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Sievers, Eduard. Grundzüge der Phonetik – T02

Vorwort.

Früher als ich erwarten durfte, hat, Dank dem regen
Interesse das sich jetzt den phonetischen Studien zuwendet,
sich mir die erwünschte Gelegenheit geboten, meinen ersten
Versuch auf phonetischem Felde in erneuter, und wie ich hoffe
auch verbesserter, Gestalt dem Publicum vorzulegen. Es ist
bei der Neubearbeitung mein redliches Bestreben gewesen
dem Buche einzuverleiben was ich als gesicherten und für die
Zwecke der Sammlung der dasselbe angehört, verwendbaren
Gewinn der neueren phonetischen Forschung betrachten zu
zu können glaubte, und andererseits Irrthümer der ersten Ausgabe
rückhaltslos auszumerzen und gelegentlich als solche
ausdrücklich zu bezeichnen, wenn ich mich überzeugt hatte
dass meine früheren Angaben unhaltbar seien. Wenig positiven
Gewinn verdanke ich im ganzen den deutschen Recensenten
der ersten Ausgabe, die entweder zu rücksichtsvoll auch
die schwächeren Partien desselben anerkannten, oder als Vertreter
eigener, abweichender Systeme bei der Beurtheilung
Forderungen an das Werkchen stellten, deren Erfüllung dasselbe
von vorn herein ausdrücklich ablehnte. Um so mehr
verdanke ich dem Studium der Werke, welche aus der englisch-skandinavischen
Schule der Phonetik hervorgegangen
sind. Ich bekenne offen, dass schon die erste Ausgabe meines
Buches eine wesentlich andere Gestalt gewonnen haben würde,
wenn ich die Grundwerke der neueren Phonetik, Bell's Visible
Speech und Ellis' Early English Pronunciation, damals gekannt
Voder besser verwerthet hätte. Als ich den ersten Entwurf
meines Buches ausarbeitete, liess ich principiell zunächst
alle Literatur über das betreffende Gebiet bei Seite, um nicht
durch den Einfluss fremder Ideen den Zusammenhang der
eigenen Entwickelung kreuzen und stören zu lassen, und erst
nach Vollendung des Grundstockes der Arbeit zog ich die mir
zugängliche Literatur eingehender zu Rathe und nahm zu ihr
Stellung, sei es bestätigend oder verwerfend. Hatte dies Verfahren
auch den Vortheil, dass es mir eine grössere Unabhängigkeit
und wie ich glaube grössere Unbefangenheit gegenüber
bestehenden Doctrinen gab, so war es doch auch daran
Schuld dass ich manchen fruchtbringenden Gedanken übersah
oder unausgeführt liess, der längst vor mir ausgesprochen, aber
in dem Zusammenhang meiner eigenen Erwägungen mir gar
nicht oder nicht seiner Tragweite und Wichtigkeit entsprechend
vor Augen getreten war. Ich erwähne beispielsweise
die wichtige Lehre von den Uebergangslauten oder Glides,
von der sich bei mir nur einige dürftige Ahnungen und Andeutungen
fanden, während das ganze System derselben von
Ellis und Bell seit Jahren klar dargestellt war. So nur ist es
ferner zu verstehen, dass ich mich damals der längst veralteten,
nur durch Winteler etwas modemisirten Darstellung des
Vocalsystems bei den deutschen Phonetikern anschloss, welches
fast ausschliesslich auf dem Princip der Klangverwandtschaft
aufgebaut den wichtigeren Gesichtspunkt der Articulationsverwandtschaft
kaum zur Geltung kommen liess. Zur
Entschuldigung möge mir dienen, dass ich damals weder
Beils Visible Speech überhaupt kannte, noch von der Wichtigkeit
von Ellis' Fundamentalwerk eine genügende Vorstellung
hatte, da ich auch dieses Buch in seinen ersten Theilen
früher nur flüchtig zu sehen Gelegenheit gehabt hatte. Das
damals Versäumte habe ich jetzt nach Kräften nachzuholen
gesucht. Freilich ist mir auch jetzt noch manches unzugänglich
VIgeblieben (in der Bibliographie sind diese Arbeiten mit
einem Stern am Schlüsse bezeichnet), vor allem Bell's Visible
Speech, ein Werk das seit der Uebersiedelung des Verfassers
nach Amerika vom europäischen Büchermarkte so gut wie
verschwunden ist. Wenn ich trotzdem seine Hauptresultate
meinem Werkchen jetzt einfügen konnte, so verdanke ich das
den neueren Darstellungen und Erläuterungen seines Systemes
durch Ellis, Sweet und Storm. Sweet's Handbook of Phonetics
(im Folgenden einfach mit ‘Sweet’ citirt) halte ich unbedingt
für die beste compendiöse Darstellung der allgemeinen Phonetik,
die wir besitzen, und auf sie möchte ich namentlich die
Aufmerksamkeit der deutschen Phonetiker hinlenken, die da
meinen mit der Aufstellung eines Lautsystems in der beliebten
schematischen Manier sei die Aufgabe des Phonetikers erfüllt.
Nächst Sweet's Werk ist die auch den Deutschen jetzt leicht
zugängliche Darstellung einzelner Abschnitte der Phonetik
durch Storm (in dessen Englischer Philologie, weiterhin einfach
als ‘Storm’ citirt) dringend zum Studium anzuempfehlen.
Diese und die übrigen hervorragenderen Leistungen der durch
Bell gegründeten neueren Schule der Phonetik habe ich in der
Bibliographie durch einen Stern vor dem Citat kenntlich gemacht.
Aus diesen Werken wird der Phonetiker, dem es Ernst
um die Sache ist, hauptsächlich zu schöpfen haben. Dies ohne
allen Vorbehalt anzuerkennen ist eine Ehrenpflicht auch der
deutschen Phonetik, die, wenn sie auch die Mutter der neueren,
englischen Phonetik ist, doch gar zu lange ihre eigenen
ausgetretenen Pfade weiterwandelnd die Leistungen ignorirt
hat, welche die weniger hochtheoretische, aber darum um so
lebenskräftigere Tochter aufzuweisen hat. Der einzige Punkt
von bedeutenderer Tragweite, in dem ich von dieser neueren
Richtung, wie übrigens auch von der älteren deutschen Schule
abweiche, ist die negative Stellung die ich gegenüber den Bestrebungen
nach Aufstellung eines allgemeinen phonetischen
VIISystemes einnehme. Es ist eines der grössten Verdienste
Winteler's um die Phonetik, dass er gezeigt hat, dass man
zwar die allgemeinen Bedingungen der Sprachbildung allgemein
erforschen, im Uebrigen aber den Schwerpunkt bei der
Gruppirung der phonetischen Erscheinungen in die Charakterisirung
der Einzelsysteme der Sprachen und Mundarten
legen müsse. Soll ich sonst von den Verdiensten der Deutschen
um die Phonetik reden, so kann ich nicht umhin, hier wieder
Ludwig Merkels zu gedenken, dessen vielgeschmähte Werke
für den verständigen Leser eine Fülle von anregenden Gesichtspunkten
darbieten: freilich gerade auf Gebieten bis zu
denen die Brückesche Phonetik überhaupt noch nicht fortgeschritten
ist, die sich bescheiden mit der Aufstellung eines
schematischen Laut- oder vielmehr Stellungssystems begnügt,
ohne den höheren Fragen der Phonetik Beachtung zu schenken.
Techmer's gross angelegte und durch einsichtige und gerechte
Abwägung der Leistungen seiner Vorgänger insbesondere verdienstliche
Arbeit ist mir zu spät zugekommen als dass ich sie
noch hätte völlig ausnützen können. Zudem bewegt sich
Techmer grossentheils auf Gebieten die von dem Plane meines
Werkchens — und auch wohl der eigentlichen Phonetik überhaupt
— zu weit abliegen.

Dieser Plan meines Buches ist trotz der mannigfachen
Aenderungen im Einzelnen im Wesentlichen derselbe geblieben
wie in der ersten Auflage; d. h. dasselbe erhebt auch in seiner
gegenwärtigen Gestalt nicht den Anspruch, eine vollständige
Einführung in das Studium der allgemeinen Phonetik zu gegeben.
Dazu reichen auch jetzt meine Kenntnisse und Erfahrungen
nicht aus, obschon ich nach Kräften nachgesammelt
und beobachtet habe. Zwar habe ich im Laufe der Jahre Gelegenheit
gehabt, manches zu hören und nachbilden zu lernen,
aber meistens standen mir doch nur einzelne Individuen und
diese nur auf kurze Zeit zur Verfügung. So konnte ich wol
VIIIhie und da interessante Einzelheiten bei ihnen beobachten,
aber doch nicht vollständige Charakteristiken ihrer sprachlichen
Eigenthümlichkeiten aufnehmen. Schon aus diesem
Grunde musste ich auch jetzt wieder — für so nützlich ich an
sich zusammenfassende phonetische Einzeldarstellungen halte
wie sie insbesondere neuerdings Sweet und Noreen gegeben
haben — darauf verzichten solche Muster aufzustellen, weil
eben mein Material nach allen Seiten hin viel zu lückenhaft
ist als dass ich etwas Erspriessliches in dieser Richtung hätte
leisten können.

Ueberdiess würde ein Buch wie das gegenwärtige durch
solche Zusätze nur aus dem Rahmen der Sammlung herausgefallen
sein in der es erscheint. Wie der Prospect dieser
Sammlung ausdrücklich hervorhob, ward es derselben einverleibt
zum Behufe »der Orientirung über die zum Verständniss
der Lautlehre der indogermanischen Sprachen nothwendigen
allgemeineren lautlichen Fragen«. Zu diesem Zwecke genügte
es, die in Betracht kommenden Erscheinungen an einer Sprache
zu exemplificiren, ohne dieselben zugleich statistisch durch
ein engeres oder weiteres Gebiet hin zu verfolgen. Dass ich
dabei soweit es irgend anging bei Beispielen aus der deutschen
Sprache und ihren Mundarten stehen blieb, war nur natürlich,
da das Buch doch zunächst für deutsche Leser geschrieben
wurde, von denen die meisten doch kaum in der Lage gewesen
sein würden, ausserdeutsches Material einer genügenden Controle
zu unterziehen: wie ich denn überhaupt der Überzeugung
bin, dass man (abgesehen von den wenigen Lesern
welche die Phonetik streng fachwissenschaftlich betreiben oder
über ein grosses empirisches Sprachmaterial verschiedenster
Herkunft verfügen) nur für Angehörige der eigenen Sprachgenossenschaft
phonetische Dinge verständlich erläutern könne.
Wenn ich in der neuen Ausgabe von diesem Gesichtspunkte
durch Einflechtung etwas zahlreicherer Belege aus fremden
IXSprachen abgewichen bin (das machte sich namentlich bei der
Besprechung des Bell'schen Vocalsystemes nothwendig), so
ist dies hauptsächlich auf den Rath von Storm hin geschehen,
welcher glaubte dass das Buch dadurch den specielleren Interessen
der Phonetiker von Fach nützlicher gemacht werden
würde. Dass ich übrigens von dem gewiss als sicher zu betrachtenden
Materiale, welches in den neueren Publicationen
der englisch-skandinavischen Phonetiker niedergelegt ist, nur
einen geringen Bruchtheil aufgenommen habe, hat darin seinen
Grund dass ich auch jetzt noch an dem Grundsätze strenge
festhalten zu müssen glaubte, nur Selbstgehörtes zu beschreiben.
Die im Ganzen nicht zahlreichen Abweichungen von
diesem Grundsatz sind stets im Context ausdrücklich angegeben.

Es war ursprünglich meine Absicht gewesen, der neuen
Ausgabe eine mehr historische Gestalt zu geben, d. h. durchgehends
die Stellen in der Literatur zu verzeichnen, an denen
zuerst eine phonetische Erscheinung richtig beurtheilt worden
ist. Indessen habe ich diesen Plan wieder fallen lassen, um
das Buch nicht noch mehr anzuschwellen und ihm seinen
Charakter als den eines zur ersten Einführung bestimmten
Grundrisses nicht zu rauben. Denn ich halte es im Interesse
eines sachlichen Fortschritts durchaus nicht für wünschenswerth,
dass der Anfänger im phonetischen Studium viel Zeit
und Mühe auf die älteren Autoren verwende, bei denen Wahres
und Falsches noch zu stark gemischt erscheint. Ueber Bell
braucht heutzutage niemand mehr zurückzugreifen. Von dem
Princip, Literaturnachweise im Einzelnen zu geben, bin ich
deshalb im Ganzen auch nur zu Gunsten der neueren Schule
abgewichen, welche allein eine autoritative Stellung beanspruchen
kann und trotzdem in Deutschland so gut wie unbekannt
geblieben ist. Auch die Bibliographie ist im Princip
unverändert geblieben; sie will nicht vollständig sein, sondern
Xnur ein Verzeichniss von Schriften geben, aus denen man noch
jetzt sich mit Vortheil über manche Dinge unterrichten kann
oder die ihrer Zeit durch besondere Originalität hervorragten.
Wer sich über die Geschichte der einzelnen phonetischen
Fragen unterrichten will, findet reichhaltige Sammlungen bei
Techmer.

Was die innere Gestaltung des Buches anlangt so bitte ich
bei der Beurtheilung im Auge behalten zu wollen, dass dasselbe
u. A. mit »zur Feststellung einer einheitlichen Terminologie«
für die Bibliothek indogermanischer Grammatiken geschrieben
wurde; d. h. dass es mir mehr auf eine Definition
dessen ankommen musste, was unter den zur Zeit in der
Sprachwissenschaft üblichen Namen zu verstehen sei, als auf
eine radicale Umwälzung der gesammten Nomenclatur auf
streng phonetischer Grundlage: eine Umwälzung die kein
anderes Resultat gehabt haben würde als das Buch für alle
sprachwissenschaftlichen Leser, also gerade für die Kreise unbrauchbar
zu machen für welche dasselbe bestimmt war. Ich
bin auch jetzt nicht überzeugt dass dieser Gesichtspunkt ein
unzweckmässiger gewesen sei, habe also auch nach dieser
Richtung hin keine principiellen Aenderungen vorgenommen.

Ich erlaube mir endlich noch, hier einige Andeutungen
über den Charakter und die Benutzung des Werkchens aus
dem Vorwort zur ersten Auflagen zu wiederholen. Vor allen
Dingen wünschte ich es nicht als eine Art Nachschlagebuch
betrachtet zu sehen, aus dem man hie und da eine Einzelheit
zu beliebigem Gebrauch herausgreifen kann. Ein jedes vereinzelte
phonetische Factum bleibt, aus seinem Zusammenhange
herausgerissen, todt und unfruchtbar, und bringt am
verkehrten Orte angebracht die unlösbarsten Verwirrungen
hervor. Nur systematische Arbeit auf Grund der Selbstbeobachtung
kann hier fruchten, und zu dieser Selbstbeobachtung
eine Anleitung zu geben ist die Hauptaufgabe dieses Büchleins.XI

Wer aus dem darin niedergelegten Materiale ernstlichen
Nutzen ziehen will, dem ist daher vor Allem zu rathen, dass
er bei der Durcharbeitung von Anfang an jedes gegebene Beispiel
sich so lange vorspreche oder vorsprechen lasse, bis er
sich ein eigenes Urtheil über die Richtigkeit der betreffenden
Angaben erworben hat. Dabei aber sei er sich stets bewusst,
dass er das fremdsprachliche Material zunächst nicht um
dessen selbst willen sich aneignet, sondern um daran ein
erstes Hülfsmittel zum Studium der eigenen Sprache zu haben.
Erst wer auf diesem Boden sicher steht, versuche sich an
weiteren, aber stets zusammenhängenden, Beobachtungen.
Praxis und Theorie müssen in der Phonetik stets Hand in
Hand gehen. Weder das rein empirische Sammeln von Material,
noch das reine Theoretisiren (wie es insbesondere in
Deutschland lange üblich gewesen ist und auch jetzt noch
stark in Blüthe steht) kann auf die Dauer einer gesunden
Fortentwicklung der phonetischen Wissenschaft den Boden
schaffen.

Dass ich den unbequemen Namen ‘Lautphysiologie’ mit
dem bequemeren und sachgemässeren ‘Phonetik’ vertauscht
habe, wird hoffentlich keinen Tadel finden.

Jena, 2. Februar 1881.

E. Sievers.XII