein lächelnd nannte, hatten ihm
gefallen; ich glaube fast, er würde sie im gegenwärtigen Buche
vermissen.

Nun habe ich Dich von allen unsern gemeinsamen Freunden
herausgegriffen, so zu sagen instar omnium, und dem Buche
Deinen Namen an die Stirn geschrieben. Das gebührt Dir.
Wofür ich Dir aber danken will, ist nicht etwas was man aussprechen,
nicht dies und jenes worauf man hinweisen kann.
Wäre es das, so wäre es nicht so viel. Es ist aber etwas ganz
andres — so etwas wie Sonnenschein, welcher den Keim sich
entfalten lässt; nicht etwas wie das was der Prophet Elisa gewann,
indem er den herabgefallenen Mantel des Elias aufnahm,
mit dem er eben so gut wie dieser sein Meister den Jordan
spalten konnte; sondern etwas wie das was ihm vom Saitenspiel
zufallen sollte.

So kehrt zu Dir zurück was in gewissem Verstande Ausfluss
Deiner Persönlichkeit ist. Ob es sich nun mit uns so
wiederholen wird, wie wir es erlebt haben? dass wir nämlich
eines Geistes uns hoben wie ein Turner, welcher, eine Sprosse
fassend, sich an der Leiter hinaufzieht, den Körper mit dem
einen Arme hebend, während die andre Hand die nächst höhere
Sprosse fasst, und dann wieder mit dieser den Körper hochziehend,
damit die erstere weiter hinauf greifen könne — ob
sich das nun so fortsetzen wird? Das steht beim Schicksal.
Warum dürfte ich nicht hoffen? Ich hoffe mit Zuversicht.
IXFür jetzt aber muss ich gestehn — mag's Schwäche sein —
mit dem Tode unseres kleinen Lehrers, des herrlichen Jungen,
ist mir wohl nichts an Verstand, gewiss auch nichts an Festigkeit
der Ideale, noch an steter Bereitwilligkeit zum Wirken für
die Ideen verloren gegangen; aber von der Freudigkeit des
Daseins, von der Lust an der Betätigung vermisse ich seit
seinem Hinscheiden auf Stunden und wohl auch Tage viel in
mir. Du findest in diesem Buche einiges aus seinem so gar
kurzen Leben verzeichnet, was mir belehrend schien. Wie die
Sage von Moses lautet: „ Er schrieb: „ „ und Moses starb daselbst””
und weinte, schrieb's unter Thränen”: so schrieb ich's
und weinte. O Du mein lichter D.…! Unser D., sollte ich
sagen; denn Du liebtest ihn wie ich.

Nimm also das Buch hin, lieber Lazarus, und so oft Du
etwas darin findest, was Dir gefällt, würde ich wünschen, Du
möchtest an mich denken — wenn ich den schönen Aberglauben
vom Ohren-Klingen noch hätte. Den habe ich nicht mehr, wie
viele andere liebliche Poesien.

Doch gleichviel: komme das Schicksal wie es mag, und
mit Hoffnung oder ohne und gegen Hoffnung; mögen die
Poesien schwinden oder mag Poesie auch dem Abendrot und
der Nacht wie dem anbrechenden Morgen und dem lichten
Tage entsprießen und Wahrheit, wenigstens nicht Irrtum sein
— wie immer es sei, die sittlichen Ideen sind fest! und von
ihnen sollen wir das Gemüt voll haben auch ohne persönliche
Befriedigung; sie in ihrer Reinheit und sie ausschließlich sollen
die treibenden Kräfte unseres geistigen Lebens sein. — Und
Trauert nicht und freut euch! Denn dieser Tag ist
heilig
”: diese Aufforderung gilt an jeglichem Tage — heilig:
dem Höchsten!X